Macaulay | Ein unerhörtes Alter | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 284 Seiten

Macaulay Ein unerhörtes Alter

Roman
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-8321-7011-0
Verlag: DuMont Buchverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 284 Seiten

ISBN: 978-3-8321-7011-0
Verlag: DuMont Buchverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Neville Hilary feiert auf dem Landsitz im Kreise der Familie ihren 43. Geburtstag. In der Mitte ihres Lebens realisiert sie, dass sie als Mutter von ihren Kindern Gerda und Kay nicht mehr gebraucht wird und dass sie anders als ihr Mann Rodney keine erfüllende Karriere vorzuweisen hat. Das Medizinstudium hatte Neville mit Anfang zwanzig für Ehe und Kinder abgebrochen, doch nun beschließt sie, dass es höchste Zeit ist, einen gesunden Egoismus zu pflegen und vergangenen Ambitionen nachzustreben: Sie wird an die Universität zurückkehren und das Examen absolvieren.

Ihre 63-jährige Mutter, Mrs Hilary, fühlt sich unterdessen in ihrem Witwendasein derart unbeachtet, dass sie sich sogar der (von ihr zunächst argwöhnisch abgelehnten) Psychoanalyse zuwendet – mit dem Ziel, wenigstens beim Therapeuten endlich mal nur über sich selbst sprechen zu können. Und auch die anderen Frauen der Familie Hilary schlagen für ihre Zeit höchst ungewöhnliche Wege ein: Die unentschlossene Nan liebt zwar Barry, möchte aber vielleicht doch lieber ungebunden bleiben, die feministische Pamela findet ihr Glück in Arbeitsleben und Frauenwohngemeinschaft. Und dann wäre da noch die zwanzigjährige Gerda, jung und freigeistig, die alles kriegt, was sie will – und wenn es der Verehrer ihrer Tante Nan ist …
»Rose Macaulay ist eine der wenigen Autorinnen, von denen man sagen kann, dass sie unser Jahrhundert zierten.« Elizabeth Bowen

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ERSTES KAPITEL .                            . Nevilles Geburtstag Neville erwachte an ihrem Geburtstagsmorgen um fünf (die Stunde der Natur, nicht die der Menschen) aus dem träumerischen Schlaf anbrechender Sommertage, erhitzt von der Last zweier Laken und einer Decke, geweckt vom vielfachen hellen Rufen einer Welt voller Vögel. Schrill und melodisch erklangen sie rund um das überwachsene Haus wie hundert Bäche, die nach der Schneeschmelze steile Runsen hinunterschießen. Und ungleich jedem Bach und auch jedem Vogel und überhaupt jedem Ding auf der Welt außer einer Kuckucksuhr, rief unbeirrt in den Ästen der großen Ulme auf der anderen Seite des silberglänzenden Rasens ein Kuckuck. Neville drehte sich um, legte ihr kleines Gesicht in die sonnengebräunten Hände und schaute verschlafen hinaus. Die prickelnde Freude des jungen Tags erfasste sie, als sie sie durch das offene Fenster einsog. Sie erschauderte verzückt, als ein kalter Hauch sich ihr auf die Blöße von Hals und Brust legte, und sie vergaß die rastlose Geburtstagsbitterkeit der Nacht; vergaß, wie sie wachgelegen und gedacht hatte: »Wieder ein Jahr vorbei und noch nichts zustande gebracht. Bald werden alle Jahre vorbei sein, ohne dass je etwas zustande gebracht wurde.« Von ihr zustande gebracht, meinte sie natürlich, wie alle wissen, die sich mit Geburtstagen auskennen. Aber was ›etwas‹ war und was ›nichts‹, wussten weder sie noch andere Geburtstagskinder angemessen zu benennen. Sie haben gelebt, sie haben gegessen, getrunken, geliebt, gebadet, gelitten, geplaudert, getanzt in der Nacht und gejubelt in der Früh und sich eigentlich beide Hände am Feuer des Lebens gewärmt, und doch sind sie noch nicht bereit, abzutreten, denn sie hecheln der Zeit hinterher, sind besessen von so vielen Welten und so vielen Tätigkeiten: das Geleistete winzig, das noch Ausstehende riesig. Dies bedrückte Milton einst, als er dreiundzwanzig wurde, und es bedrückt jeden eitlen und ehrgeizigen Menschen mindestens einmal im Jahr. Manche nennen es Reue um verschwendete Tage und sind stolz darauf, andere nennen es Eitelkeit, Unzufriedenheit oder Gier und schämen sich deswegen. Doch ob so oder so – es spielt keine Rolle. Neville streifte all diese Gedanken leichthin ab mit den Laken, sprang aus dem Bett und schlüpfte in Strandschuhe, warf sich einen großen Mantel über ihren schmalen, drahtigen Körper, trat leise auf den Flur, wo hinter drei geschlossenen Türen Rodney, Gerda und Kay schliefen, und stahl sich die Hintertreppe in die halbdunkle Küche hinunter, die hinter den Jalousien porzellanblau und morgenblass schimmerte. Sie machte sich eine Tasse Tee auf dem Gaskocher. Auch Brot und Marmelade nahm sie aus der Speisekammer und bestrich zwei dicke Schnitten damit, mampfte die eine und entschwand aus dem schlafenden Haus in den verwilderten Garten. Neville blickte zu Gerdas Schlafzimmerfenster auf, das im Geißblatt ertrank, und hätte beinahe den Pfiff ertönen lassen, auf den Gerda üblicherweise antwortete. Beinahe, aber dann doch nicht. Alles in allem war es ein Morgen wie zum Alleinsein gemacht. Zudem wollte Neville eine Weile nichts mehr von Geburtstagen wissen, und Gerda hätte sie daran erinnert. Sie ging über den Hof, um stattdessen Esau zu holen, der sie nicht daran erinnern würde und dessen überschäumende Freude sie mit einer mahnenden Geste dämpfte. Über den feuchten, silbrigen Rasen schlenderte sie, zwischen den riesenhaften Schatten der Ulmen, ihre Füße in den alten Strandschuhen hinterließen dunkle Spuren im Tau, ihr Mund war voll Marmeladenbrot, der schwarze Zopf hüpfte auf ihren Schultern, und Esau tollte um sie herum. Über den Rasen weiter zum Wald, kühl und dämmrig auch er, aber nicht still, denn er widerhallte von Musik und raschelte vor Leben. Durch das Geäst der Buchen, Ulmen und Fichten versprühte der junge Tag sein Gold, sodass die blauen Glockenblumenbüschel hier aufleuchteten wie Tau in der Sonne und dort grau blieben wie Wasser im Dämmerlicht. Zwischen zwei großen Blumenwogen führte ein brauner Weg steil zu einem tiefen kleinen Bach hinunter. Neville und Esau kletterten ein kleines Stück bachaufwärts bis zu einem breiten Strudeltopf, den der Bach zwischen den Felsen bildete. Hier zog Neville Mantel, Schuhe und Schlafanzug aus und verharrte einen Augenblick auf dem vorspringenden Felsen: ein schlanker, nackter Körper, langbeinig und wohlproportioniert, feingliedrig mit beweglichen Muskeln – ein Körper geschaffen für Schnelligkeit, Anmut und eine gewisse drahtige Zähigkeit. Sie blieb sitzen, bis sie ihren schwarzen Zopf um den Kopf geschlungen hatte, tauchte dann ins kalte, klare Wasser ein, das ihr an einer Stelle knapp über den Kopf reichte, und rief nach Esau, aber Esau wollte wie üblich nicht ins Wasser und bellte bloß. Eine Runde Schwimmen ist schon genug, mehr als genug, wie alle bestätigen werden, die sich mit frühmorgendlichen Bädern auskennen. Neville kletterte hinaus, stellte fest, dass sie ihr Handtuch vergessen hatte, und trocknete sich an ihrem Mantel ab, schlüpfte wieder in ihren Pyjama und setzte sich, um ihr zweites Marmeladenbrot zu genießen. Als sie es gegessen hatte, kletterte sie auf eine Buche, dicht an den glatten Stamm geschmiegt, bis sie ins Sonnenlicht gelangte, setzte sich rittlings auf einen dicken Ast und begann gellend zu pfeifen, mal den einen und mal den anderen Vogel imitierend. Ja, das waren die Augenblicke, da es vollauf genügte, am Leben zu sein. Schwimmen, Marmeladenbrot und hoch droben in einer Buche sitzen, Auge in Auge mit dem goldenen Morgen – ja, das war Leben. Dann flog man wie ein beschwingtes Schiff mit Wind in den Segeln über die kalten schwarzen Untiefen der Zweifel. An manch einen solchen Junimorgen konnte Neville sich erinnern … Sie fragte sich, ob auch Gerda und Kay so über den Kummer hinwegsegelten. Dass Rodney es tat, wusste sie. Aber Rodney kannte sie in mancher Hinsicht besser als Gerda und Kay. So plötzlich an Rodney, Gerda und Kay zu denken, wie sie da im stillen Haus jenseits des singenden Waldes und silbrigen Gartens schliefen, hieß sogleich in den dunklen Wogen versinken und wieder den stechenden Schmerz der nächtlichen Eifersucht spüren. Nicht Missgunst, denn dafür liebte sie sie alle zu sehr. Aber Eifersucht auf ihre Aussichten, auf ihre Berührungen mit dem Leben. Sie hatte zwar auch ihre eigenen, aber sie wollte noch alle möglichen anderen dazu. Nicht nur Rodneys, Gerdas und Kays, nein, die all ihrer Angehörigen und Freunde. Sich der Tatsache so bewusst, wie man es an Geburtstagen eben ist, dass das pralle Leben schon bald versiegt sein wird, suchte sie es verzweifelt einzudämmen. Es verfloss zu schnell. Sie betrachtete die nassen Strähnen ihres Haars, das ihr nun offen auf die Schultern fiel, um in der Sonne zu trocknen, und ihre starken Glieder und dachte an kommende Tage, da das schwarze Haar grau wäre und sie keine biegsamen Glieder mehr hätte, um auf Buchen zu klettern, und Rheuma bekäme, wenn sie bei Sonnenaufgang badete. Was tat man dann, um nicht in den schwarzen Wogen der Trauer unterzugehen? Man saß am Kamin oder im sonnenbeschienenen Garten, alt, grau und schläfrig – ja, man schlief ein, wann immer man konnte. Wenn man nicht schlafen konnte, so las man. Aber die Augen ermüdeten rasch – Neville dachte an ihre Großmutter –, und man musste sich vorlesen lassen von jemandem, der nicht vorlesen konnte. Aber gegen vergebliches Nachtrauern half das nicht genug, nur Freude an körperlicher Betätigung schaffte das. Darum musste man, bevor jene Stunde schlug, die Trauer erschlagen haben, ja, dieses Schlangenhaupt ein für alle Mal zermalmt haben. Aber ob dies überhaupt irgendwem gelang? Rodney mit seinem erfüllten, nützlichen, interessanten Leben, Rodney, der sich einen Namen gemacht hatte und noch machte, Rodney, den so viele beneideten und vor allem Neville, die sich immer noch an den scharfen Kanten ihrer längst abgebrochenen Karriere schnitt, selbst Rodney verzehrte sich manchmal insgeheim vor Ehrgeiz und Eifersucht auf Rivalen, grollte und litt an dem Wettlauf, den wir bestreiten müssen. Er hatte etwas geleistet und tat es noch, aber es war nicht genug. Er hatte es weit gebracht und immer noch weiter, aber nicht weit genug. Er konnte nicht alles erreichen, was er wollte; überall stellten sich ihm Hindernisse in den Weg. Dummköpfe behinderten seine Arbeit, und weniger tüchtige Männer als er gelangten in Positionen, die ihm zugestanden hätten. Er war ein Vollblutpolitiker und hätte doch gern mehr Zeit zum Schreiben gehabt. Hundert Karrieren neben der eigenen hätte er gern gehabt und musste sich mit der einen begnügen. (Gerda und Kay hingegen, die erst an der Schwelle zum Leben standen, glaubten noch, es gäbe tatsächlich hundert Karrieren für sie.) Nein, Rodney war nicht gefeit gegen Reue, aber immerhin hatte er mehr, womit er sie in Schach halten konnte, als Neville. Neville hatte keine eigenen Leistungen vorzuweisen; sie hatte bloß ihre Liebe zu Rodney, Gerda und Kay, ihr Interesse am hinreißenden, sonderbaren Spektakel des Lebens, ihre körperliche Fitness (mit der sie alle andern mühelos im Schwimmen, Laufen, Tennis oder Squash übertraf) und ihren regen, aber ungenutzten Verstand. Und es war ein tüchtiger Verstand, hatte sie doch einst ihre medizinischen Prüfungen mühelos und mit Bravour bestanden – soweit sie sie, bevor etwas dazwischenkam, überhaupt ablegen konnte. Aber jetzt lag ihr Verstand brach, war verschwendet, verkümmert und vom mangelnden Gebrauch...


Wehrli, Irma
Irma Wehrli wurde 1954 in Liestal geboren und studierte Anglistik, Germanistik und Romanistik an der Universität Basel. Seit 1984 arbeitet sie als freie Übersetzerin von englischsprachiger Literatur des 19. Und 20. Jahrhunderts und hat Texte von u. a.Rudyard Kipling, Thomas Hardy, Thomas Wolfe, Walt Whitman und Katherine Mansfield ins Deutsche übertragen.

Macaulay, Rose
Rose Macaulay, 1881 in Rugby geboren, studierte in Oxford und lebte danach in London. Sie schrieb über zwanzig meist satirische Romane, daneben auch Biografien und Reiseliteratur. Kurz vor ihrem Tod 1958 wurde sie zur Dame Commander of the British Empire geadelt.



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