E-Book, Deutsch, 208 Seiten
Macedonia Iss dich klug!
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-7110-5297-1
Verlag: ecoWing
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Und dein Gehirn freut sich
E-Book, Deutsch, 208 Seiten
ISBN: 978-3-7110-5297-1
Verlag: ecoWing
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
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Eine Schwangere soll für zwei essen
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Eine Schwangere soll für zwei essen, heißt es. Diese Vorstellung stammt aus einer Zeit, als die Menschen von einer Mahlzeit nicht satt wurden. Dass ich es im Mutterleib nicht länger als sechseinhalb Monate aushielt, lag bestimmt nicht an der Ernährung meiner Mutter, die sehr abwechslungsreich, und man würde heute sagen »bio«, war. Meine Mamma behauptete, ich sei früher auf die Welt gekommen, weil ich zu neugierig war, um im Mutterleib zu bleiben. Schön gesagt. Gut war es für mich aber nicht. Mein Frühchen-Gehirn war nach sechseinhalb Monaten nicht so entwickelt wie jenes eines Babys, das neun Monate im Bauch seiner Mama verweilen darf. Mein Gehirn war kleiner, und vor allem war die Rinde, also die Oberfläche, die in den letzten drei Monaten vor der Geburt dicker wird, bestimmt noch relativ dünn und glatt, wenig gefaltet. Dies führt nicht selten zu Problemen in der kindlichen Entwicklung, zum Glück wusste meine Familie nichts davon.
Gehirnrinde (Kortex) und ihre Funktionen
Die Oberfläche unseres Gehirns, auch Kortex genannt, lateinisch für Rinde, besteht aus besonderen Zellen, den Neuronen. In sechs Schichten angeordnet, bilden sie eine Landkarte dessen, was wir sind, wissen und können. Für das Baby ist sie die Basis für sein künftiges Leben. Nachvollziehbar ist, dass die beste Entwicklung nur durch einen neunmonatigen Verbleib im Mutterleib gegeben ist. Im Fötus bildet sich die Rinde aus Stammzellen, also Zellen, die noch in einem »Rohzustand« sind. Aus dem Neuralrohr kommend, einer Struktur in der Tiefe des Gehirns, wandern sie – man sagt dazu »migrieren« – in jene Region des Kortex, wofür sie vorgesehen sind1. Erreichen sie ihre Bestimmungsorte, differenzieren sie sich: Sie werden zu Neuronen für unsere Sinne, also für Seh-, Gehör-, Riech-, Geschmacks- und Tastsinn sowie das Gleichgewicht, aber auch für Bewegung, Sprache, Denken, Lernen und Fühlen – für all das, was wir sind, wissen und können. Die »Zellproduktion« wird ab der siebten Schwangerschaftswoche auf 1.000 Neurone pro Minute hochgefahren. Bis zum Ende des neunten Monats müssen es ja um die 100 Milliarden werden. Während der fötalen Entwicklung ist unser Gehirn eine Großbaustelle, die ordentlich über die mütterliche Nahrungsaufnahme versorgt gehört.
Zur optimalen Ernährung des Babys im Mutterleib sind im Lauf der Jahrzehnte zahllose Vorschläge gemacht worden. Sie beziehen sich aber auf die allgemeine körperliche Gesundheit des Fötus, somit auch auf jene seines Gehirns als Organ, allerdings nicht auf die Auswirkungen der Ernährung auf die kognitiven – also geistigen – Fähigkeiten oder auf die Psyche des Kindes. Alle Ernährungsvorschläge richten das Augenmerk auf Lebensmittel, die Folsäure, Vitamine, Eisen, Jod, Kalzium und andere Spurenelemente enthalten. Unter diesen Substanzen ist Folsäure für die Entwicklung des kindlichen Gehirns tatsächlich unentbehrlich. In Lebensmitteln als Vitamin B9 vorkommend und künstlich als Folsäure hergestellt, unterstützt ihre Einnahme die Teilung und das Wachstum von Zellen. Dieses Spurenelement wird meistens am Anfang der Schwangerschaft als Nahrungsergänzung empfohlen, um das Risiko von Fehlbildungen des Neuralrohrs zu reduzieren. Bei Wirbeltieren ist das Neuralrohr jene Struktur, die im Lauf der fetalen Entwicklung zum zentralen Nervensystem wird, somit auch zum Gehirn.
Fehlbildungen des Neuralrohrs finden in den ersten vier Schwangerschaftswochen statt: Sie betreffen das Rückenmark, das sich spalten kann (Spina bifida), aber auch das Gehirn selbst, in dem noch wesentliche Teile, wie die Gehirnhäute, fehlen oder unterentwickelt sind (Anenzephalie). Kinder, die mit dieser Art von Fehlbildung auf die Welt kommen, überleben nur einige wenige Stunden. Um Neuralrohrdefekte zu reduzieren, werden in den USA und Kanada seit Mitte der 1990er-Jahre Mehl und Getreideprodukte mit Folsäure angereichert. Dadurch sind die Zahlen der Fehlbildungen auch nachweislich zurückgegangen2. Arme Länder hingegen, die aufgrund der Mangelernährung, aber auch der geringeren Möglichkeit, von Nahrungsergänzung Gebrauch zu machen, verzeichnen weiterhin diese Fehlbildungen des Nervensystems3. In Fachpublikationen wird in über 170 Ländern weltweit eine verpflichtende Zufuhr von Folsäure in Getreideprodukten empfohlen: Darunter fallen auch Deutschland, Österreich, die Schweiz und weitere europäische Länder4. Die Einnahme von Folsäure senkt ebenfalls das Risiko für Tumore im Gehirn und in der Wirbelsäule bei Kindern, wie ein Übersichtsartikel5 beschreibt. Vitamin B9 kann auf natürliche Art durch Weizenkeime, dunkelgrünes Gemüse und Hülsenfrüchte aufgenommen werden, idealerweise gemeinsam mit Vitamin B126. Letzteres ist am meisten in Innereien wie Leber und Niere, aber auch in Austern, Makrelen, Rindfleisch, Milchprodukten und in gewissen Algen enthalten.
Zentrales Nervensystem
Neuralrohrentwicklung
Zur Auswirkung einzelner Vitamine und Spurenelemente im menschlichen Gehirn greift die vorhandene Literatur nur auf Beobachtungen zurück: Zum einen kann man in einer natürlichen Ernährung Vitamine nicht voneinander trennen, zum anderen dürfen Experimente mit Menschen kaum durchgeführt werden. Schwangeren ist nicht zuzumuten, dass sie komplett auf ein Vitamin verzichten, um dessen Mangel auf die Entwicklung des kindlichen Gehirns zu prüfen. Die meisten Studien finden daher mit Tieren statt. Nager, Affen oder Schweine darf man während der Trächtigkeit einseitig füttern und die Mengen der jeweiligen Substanzen oder einer bestimmten Diät exakt dosieren. Dadurch ist es möglich, die Auswirkungen unterschiedlicher Arten von Ernährung und von Ernährungsmängeln auf das Gehirn der Brut zu testen. Der Unterschied zwischen Schweinen beziehungsweise Nagern und Menschen sind einige wenige Gene, und man kann davon ausgehen, dass die Resultate auch für Menschen in einem bestimmten Ausmaß aussagekräftig sind.
Eine der zahlreichen Studien mit Farbratten – jenen gefleckten, besonders zahmen Tieren, die zwar speziell für die Wissenschaft gezüchtet, aber auch als Haustiere gehalten werden – hat gezeigt, dass sich eine Diät der trächtigen Mutter mit hochdosiertem Vitamin A auf das Belohnungssystem der Brut auswirkt: Die Jungtiere werden zurückhaltender auf die Verlockungen durch Futter und zeigen weniger Interesse an zuckerhaltiger Nahrung7. Allerdings konnte die Wissenschaft bisher die Mechanismen in der Entwicklung des Fötus noch nicht identifizieren, die zu geschmacklichen Vorlieben führen. Man weiß allerdings, dass sich Nahrung im Mutterleib auf unsere Gene auswirkt. Inwiefern? Seit vielen Jahrzehnten haben wir die Vorstellung, dass wir ein Produkt unserer Gene sind, unverrückbar nach der klassischen Genetik definiert, wie wir sie im Biologie-Unterricht über die Mendelschen Regeln der Vererbung – ja genau die Erbsenkreuzungen – gelernt haben. So erkläre ich mir, warum ich grüne Augen und Sommersprossen habe, obwohl meine Eltern braune Augen hatten und ihre Haut in der Sonne auch sofort braun wurde: Ich bin wie Oma Irene geraten, habe ihre Augenfarbe geerbt und muss mich mit Sonnenschutzfaktor 50 ausrüsten, damit ich bei meinen Radtouren nicht krebsrot werde.
Die klassische Genetik kann äußerliche Merkmale erklären, aber Charakterzüge oder Verhaltensweisen, auch Krankheiten, nicht, vor allem, wenn sie im Familienverband noch nie aufgetreten sind. Die Mendelschen Gesetze decken daher nicht die enorme Verschiedenartigkeit unseres Seins, vor allem unserer geistigen Fähigkeiten und unserer Psyche, ab. So können Kinder mit demselben Erbgut unterschiedlich intelligent und kreativ sein. Sie können auch den Hang zu Verhaltensauffälligkeiten und psychischen Krankheiten unterschiedlich voneinander entwickeln. Nach der Epigenetik, der Weiterentwicklung der klassischen Genetik, müssen wir, selbst wenn Genträger, nicht jene Eigenschaft oder...




