März | Für eine Nacht oder fürs ganze Leben | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 240 Seiten

März Für eine Nacht oder fürs ganze Leben

E-Book, Deutsch, 240 Seiten

ISBN: 978-3-446-25005-5
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Heutzutage erscheint Dating so einfach wie Carsharing, ein paar Klicks, ein paar Algorithmen, gesucht, gefunden. Manfred Hügel etwa sucht ausschließlich Frauen unter 60 Kilogramm. Die Architektin, die ihm eine Seitensprungagentur präsentiert, wiegt deutlich mehr. Warum fühlt er sich mit ihr gegen seinen Willen wohler als je zuvor? Gerlinde Wagner ist in Rente und versucht, ihre Einsamkeit durch festgelegte Rituale zu bannen. Auf einem Datingportal lernt sie Rudi kennen. Mit ihm entdeckt sie ihre eigene Stadt neu. Doch Rudi ist fast 30 Jahre jünger. „Für eine Nacht oder fürs ganze Leben“ erzählt davon, wie die Liebeswahl auch in Zeiten der Singlepartys, der digitalen Kontaktbörsen, der gesellschaftlichen Freiheit unberechenbar bleibt.
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Darf’s ein bisschen mehr sein?
Tatsächlich hatte Manfred Hügel bis zum Frühsommer 2005 noch nie mit einer Frau geschlafen, geschweige denn sich ernsthaft in eine verliebt, die mehr als sechzig Kilo wog. Es kam ihm nicht auf ein paar Gramm an. Er stellte Frauen nicht auf eine Personenwaage, bevor er sich mit ihnen abgab, er führte keine Rekrutierungsmaßnahmen durch. Aber er besaß, aus welchen Gründen auch immer, von Jugend an einen präzisen Geschmack. Und die Erfahrung seines Liebeslebens hatte ihm nun einmal bestätigt, dass unter sämtlichen Frauen, die er als schön und begehrenswert, als optisch gelungen befand, keine gewesen war, deren Körpergewicht die Sechzig-Kilogramm-Marke wesentlich überschritten hätte. Er mochte das Füllige so wenig wie das ganz Knochige. Eine Frau von fünfundfünfzig oder gar fünfzig Kilogramm wäre ihm nicht nur zu dürr, zu besenstielig gewesen, sondern auch suspekt im Hinblick auf ihre Gesundheit. Bei der Körpergröße ließ er mit sich reden. So formulierte er selbst: »Da lass ich mit mir reden«, erklärte Manfred Hügel und verstummte. Verunsichert durch seinen fast barschen Tonfall, fragte ich mich, ob er die Lust an unserem Gespräch verloren habe. Aber so war es nicht, im Gegenteil. Ich saß neben einem Mann, der geradezu danach drängte, etwas unruhig in ihm Kreisendes loszuwerden. Er war nur kein besonders guter Erzähler. Das fiel mir schon nach kurzer Zeit auf. Vielleicht war er einfach nicht geübt darin, eine Geschichte geduldig durchzukneten, in ihre Ecken und Winkel zu dehnen, wie man einen Klumpen Hefeteig mit den Fingerspitzen zieht und dehnt, bis er das ganze Backblech ausfüllt. Manfred Hügel nahm den Klumpen in die Hand, drückte zu und ließ ein, zwei Sätze fallen, die das Fazit der Geschichte enthielten. Als Ingenieur arbeitete er in einem Milieu, in dem, so nehme ich zumindest an, Effizienz auch beim Reden als Vorzug gilt. Erst als endgültig klar war, dass wir die halbe oder im schlimmsten Fall sogar die ganze Nacht auf dem Karlsruher Flughafen festsitzen würden, der mich an die provisorischen Firmencontainer auf Großbaustellen erinnerte, begann er langsamer und ausführlicher zu erzählen. Er genoss meine Neugier. Er genoss sie sogar ziemlich, nach jeder Frage wartete er begierig auf die nächste, noch intimere Frage, als böte ich ihm kleine Leckerbissen an. Ich fragte ihn in einer recht hemmungslosen Weise aus, die ich mir unter anderen Umständen verboten hätte und die in einer anderen Situation auch völlig unangebracht gewesen wäre. Allerdings wusste Manfred Hügel, wie man Neugier herausfordert. Er gab sich als viriles, ein wenig flegelhaftes Rauhbein, nannte alles, was ihm besonders gefiel, »geil« – Helikopterflüge durch die Rocky Montains waren »geil«, der Kamin in seinem Wohnzimmer war »geil«, die Hamburger Aufführung des Musicals »Cats« war »geil« –, und was er nicht mochte oder was ihm störend im Weg stand, war ganz einfach »scheiße« oder »beschissen«. Dabei ließ er aber durchaus zartere Seiten durchschimmern, signalisierte wie nebenbei, dass es ein Fehler wäre, ihn auf den ersten Blick hin einzuordnen. Mein erster Blick erkannte einen kräftigen, etwas bulligen Mann mit einem ballonrunden, auf den Nacken gepressten Schädel. Einer, der sein Testosteron ein bisschen zu sehr mag, das war mein Gedanke, als ich mich in der Schlange vor dem Abfertigungsschalter umdrehte, um zu sehen, wer hinter mir mit cholerischem Unterton »Scheiße« gerufen hatte. Ich hielt ihn für fähig, einen sinnlosen Krawall zu veranstalten, den ganzen gottverlassenen Container wegen der Verspätung unseres Flugs zusammenzubrüllen, und sagte beruhigend in seine Richtung: »Kismet, dann warten wir halt, ich lade Sie auf einen Kaffee ein.« Sofort war er zahm, der Zorn verraucht, er zeigte mit dem Daumen zur Imbisstheke und rief vergnügt: »Den Kaffee zahl ich, ist aber die letzte beschissene Plörre hier, sag ich jetzt mal, bevor die Dame sich beschwert.« Als er losging, fiel mir auf, wie leichtfüßig er sich bewegte, wie harmonisch sich seine Körpermasse – ich schätzte sie auf neunzig Kilo – in den Bewegungen verteilte, nicht im Geringsten den Eindruck von Schwerfälligkeit oder Behäbigkeit erzeugte. Wenn er im Lauf der nächsten Stunden die Treppe zur Herrentoilette in das Obergeschoss hinaufstieg, trat er nur mit den Fußballen auf die Stufen und federte bei jedem Schritt kurz ab. Es sah elegant aus, was ich ihm auf den ersten Blick wirklich nicht zugetraut hätte. Ich bin mir sicher, dass ein begabter, rhythmischer Tänzer in ihm steckte. Foxtrott dürfte der Stil gewesen sein, der ihm am meisten lag. Er trug zwei Becher Kaffee zu den Reihen der schalenförmigen Aluminiumsitze und lud mich mit einem Kopfnicken ein, neben ihm Platz zu nehmen. So kamen wir ins Gespräch. Dass es derart schnell vertraulich wurde, verdankten wir der stillen Übereinkunft, eine vom Zufall geschaffene Gelegenheit zu nutzen, die sich nicht wiederholen, die eine Ausnahme bleiben würde. Wir wären uns im Freundeskreis oder im Beruf vermutlich nicht begegnet und selbst wenn, hätten wir dort auch kaum Gemeinsamkeiten gefunden. Unter meiner Tätigkeit konnte sich Manfred Hügel nichts Rechtes vorstellen. Er fragte nur, ob man »mit Bücherlesen anständig verdient«, was er offensichtlich bezweifelte. Kurz darauf erwähnte er Eugen Ruges Bestseller »In Zeiten des abnehmenden Lichts«, den er zu Weihnachten gleich zweimal, von seiner Schwester und von seiner Frau, geschenkt bekommen und in den Bummeltagen vor Neujahr ganz gern gelesen habe. Mit dieser Anspielung auf ein Bindeglied unserer Lebenswelten wollte er vermutlich den Abstand zwischen uns verkleinern und verhindern, dass wir uns unversehens als Fremde beäugten und im frisch begonnenen Gespräch auseinandertrieben. Erst ein paar Tage später begriff ich, was, von meiner Fragerei abgesehen, seine Mitteilsamkeit erregt, welches Signal es gewesen war, das ihn an eine ganz bestimmte Liebesepisode erinnert hatte. An der Wand hing ein Fernsehmonitor. In der Textschleife, die unter den Filmberichten von n-tv mitlief, war eine Eilmeldung über Peer Steinbrücks stattliche Honorare als Redner bei Großbanken und Wirtschaftskonzernen zu lesen. Steinbrück war kurz zuvor, im September 2012, Kanzlerkandidat der SPD geworden, und Bundestagswahlen hatten in Manfred Hügels Geschichte eine empfindliche Bedeutung. Als Mann war er nicht mein Typ. Ich als Frau wohl auch nicht seiner, ich wog doch einiges über sechzig Kilogramm. Aber wir spürten, auch das sah ich erst im Rückblick, eine Gemeinsamkeit gleichsam platonischer Natur. Sie lag nicht nur jenseits von Lebensstil und -welt, sondern, da sie einen versteckten Seelennerv betraf, unterhalb all dessen. Wir gehörten dem Verein der Schüchternen an, innerhalb dieses Vereins allerdings der Spezialabteilung ehemaliger, umtrainierter Schüchterner, bei denen niemand auf die Idee kommt, sie für schüchtern zu halten. Niemand außer den Schicksalsgefährten. Bei trockenen Alkoholikern dürfte es den gleichen Effekt geben. Sie erkennen sich wahrscheinlich schon an der kategorischen Tonlage, mit der sie jeden Tropfen ablehnen. Manfred Hügel und ich erkannten uns, unbewusst natürlich, an der haarfeinen, ein wenig hektischen Überforciertheit unserer allerersten Reaktion aufeinander. Kein anderer, nur ich hielt es für nötig, an den potentiellen Radaubruder in der Abfertigungsschlange das Wort zu richten, und Manfred Hügel ging potzblitz darauf ein, handelte, holte Kaffee. So verhalten sich Menschen, die eine Methode gefunden haben, mit der Schüchternheit fertig zu werden, und es bei der Anwendung der Methode ein wenig übertreiben. Ich war ein schweigsames Kind, eine schweigende Jugendliche, quassele heute aber leidenschaftlich gern und bisweilen auch zu viel. Manfred Hügel war, so nannte er sich selbst, ein Macher. Während andere noch überlegen, ob der abgeschabte Teppichboden durch einen neuen ersetzt werden soll, hat er schon mit dem Rausreißen begonnen. Ich übertreibe es mit dem Reden, er mit dem Machen. Die Forciertheit schlägt der unliebsamen, aus alten Zeiten bekannten Gehemmtheit die Tür vor der Nase zu, bevor sie sich überhaupt der Schwelle nähert. Und für diesen Vorgang, für dieses typische Verhalten von Schüchternheitsveteranen besaßen Manfred Hügel und ich ein feines Näschen. Der Hinweis kam im Übrigen von ihm selbst. Irgendwann während unseres Flughafenabends wollte ich von ihm wissen, ob er je eine völlig fremde Frau einfach angesprochen habe, auf der Straße, in einer Bar, wo auch immer. Ob er zu den Männern gehöre, die über die couragierte Lässigkeit verfügen, welche dieses Meisterstück des Liebeslebens erfordert. »Nö«, sagte Manfred Hügel, drehte den Ballonkopf um neunzig Grad, sah mich an und setzte trocken dazu: »Ich bin schüchtern.« Na ja, dachte ich, als ich den Satz hörte, schüchtern ist ja relativ, und was Manfred Hügel von der zupackenden Art berichtete, mit der er sein Leben verwaltete, ließ einen Draufgänger erwarten. Das war er auch, nur nicht in allen Bereichen. Sein Flirttalent erschöpfte sich, so verstand ich ihn, im Einnehmen einer Position, die es einer Frau nicht allzu schwer machte, ihn zu bemerken und anzusteuern. Man könnte dies als Kunst des Passivflirts bezeichnen, die auch ich beherrsche. Beim Besiegen der Schüchternheit habe ich es weit gebracht. Ohne größere Probleme kann ich heute vor zweihundert Leuten sprechen. Aber für die Aventure, einem Mann freiheraus meine Gesellschaft anzubieten, hat mein Mut beim besten Willen nie gereicht, zumindest nicht auf heimischem Terrain. Je weiter weg ich mich von zu Hause, vom Gewohnten und von mir selbst befinde, desto weniger bremst mich die Zögerlichkeit. Ein allgemein bekanntes und...


März, Ursula
Ursula März, geboren 1957, studierte Germanistik und Philosophie in Köln. Seit 2006 ist sie feste Mitarbeiterin der ZEIT. Sie lebt in Berlin.


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