Magnan | Das Zimmer hinter dem Spiegel | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, Band 5, 256 Seiten

Reihe: Laviolette ermittelt in der Provence

Magnan Das Zimmer hinter dem Spiegel

Roman
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-10-560177-8
Verlag: S.Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, Band 5, 256 Seiten

Reihe: Laviolette ermittelt in der Provence

ISBN: 978-3-10-560177-8
Verlag: S.Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Große Kriminalliteratur aus der Provence von Pierre Magnan Drei Morde scheuchen das schläfrige Provencestädtchen Digne auf. Alles deutet darauf hin, dass die Opfer mit einer Steinschleuder getötet wurden. Man hat eine merkwürdig kleine Gestalt beim Steinesuchen an der Bléone gesehen. Kommissar Laviolette, dessen Phantasie vor nichts zurückschreckt, hat einen ungeheuerlichen Verdacht ... (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

Pierre Magnan (1922-2012) war ein französischer Schriftsteller, der vor allem durch die Figur des Commissaire Laviolette bekannt wurde. Er hat zahlreiche Romane veröffentlicht, von denen mehrere in Frankreich und anderen Ländern preisgekrönt sind, in zahlreiche Sprachen übersetzt und verfilmt wurden.
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~ ~


ES war in einer Nacht von Sonntag auf Montag. Zwischen der Bléone, die über ihre Kiesel dahinrauschte, und dem Bergbach Eaux-Chaudes, der über goldgelben Glimmer zu Tal schäumte, lag Digne in friedlichem Schlaf.

Die Ampeln blinkten völlig vergeblich. Verkehr in Richtung Barrême, Malijai oder Barcelonnette gab es keinen. Nicht einmal ein Hund bellte. Auch die bunten Triebwagen der standen still im menschenleeren Bahnhof.

Jenseits der beleuchteten Boulevards im bürgerlichen Wohnviertel der Seminare und vor dem Hintergrund der dunklen Hügel wies ein unauffällig blinzelndes Licht jemandem den Weg nach Hause. Aber zwischen diesem Jemand und den beiden rauschenden Wasserläufen, die ihr Bett glatt hobelten und die Stille verstärkten, war keine Menschenseele – da war höchstens eine Totenseele.

Um vier Uhr verließ der städtische Müllwagen seinen eingezäunten Standplatz. Die Müllmänner brauchten eine Stunde, in der schrille Pfiffe, das Rumpeln der Mülltonnen, das Rattern der Zerkleinerungstrommeln, die Geräusche des immer wieder anfahrenden und anhaltenden Müllautos, muntere Rufe von einer Straßenseite zur anderen die Nachtruhe unterbrachen, bis sie endlich die Rue Prête-à-Partir erreichten.

Und da wartete er auf sie. Sehr geduldig, ja doch. Er versperrte ihnen den Weg. Es war ein groß gewachsener Toter, er lag am Boden mit dem Gesicht zur Seite und trug einen hellblauen Jogginganzug mit dem großen gelben Schriftzug .

Der Fahrer entdeckte ihn als Erster, er hielt an, stieg aus. Es war ein langer, hagerer Kerl, das linke Auge hielt er geschlossen, und ein Zigarettenstummel hing ihm im Mundwinkel. Die zwei Araber hinten pfiffen vergeblich, um ihm zu bedeuten, dass er weiterfahren könne. Als sich nichts tat, kamen sie nachsehen, was los war. Ein verlegenes Lächeln trat auf ihre wulstigen Lippen. Sie glaubten, es handle sich um einen Betrunkenen. Sie machten Anstalten, ihm auf die Beine zu helfen. Der Lange breitete die Arme aus und stellte seine riesigen Espadrilles quer, direkt vor ihre Füße. Er hielt nach wie vor nur das rechte Auge offen, so sehr störte ihn der Rauch seines Zigarettenstummels.

«Rührt ihn nicht an.»

«Dem ist schlecht.»

«Dem ist nicht schlecht. Der ist tot.»

«Woher willst du das wissen?»

Der spanische Müllfahrer blickte zum Himmel: Woher er das wusste?! In der jugendlichen Frische seiner siebzehn Jahre: Santander, Teruel, Irún, die Belagerung von Barcelona … Und wie genau er das wusste! Wirklich eine dumme Frage. Er sagte sehr bestimmt:

«Kümmert euch nicht. Ich weiß es!»

Die Araber nickten voller Hochachtung angesichts des wissenden Kollegen.

«Los, geht zur Polizei, ihr beiden. Ich warte.»

«Bis wir ihnen erklärt haben, was los ist, glauben die doch, wir sind besoffen, und besoffene Araber …, ab in den Knast!»

Sie hatten den Scharfsinn derer, die an so manches gewöhnt sind.

«Quatsch! Wo glaubt ihr denn, wo ihr seid? Wir sind in Frankreich hier!»

Sie nickten wieder und gingen zögerlich, ohne besondere Eile, und erörterten dabei in ihrer Sprache die guten Gründe, die sie veranlassten zu zweifeln.

Der Lange, der allein zurückgeblieben war, zündete sich den Stummel wieder an, von dem nur noch ein bisschen Papier übrig war, und verbrannte sich die Lippe. Den jungen und schönen Toten, der da sauber, fast werbeträchtig adrett mit seinem großen auf dem Sweatshirt auf der Straße lag, betrachtete er brüderlich. Mit seinem lockigen Bart, den langen Haaren und den weit aufgerissenen Augen erinnerte er den Katalanen an einen griechischen Kameraden bei den Internationalen Brigaden, der an seiner Seite in der Sierra Madre gefallen war. Das Warnlicht des Müllwagens warf mit seinem rhythmischen Flackerschein einen Hauch von Leben auf das Gesicht. Der Lange rührte sich nicht vom Fleck; schweigend beobachtete er den Toten, mit dem nüchternen Ernst desjenigen, der erkennt, dass sich am Horizont eine Menge Scherereien abzeichnen.

Es dauerte eine Viertelstunde, bis er den hastigen Schritt der beiden Araber vernahm. Zwei Polizisten in Uniform schoben sie eher vor sich her, als dass sie ihnen folgten. Es war den beiden anzusehen, dass sie vor weniger als zehn Minuten noch beim gemütlichen Kartenspiel am Ölofen gesessen hatten. Sie kamen zu Fuß, da der Dienstwagen sich geweigert hatte anzuspringen.

Ihr Blick erfasste gleichzeitig die Leiche am Boden, den langen Fahrer, der daneben stand, und den Müllwagen mit seiner blinkenden Warnanlage.

«Hast du ihn umgefahren?»

«Nein. Er war schon tot.»

«Wieso tot? Ist er überhaupt tot?»

Schon machten sie Anstalten, die Leiche umzudrehen, sie auf den Gehsteig zu tragen und ausgiebig auf allen Spuren herumzutrampeln.

«An eurer Stelle würde ich ihn nicht anrühren!»

Betroffen richteten sie sich auf.

«Hör mal, bist du der Bulle oder sind wir es?»

«Ihr natürlich. Aber ihr habt noch welche über euch. Und möglicherweise kriegt ihr ganz schön eins auf die Mütze.»

Sie überlegten zuerst, ob sie ihn zurechtweisen sollten. Dann würde der Kerl schon sehen, was er von seiner Rechthaberei hatte. Aber schließlich drehten sie ihm lieber den Rücken zu, um sich abzusprechen.

«Geh, Montagnié, ruf den Kommissar Laviolette an! Ich halte die Stellung.»

«Ich geh schon.»

Der zurückgebliebene Kollege wandte sich dem Langen zu, der zwischen den beiden Arabern mit den orangefarbenen Schutzumhängen stand. Die drei bildeten eine geschlossene Front.

«Papiere!»

«Du siehst uns doch jeden Tag!»

«Papiere! Heute ist nicht ein Tag wie jeder andere! Ein Toter auf offener Straße um …» – er schaute auf die Uhr – «um halb sechs in der Früh, da ist der Ausweis fällig, meint ihr nicht?»

«Wir sind städtische Angestellte!»

«Fest angestellt!», betonten die Araber – sie waren es seit drei Monaten.

«Angestellte hin oder her …»

«Jouve!»

Es war Montagnié, der zurückkam, allein und außer Atem.

«Hast du den Kommissar angerufen?»

«Ja.»

«Und was hat er gesagt?»

«‹Rufen Sie die Polizei›, hat er gesagt.»

«Was?»

«Ja. Als ich ihm gesagt habe, dass in der Rue Prête-à-Partir eine Leiche liegt, hat er wortwörtlich geantwortet: ‹Rufen Sie die Polizei!› Und hat eingehängt.»

Ein peinliches Schweigen setzte ein, dann sagte Jouve, der in seiner Eigenschaft als Brigadier etwas schneller dachte:

«Gestern Abend hat bei Mistre ein Bankett der ehemaligen Résistance-Mitglieder stattgefunden … Kommissar Laviolette, der der Pflicht halber dabei sein musste, ist vermutlich etwas müde … Warte hier, ich geh hin und hol ihn ab. Und vor allem, lass sie nicht aus den Augen. Sie dürfen sich nicht vom Fleck rühren!»

Die Gefahr bestand nicht. Der Anblick faszinierte sie. Der einfache Polizist Montagnié belauerte sie von der Seite, als ob ihre Schuld schon bewiesen wäre.

Zu dieser frühen Stunde ging noch niemand durch die Rue Prête-à-Partir. Aber am Eckfenster im dritten Stock quietschte ein Fenstergriff, dem man gewünscht hätte, er wäre besser geölt; eine flinke Hand öffnete den Laden einen Spaltbreit. Da oben stand jemand, der es nicht wagte, hinunterzukommen auf die Straße, aus Angst, unpassenderweise auf sich aufmerksam zu machen, jemand, der aber gern gewusst hätte, was da unten los war. Danach rührte sich nichts mehr. Der Lange hatte den Motor und das Blinklicht abgestellt.

Zehn Minuten später war Kommissar Laviolette zur Stelle. Er trug einen Schal, hatte den Hut tief in die Stirn gedrückt, und seine großen, hervortretenden Augen waren rot und verrieten den Mangel an Schlaf. Er war völlig verblüfft, an einem Montag Morgen, unmittelbar nach einem Festessen, ein Verbrechen am Hals zu haben. Und zu allem Unheil war auch noch sein einziger Mitarbeiter, Inspektor Courtois, im Frühjahrsurlaub.

Denn es war ein Verbrechen. Da, wo der Kopf den Boden berührte, wies die Leiche in der Stirngegend eine riesige schwarze Prellung auf, auf der sich ein großflächiges, noch glibberiges Blutgerinnsel breit machte. Das Scheitelbein war vollständig eingedrückt.

«Und natürlich haben Sie die Mordwaffe gefunden?», fragte Laviolette.

«Die werden wir bald haben. Aber wir wollten nichts anfassen, bevor Sie kommen.»

«War auch richtig so!», brummelte Laviolette

Er dachte genau das Gegenteil. Viel lieber wäre ihm gewesen, die Tatbestandsaufnahme wäre schon abgeschlossen, die Leiche abtransportiert und auch der Täter, während er hinter einem Baum stand und die Polizei bei ihren Nachforschungen beobachtete, überraschend festgenommen worden. Aber das war nur ein Traum! Dann also los an die Arbeit.

«Ich habe mit dem Staatsanwalt telefoniert», verkündete Laviolette. «Ja, doch», sagte er zu Montagnié gewandt, «nach Ihrem Anruf habe ich mich daran erinnert, dass die Polizei bin.»

Er drehte sich zu Jouve.

«Und natürlich haben Sie den Toten erkannt?»

«Ich fürchte, ja. Der junge Vial?»

«Genau. Jeannot Vial. Das müssen wir erst mal der Mutter beibringen. Die Arme, sie ist schon von ihrem Mann verlassen worden, vor zehn Jahren! Nun ja! Gleich ist die Staatsanwaltschaft da. Mit dem Gerichtsarzt. Und dem Fotografen. Den habe ich dienstlich herbefohlen. Er wollte nicht aufstehen. Aber ich habe ihm den entsprechenden Paragraphen aus dem Gesetzbuch vorgelesen. Also. Was ist nun mit der Tatwaffe? Wie wär’s, wenn wir ein bisschen danach suchten?»

«Können wir ja tun», antwortete Jouve, «aber...


Magnan, Pierre
Pierre Magnan (1922–2012) war ein französischer Schriftsteller, der vor allem durch die Figur des Commissaire Laviolette bekannt wurde. Er hat zahlreiche Romane veröffentlicht, von denen mehrere in Frankreich und anderen Ländern preisgekrönt sind, in zahlreiche Sprachen übersetzt und verfilmt wurden.

Kuhn, Irène
Irène Kuhn ist eine französische Germanistin, Dozentin, Übersetzerin und Schriftstellerin. Sie wohnt abwechselnd in der Provence und in München.

Pierre MagnanPierre Magnan (1922–2012) war ein französischer Schriftsteller, der vor allem durch die Figur des Commissaire Laviolette bekannt wurde. Er hat zahlreiche Romane veröffentlicht, von denen mehrere in Frankreich und anderen Ländern preisgekrönt sind, in zahlreiche Sprachen übersetzt und verfilmt wurden.
Irène KuhnIrène Kuhn ist eine französische Germanistin, Dozentin, Übersetzerin und Schriftstellerin. Sie wohnt abwechselnd in der Provence und in München.



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