E-Book, Deutsch, 272 Seiten
Mabanckou Das Geschäft der Toten
Deutsche Erstausgabe
ISBN: 978-3-95438-170-8
Verlag: Liebeskind
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 272 Seiten
ISBN: 978-3-95438-170-8
Verlag: Liebeskind
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Liwa Ekimakingaï, seines Zeichens Küchengehilfe im Hotel Victory Palace in Pointe-Noire, hat unter mysteriösen Umständen das Zeitliche gesegnet. Am Abend des kongolesischen Nationalfeiertags trifft er in einem Nachtklub die schöne Adeline, er begleitet sie nach Hause ... und erwacht nicht etwa in ihrem Bett, sondern in einem Grab auf dem Friedhof Frère-Lachaise. Liwa findet den eigenen Tod ziemlich unfair und macht sich auf, Licht in die Angelegenheit zu bringen. Bei seiner Reise in die eigene Vergangenheit begegnet er höchst illustren Figuren, lebendigen wie verstorbenen. Da ist beispielsweise Augustin Biampandou, der als Hafenmeister das einträglichste Amt der Stadt bekleidet, sich aber trotz seiner Allmacht zum Schutz eine »Haushexe« hält. Oder der Sänger Lully Madeira, bei dessen Auftritten die Frauen gleich reihenweise in Ohnmacht fallen - aber erst seit er einen Buckel hat, in dem Geister wohnen. Liwa muss erkennen, dass sich die Welt der Toten kaum von der der Lebenden unterscheidet.
Alain Mabanckou erzählt die wundersame Geschichte eines Mannes, der versucht, seinen eigenen Tod aufzuklären. So entsteht das rasante, humorvolle, aber auch schonungslose Porträt einer postkolonialen Gesellschaft, die stecken geblieben ist zwischen Tradition und Moderne.
Alain Mabanckou wurde 1966 in der Republik Kongo geboren. Mithilfe eines Förderstipendiums verließ er Ende der Achtzigerjahre seine Heimat, um in Paris sein Jurastudium fortzusetzen. Danach trat er in einen französischen Wirtschaftskonzern ein, für den er fast zehn Jahre lang als juristischer Berater tätig war. Während dieser Zeit erschienen zwei Lyrikbände und sein Debütroman, für den er den Grand Prix littéraire de l'Afrique noir erhielt. Weitere Romanveröffentlichungen folgten, darunter »Zerbrochenes Glas« und »Black Bazar«. Mit dem Roman »Stachelschweins Memoiren« gewann er den Prix Renaudot, die Académie française zeichnete ihn 2012 für sein Gesamtwerk mit dem Grand Prix de Littérature aus. Mit »Petit Piment« war er 2017 für den Booker International Prize nominiert. Alain Mabanckou lebt in Paris und Los Angeles.
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Neues Leben
Immer wieder sagst du es dir, bis du zuletzt überzeugt davon bist: Vor weniger als einer Stunde hat ein neues Leben für dich begonnen, als ein Stoß das Erdreich um dich herum aufriss und du, wie von einem Wirbelsturm angesaugt, dort hinaufgeschleudert wurdest, wo du jetzt liegst, auf einen Erdhaufen, über dem ein nagelneues Holzkreuz aufragt. »Ich atme! Ich lebe!«, hast du in diesem Augenblick triumphierend vor dich hin gemurmelt. Doch nun, da sich der helle Tag am Horizont zeigt, hat dich diese Gewissheit verlassen. Vielmehr treiben dich die Bilder deiner letzten Stunden um, die eines in seinem Sarg eingesperrten Verstorbenen, der mit großem Pomp zu seiner letzten Heimstatt hier auf dem Friedhof Frère-Lachaise gebracht wird. Es gelingt dir also nicht, dich von diesen Erinnerungen abzuwenden, und du siehst wieder den langen Trauerzug, der dich durch die Hauptverkehrsadern der Viertel von Pointe-Noire begleitet hat. Dieses letzte Geleit, das dem Begräbnis vorausgeht, ist gängige Praxis in der Stadt, und die Bewohner sehen darin eine Art nachträgliche Würdigung des Verblichenen, der mit Bildern ausgelassener Freude von uns gehen soll. Deshalb wirst du von sechs muskelbepackten Riesen mit breiten Schultern in weißen Anzügen und spitzen, glänzenden schwarzen Schuhen getragen. Sie erledigen einen Auftrag und sind nicht da, um zu verstehen, warum der Mensch gestorben ist, den sie schultern. Sie halten sich an die Route, die die trauernden Familien ihnen vorgegeben haben, und während der ganzen Prozession hört man keinen Laut von ihnen. Während man dich durch besonders eng gewundene Gassen schleppt, ahnst du, eingeklemmt in deinem Sarg, was dir am Ende dieser Reise bevorsteht. Du hast schon an Leichenzügen dieser Art teilgenommen, von denen einige durch die Rue du Joli-Soir führten, wo du bis zu deinem Tod mit deiner Großmutter gelebt hast. Daher weißt du, dass man dich zum Schluss auf den Friedhof Frère-Lachaise bringen wird, wo du nur noch einer unter abertausend anderen Verstorbenen sein wirst. Wenn du Glück hast, kommen außer Mâ Lembé jedes Jahr noch andere Besucher an dein Grab. An Pfingsten wirst du schöne Blumensträuße darauf finden, oder auch am Unabhängigkeitstag, wenngleich dies einer gewissen Ironie nicht entbehrte, da der Grund deines Ablebens mit der Feier dieses nationalen Großereignisses zusammenhängt. Und wenn du erst unter der Erde liegst, wird die Zeit das Ihre tun, und die Entschlossenheit derer, die dich kannten, wird dem Vergessen weichen, bis du in der Trockenzeit keine Seele mehr zu Gesicht bekommst, weil sich niemand mehr zu deinem Grab verirrt. Unkraut wird es überwuchern, und ständig werden es verschiedene Eidechsenarten oder schwarze Schlangen heimsuchen, die nach den Legenden der Babembe, zu deren Ethnie du gehörst, »obdachlose Seelen« sind, kurz, Verstorbene, die auf Erden so viel Schaden angerichtet haben, dass sie zu Recht in Friedhofsreptilien verwandelt worden sind … Diese deprimierenden Gedanken hätten dich entmutigen können. Stattdessen wischst du sie einfach beiseite und suchst unverdrossen nach neuen Möglichkeiten, dich davon zu überzeugen, dass dir dieses neue Leben nützlich sein wird, das dich in die Lage versetzt, alsbald in die Stadt zu gehen, um bestimmte Dinge zu regeln. Du schüttelst deine Beine aus, du streckst deine überkreuzten Arme in der Absicht, dich aus der fötalen Position zu befreien, die du instinktiv zu deinem Schutz eingenommen hattest, als du davon überzeugt warst, dass die pflanzlichen Abfälle von überallher auf dir landen würden, die der Erdstoß aufgeworfen und der Wirbelwind durch die Gegend geschleudert hatte. Du lässt deine Finger einen nach dem anderen knacken, als wäre das Platzen der winzigen Bläschen in deinen Gelenken der unwiderlegbare Beweis für diese Existenz. Jetzt möchtest du prüfen, ob du in der Lage bist, Dinge zu greifen. Es gelingt dir, einen kleinen Kieselstein, rund wie eine Murmel, in die Hand zu nehmen. Du drehst ihn zwischen Daumen und Zeigefinger, du genießt das entspannende Gefühl der Berührung, dann schließt du die Hand um ihn und schleuderst ihn mit all deiner Kraft, ohne aufzustehen, die Zähne zusammengebissen, die Augen geschlossen, ins Leere. Zuerst herrscht Stille. Sie kommt dir endlos vor, dann hörst du, wie der kleine Stein mehrmals von der Marmorplatte eines anderen Grabes hochspringt, drei oder vier Friedhofswege von deinem entfernt. Du hattest ihn sehr weit ins Leere geworfen, was an sich eine echte Glanzleistung war. Deine Lippen entspannen sich zu einem breiten, zufriedenen Lächeln, nun meinst du, du hättest Grund genug, um deinen fröhlichen Humor wiederzubeleben und die Kette dieser trübsinnigen Bilder ein für alle Mal zu durchbrechen, die bis jetzt deine Gedanken blockiert haben. Von deiner Euphorie getragen, beschließt du sodann, aufzustehen. Zum ersten Mal seit du aus dem Grab herausgekommen bist, richtest du dich auf. Du stützt dich auf das Holzkreuz, und es gelingt dir mehr schlecht als recht, dich aufzurichten, ohne dass es zerbricht. Das Knacken der Gelenke in deinen Ellbogen, das jedes Mal zu hören ist, wenn du die rötliche Erde auf deiner Kleidung wegwischst, stört dich nicht. Du trägst ein orangerotes Sakko aus Crêpe mit breitem Revers und ein neongrünes Hemd, das einen großen Kragen mit drei Knöpfen und große Umschlagmanschetten mit abgerundeten Ecken hat. Die weiße Fliege sitzt ein wenig schief, also rückst du sie zurecht im Gedenken an deine Großmutter Mâ Lembé, die es an Tagen des Kirchgangs nicht duldete, dass sie schief saß. Du hast das Gefühl, du hättest Wasser abbekommen, tatsächlich ist dein Hemd in Höhe der Achseln, im Rücken und am Unterleib feucht. Offenbar hast du in der Abgeschlossenheit deines Sargs geschwitzt, denkst du. Im Moment betrachtest du voller Bewunderung deine lila Schlaghose, die ebenfalls aus Crêpe ist, dazu die roten Salamander-Lackschuhe mit weißen Schnürsenkeln. Da diese Treter dich in deiner Bewegungsfähigkeit einzuschränken drohen, entschließt du dich, sie auszuziehen und den einen rechts, den anderen links neben das Grab zu befördern, wobei dir mit Verwunderung auffällt, wie übermäßig hoch ihre Plateausohlen sind, da es dir doch nie an Körpergröße gefehlt hat. Zweifellos waren dir diese Schuhe in aller Eile von einem Schuhverkäufer in der Nähe deines Arbeitsplatzes, dem Victory Palace, empfohlen worden. Unweit dieses französischen Hotels, auf der Höhe des Patrice-Lumumba-Kreisverkehrs, stößt man auf den Grand-Marché, jenen Markt, auf dem sich die Pointenegriner täglich auf die Kleiderballen und Haufen von Schuhkartons stürzen, die aus Frankreich kommen, besonders aus Marseille, Bordeaux oder Le Havre. Die Jugendlichen haben diesen alten Klamotten übrigens einen Namen gegeben: »sola«, was auf Munukutuba so viel wie »auswählen« heißt. Die Ware kommt gepresst, in Plastikfolie eingeschweißt und zum Schutz gegen Diebstahl gut versiegelt im Hafen von Pointe-Noire an. Schuhe sind in festen, ebenfalls versiegelten Stoffsäcken verpackt. Die Großhändler (Libanesen, Senegalesen oder Maghrebiner) kaufen große Kontingente ein, verkaufen sie an die Einzelhändler (die Pointenegriner), die sie wiederum einzeln zu Geld machen. Nach dem Öffnen der Ballen und Säcke werden die Schuhe und Kleider sortiert und mitten auf dem Markt in mehreren Haufen auf Planen direkt auf dem Boden ausgebreitet. Die Kunden schnüffeln daran wie Hunde, probieren die Waren an, ohne sich darum zu kümmern, dass andere Leute ihnen dabei zusehen, wie sie sich in der Öffentlichkeit entkleiden. Sie legen ihre Auswahl zur Seite, klemmen sie sich zwischen die Beine, gehen erst zur Kasse, nachdem man ihnen einen ordentlichen Rabatt gegeben hat, besonders wenn sie einen heraushängenden Faden, einen fehlenden Knopf, ein schlecht herausgerissenes Etikett oder einen Fleck, und sei er noch so winzig, entdeckt haben. Ob der Mangel nur in den Augen des Käufers sichtbar ist, fällt nicht ins Gewicht, der Kunde ist König, was er sieht, zählt. Kein Preis ist in Stein gemeißelt, alles ist »auszuhandeln«. Der Geruch der sola an dir entgeht dir nicht, ob die ausgewählten Stücke vom Ballen kommen oder, was dir am wahrscheinlichsten erscheint, im Laden deines Lieblingshändlers Abdoulaye Walaye gekauft wurden, der sich ebenfalls auf diesem Grand Marché befindet, vorherrschend ist jedoch ein anderer Geruch, der Duft des Eau de Toilette Mananas, das man gewöhnlich über den Leichen versprüht und das an den Ständen der Libanesen verkauft wird. Niemand in Pointe-Noire würde sich mit Mananas parfümieren, sonst würden ihn alle, denen er über den Weg läuft, für einen Wiedergänger halten oder sogar für jemanden, der auf einem Friedhof oder im...