Magris | Verfahren eingestellt | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 400 Seiten

Magris Verfahren eingestellt

Roman
1. Auflage 2017
ISBN: 978-3-446-25604-0
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 400 Seiten

ISBN: 978-3-446-25604-0
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Für sein 'Kriegsmuseum zum Zwecke des Friedens' sammelt ein Mann in Triest Kriegsgeräte aller Art. Sie erzählen die Geschichten derer, die damit getötet haben oder getötet wurden. Als Jahre später das Museum bei einem Brand zerstört wird, versucht Luisa, Tochter einer Jüdin und eines afroamerikanischen Leutnants, es zu rekonstruieren. Dabei wird nicht nur die Geschichte ihrer Vorfahren zwischen Diaspora und Sklaverei wieder lebendig, sondern auch die von San Sabba, dem einzigen Konzentrationslager Italiens. Doch die Kraft des Vergessens erscheint ungeheuer: die Verbrechen wurden vertuscht, die Verfahren eingestellt. Gestützt auf eine wahre Geschichte hat Claudio Magris ein gewaltiges Epos geschrieben.

Claudio Magris, 1939 in Triest geboren, studierte Germanistik in Turin und Freiburg. Bis 2006 war er Professor für Deutsche Sprache und Literatur in Triest. Bei Hanser erschienen zuletzt »Verfahren eingestellt« (Roman, 2017), »Schnappschüsse« (2019) und »Gekrümmte Zeit in Krems« (Erzählungen, 2022). Magris erhielt zahlreiche wichtige Literaturpreise, u.a. 1999 den Premio Strega für »Die Welt en gros und en détail«, 2001 den Leipziger Buchpreis für Europäische Verständigung und 2006 den Prinz-von-Asturien-Preis. 2009 erhielt er den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels und den Essaypreis Charles Veillon. 2012 wurde ihm das Große Verdienstkreuz des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland verliehen.
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1.

»Gebrauchte Unterseeboote – An- und Verkauf«. Diese Anzeige im Piccolo banditore stammte vom 26. Oktober 1963. Offensichtlich hatte er – total überschuldet, an der Nase herumgeführt durch millionenschwere Versprechungen seitens verschiedener Behörden und sogar Ministerien, im Würgegriff von Wucherern und verfolgt von den Eigentümern der Grundstücke und der Hangars, wo er seine Flugzeuge und seine bombardierten Militärbrücken untergebracht hatte – sich gezwungen gesehen, irgendein besonders tonnenschweres Erinnerungsstück zum Kauf anzubieten; doch im selben Moment, in dem er sich anschickte, etwas zu verkaufen, wurde er sofort wieder von seinen Furien ergriffen und versuchte auch zu kaufen – man weiß zwar nicht, von welchem Geld, aber jedenfalls zu kaufen: Unterseeboote, Panzer oder Maschinen zur Minenräumung.

Das könnte der Anfang sein; der Vorraum des Museums, sobald man hereinkommt. An der Wand gegenüber dem Eingang ein großer schwarzer Bildschirm, gekräuselt durch ein unbestimmtes Flimmern, Wasserplätschern im Hintergrund; sein Gesicht erscheint in diesem Dunkel, eine Fotografie von Anfang der siebziger Jahre. Ein Kopf, der aus dem dunklen Wasser auftaucht, fiebrige, listige Augen; rinnender Schweiß, Wassertropfen entlang der pannonischen Backenknochen. In der Mitte des Saals das Unterseeboot, ein U-Boot der kaiserlich-königlichen Marine aus dem Ersten Weltkrieg, wer weiß, wie er sich das verschafft hat. Gebrauchte Unterseeboote – An- und Verkauf. Eine pompöse, eindringliche Stimme; rekonstruiert durch eine geschickte elektronische Bearbeitung verschiedener Rundfunkaufzeichnungen von Radio Triest. Eine harmlose Kleinanzeige, die dank der Stimme – künstlich zusammengesetzt oder aber ursprünglich, unverfälscht, nicht diese zufällige und wandelbare des Moments, in dem man spricht –, zu einer Verführung wird, zum Angebot eines Kupplers im Dunkeln: einzutreten in das Museum, wie man in einen Nachtklub eintritt, Versprechungen im Neonlicht; das könnte eine gute Idee sein, dachte Luisa. Auch wenn der Clou fehlte, die Hauptattraktion, über die man am meisten redete: die berühmten Notizbücher. Ein Initiationsgeheimnis, bei dem zum Schluss die Krönung fehlt: die Kornähre, die den Adepten weiht.

Was die Familie betrifft, so hatte die sich in einem an den Direktor des Corriere Adriatico gesandten und dort an prominenter Stelle veröffentlichten Brief deutlich ausgedrückt: »… Gestatten Sie uns, als seinen Erben, unserer Verwunderung und unserem Unmut Ausdruck zu verleihen über die am 12. März dieses Jahres in Ihrer Zeitung veröffentlichte Notiz. Es ist uns unbegreiflich, mit welchem Recht und mit welcher Befugnis man ankündigen kann, dass auch seine Tagebücher – Tausende von Blättern, unterteilt in nummerierte Hefte mit diversen Verweisen und Ergänzungen – zusammen mit dem gesamten riesigen Kriegsmaterial in diesem Museum untergebracht werden sollen, das der Dokumentation des Krieges gewidmet ist, um den Frieden zu preisen, ein Museum, das er mit einem seiner phantasievollen, aber immer schlüssigen Bildern ›Ares für Irene‹ nennen wollte: Der Gott des Krieges, der sich zum Apostel des Friedens macht. Wir sind die Ersten, die sich darüber freuen, dass die von der Provinz und der Kommune gegründete Stiftung beschlossen hat, das Museum einzurichten, den Traum zu verwirklichen, dem er sein Leben geweiht hat, und die Gebäude, die Pferdeställe, die Autogaragen wieder instand zu setzen, ja selbst den Rasenplatz – umgeben von der Rennbahn und entsprechend überdeckt – des ehemaligen Hippodroms wieder herzurichten. Man kann nur hoffen, dass das Projekt dieses Mal endlich zustande kommt. Es ist unerträglich, dass ständig Programme und Versprechungen gemacht werden, aber nichts geschieht, ein endloses Lied der guten Vorsätze. Was jedoch diese Tagebücher betrifft, so sind und bleiben sie ausschließlich unser Eigentum, da wir die Erben sind, auch wenn haarspalterische und uns unverständliche bürokratisch-juristische Gründe uns de facto momentan einen Teil unseres Besitzes entzogen haben, so gilt das nicht für unser Recht, darüber so zu verfügen, wie wir es für richtig halten, wohlgemerkt nicht nur in unserem Interesse, sondern auch in dem unserer Mitbürger, der Allgemeinheit, der Menschheit, wobei wir seinem Beispiel folgen, dem Beispiel eines Mannes, der seiner Mission, seinem Ideal, seinem großartigen Plan alles geopfert hat: Karriere, Vermögen, Gesundheit, das Wohl seiner Familie und schließlich auch das eigene Leben.

Wie schon gesagt, sind wir bereit, alles herzugeben, abzutreten – denn das moralische Erbe des Museums ist Allgemeingut. Wir sind bereit, all die Kanonen, U-Boote, Panzer und jede Art von Waffen der Allgemeinheit zur Verfügung zu stellen, alles, was er in Jahrzehnten gesammelt hat, um die Schrecken des Krieges und die Notwendigkeit des Friedens zu dokumentieren. Es ist ein Skandal, dass sich jahrelang keine öffentliche Institution darum gekümmert hat, einen geeigneten Ort für die Errichtung dieses Museums zu finden. Doch was die Tagebücher betrifft, insbesondere die, welche auf seltsame Weise verschwunden sind und die so viel wertvolles, wenngleich auch heikles Material enthalten, wie es im Übrigen gerade im Corriere Adriatico mehrmals erwähnt wurde, so sind wir, sehr geehrter Herr Direktor, überzeugt, dass sich Ihre Zeitung, eingedenk der Bedeutung und der erforderlichen Diskretion dieser Frage, nicht …«

Anstatt in der Rubrik »Leserbriefe« hatte die Zeitung diesen Brief auf die dritte Seite, im Feuilleton, gesetzt und ihn in einen ins Auge springenden Artikel, versehen mit einem Titel und Untertiteln, verwandelt. Es war nicht verwunderlich, dass man den Fall noch einmal ein wenig hochspielen wollte. Diese Geschichte stieß immer auf Interesse, vor allem nach dem Prozess, nach dem, wie es häufig bei Prozessen der Fall ist, die Dinge unklarer waren als zuvor. Luisa schob die Zeitung beiseite, die sie auf einem Stoß von Heften, Notizbüchern, Blättern, Karteikarten, CDs, DVDs abgelegt hatte, mit denen sie arbeitete, um die von ihm noch selbst geschriebenen Notizen zu ordnen und, wenn nötig, zu vervollständigen, die jedes Exponat des Museums beschreiben sollten: seine Funktionen, seine Geschichte, die seines Erfinders, der Fabrik, die es hergestellt hatte, der Ingenieure und Werkleute, die daran gearbeitet hatten, der Militäreinheit, der es zugeteilt worden war, der Schlacht, in der es zerstört wurde, dessen, der es bedient oder angelegt oder geladen hatte oder der in seinen Trümmern zu Tode gekommen ist. Die Maschine für die Seeminenräumung wollte sie zum Beispiel neben den Quecksilberdampfgleichrichter stellen. Sie fand, dass die beiden gut zusammenpassten: Tod unter Wasser und Tod durch Ausströmung von Dampf, Tod verursacht, vermieden oder verzögert, je nachdem, aber immer Tod. Der Tod passt zu Museen. Zu allen, nicht nur zu einem Kriegsmuseum. Jede Ausstellung – Bilder, Skulpturen, Objekte, Maschinen – ist tote Natur; und die Menschen, die sich in den Sälen drängen, sie wie Schatten füllen und leeren, üben sich ein für ihren zukünftigen und endgültigen Aufenthalt im großen Museum der Menschheit, der Welt, in der jeder ein Stillleben ist, also tote Natur. Gesichter wie vom Baum gepflückte und nebeneinander auf einen Teller gelegte Früchte. Auch wenn er, genau in diesem Punkt …

Luisa setzte sich wieder an den Computer, in dem Büro, das man ihr zugewiesen hatte, als die Stiftung sie damit beauftragt hatte, das Museumsprojekt auszuarbeiten. Nicht mehr als ein Zimmer, wenn auch ein geräumiges, das aus einem der Stallungen gewonnen worden war. Ihr gefiel dieses Zimmer inmitten von so viel leerem Raum. Durch eines der Fenster sah sie einige Objekte, die bereits provisorisch in dem anstoßenden Saal aufgestellt waren. Länglich, leicht zylindrisch und grünlich, glich der Apparat für die Minenräumung einem Lamantin, irgendeinem Meeresgeschöpf, das sich unbeholfen, aber geräuschlos bewegt, um seine Beute zu schnappen. Draußen, in der Abendluft, griffen die Zweige einer vom Wind bewegten Eiche nach ihrem Fenster wie Klauen, hakenförmig gekrümmte Tentakel schnellten vom Dunkeln ins Licht der Lampe und kehrten schwankend ins Dunkel zurück, die Beute verfehlt, wer weiß, für wie lange noch. Luisa erschauerte, für einen Augenblick kam es ihr vor, als spüre sie die Jahre wie eine dunkle Wassersäule, die gegen ihre Schläfen hämmerte, eine Migräne, die sie absurderweise an die Liebe denken ließ – oder vielleicht auch an ihr Ende, was für sie sowieso fast immer dasselbe war.

Diese Falte am Mund, die gemeinhin als hübsch empfunden wurde, war nicht eigentlich eine Runzel, aber Luisa empfand sie hin und wieder als eine Narbe. Ein Kuss, ein Biss – allmählich werde auch ich so wie er; dadurch, dass ich seine Aufzeichnungen lese, bis ich ganz verwirrt werde, und mich mit seinen Maschinengewehren und seinen Schwertern beschäftige, jetzt, wo ich es mir angewöhnt habe, mir einiges von diesen Papieren und Fotografien mit nach Hause zu nehmen, um mir zu überlegen, wie man sie einordnen kann, bis mir die Augen zufallen, zum Schluss komme auch ich noch so weit zu glauben, dass alles nur noch Krieg ist und jedes Emblem eine Narbe. Mit einem Finger fuhr sie leicht über die Scheide eine Schwerts, das provisorisch an der Wand lehnte; der Strich, der davon auf der Haut zurückblieb, war deutlich sichtbar, verschwand aber gleich wieder.

Er wusste, trotz seines schrecklichen Endes, wahrscheinlich nichts von den Narben, die alles und jedes im Herzen zurücklässt; vielleicht hörte er auch nicht dieses Knurren des Lebens im Dunkeln und sah dieses Dunkel überhaupt nicht, ganz darauf konzentriert,...


Magris, Claudio
Claudio Magris, 1939 in Triest geboren, studierte Germanistik in Turin und Freiburg. Bis 2006 war er Professor für Deutsche Sprache und Literatur in Triest. Bei Hanser erschienen zuletzt »Verfahren eingestellt« (Roman, 2017), »Schnappschüsse« (2019) und »Gekrümmte Zeit in Krems« (Erzählungen, 2022). Magris erhielt zahlreiche wichtige Literaturpreise, u.a. 1999 den Premio Strega für »Die Welt en gros und en détail«, 2001 den Leipziger Buchpreis für Europäische Verständigung und 2006 den Prinz-von-Asturien-Preis. 2009 erhielt er den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels und den Essaypreis Charles Veillon. 2012 wurde ihm das Große Verdienstkreuz des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland verliehen.



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