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E-Book, Deutsch, 336 Seiten
Reihe: Kampa Salon
Lévi / Lévi-Strauss / Eribon Das Nahe und das Ferne
1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-311-70026-5
Verlag: Kampa Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Eine Autobiographie in Gesprächen mit Didier Eribon
E-Book, Deutsch, 336 Seiten
Reihe: Kampa Salon
ISBN: 978-3-311-70026-5
Verlag: Kampa Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Claude Lévi-Strauss, geboren 1908 in Brüssel, gilt als einer der weltweit bedeutendsten Ethnologen. Die Publikation von Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft 1949 wird häufig als Geburtsstunde des französischen Strukturalismus bezeichnet. Sein wohl berühmtestes Buch ist Traurige Tropen, ein poetisch geschriebener Reisebericht über seine Feldforschungen in Brasilien. 1959 erhielt er den Lehrstuhl für Sozialanthropologie am renommierten Collège de France, wo er bis zu seiner Pensionierung 1982 lehrte. Im Laufe seines Lebens erhielt er für sein umfassendes Werk unzählige Preise, Orden und Ehrendoktorwürden. Er starb 2009 kurz vor seinem 101. Geburtstag in Paris.
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Kapitel 2 Der Ethnologe vor Ort
Im Februar 1935 nehmen Sie also in Marseille das Schiff. Bestimmungshafen: São Paulo. Dank Georges Dumas haben Sie eine Anstellung an der Universität der Stadt bekommen. Welche Verbindungen bestanden zwischen dem großen Psychologen und Brasilien?
Der Einfluss Frankreichs war seit dem Comtismus in Brasilien sehr stark. Für die gebildeten Brasilianer war Französisch die zweite Sprache. Georges Dumas hatte sich dort mehrfach aufgehalten und Verbindungen mit der örtlichen Aristokratie aufgenommen, vor allem in São Paulo. Als die Brasilianer in dieser Stadt eine Universität gründen wollten, haben sie sich natürlicherweise an ihn gewandt, mit der Bitte um Gründung einer französischen Mission.
Wann war die Universität gegründet worden?
Ein Jahr vor meiner Ankunft. Ich gehörte zum zweiten Schub.
Gab es, abgesehen von der französischen, andere Missionen?
Es gab eine italienische Mission, vor allem mit Giuseppe Ungaretti. Man muss sagen, dass die Italiener in São Paulo sehr zahlreich vertreten waren – die Hälfte der Stadt, oder beinahe die Hälfte. Es gab auch einige deutsche Professoren, allerdings mit individuellen Lehraufträgen, denn es war bereits die Zeit des Hitlerismus.
Welche Atmosphäre herrschte an der Universität, als Sie ankamen?
Die Universität war vom Großbürgertum gegründet worden, zu einem Zeitpunkt, als die Spannung zwischen der paulistischen Macht und der Bundesregierung noch sehr stark war. So stark, dass sie beinahe auf eine Spaltung hinausgelaufen wäre. Die Menschen in São Paulo betrachteten sich als Speerspitze einer Nation, die in kolonialer Erstarrung eingeschlafen war. Zur Förderung der paulistischen Jugend und zu ihrer Verschwisterung mit der europäischen Kultur hatten diese Aristokraten sich nun entschlossen, eine Universität zu gründen.
Paradoxerweise kamen jedoch die Studierenden aus den Unterschichten, denn es gab eine große Kluft zwischen der Elite und der arm und geistig provinziell gebliebenen Mehrheit der Bevölkerung. Die Studierenden, häufig bereits berufstätige Männer und Frauen, beargwöhnten die Großbürger, die die Universität gegründet hatten. Und wir selbst fanden uns zwischen beiden Lagern. Obschon sie uns respektierten, sahen die Studierenden uns manchmal doch nur als Diener der herrschenden Klasse.
Sie waren also keine »Wachhunde der Bourgeoisie«?
Nein, aber wir mussten achtgeben, nicht als solche zu erscheinen.
Wie gingen die Vorlesungen vor sich?
Die Studierenden hatten einen immensen Wissensdurst. In gewisser Hinsicht wussten sie übrigens mehr als wir, weil sie, als Autodidakten, alles verschlungen, alles gelesen hatten, freilich Werke aus zweiter oder dritter Hand. Es war nicht so sehr unsere Aufgabe, ihnen Dinge beizubringen, die sie nicht wussten, als vielmehr ihnen intellektuelle Disziplin zu vermitteln.
In welcher Gegend lag die Universität?
Im Stadtzentrum, in alten Gebäuden, in denen noch ein Hauch von kolonialer Atmosphäre zu spüren war, während die Universität heute, wie andere vom Gigantismus befallene Institutionen, in Gebäuden im Stil von Jussieu oder Nanterre inmitten eines weitläufigen, eher öden Campus untergebracht ist.
Wie viele Studierende hatten Sie?
Einige Dutzend.
Was viel ist.
Aber ja! Es war die gesamte paulistische Jugend oder doch wenigstens diejenigen, die über ein Minimum von Mitteln verfügten. Meine Kollegen, die französische Literatur lehrten, hatten deutlich mehr Zuhörer, denn die gute Gesellschaft strömte ihnen zu.
Und Sie selbst hielten eine Soziologievorlesung?
Der Lehrstuhl war so benannt.
Aber da Soziologie und Ethnologie ja nicht klar voneinander geschieden waren, hätten Sie auch Ethnologie lehren können?
Vergessen Sie nicht, dass die brasilianische Bourgeoisie eine lange intellektuelle Tradition besaß, die auf Auguste Comte zurückging. Sein Denken übte auf das Brasilien des 19. Jahrhunderts einen derart erheblichen Einfluss aus, dass die Fahne Brasiliens seine Formel trägt.
War der Einfluss von Auguste Comte noch spürbar?
Es gab noch höchst lebendige positivistische »Kirchen«. Doch die gebildeten Brasilianer waren von Comte zu Durkheim übergegangen, der für sie einen modernisierten Positivismus repräsentierte. Was sie also wollten, war Soziologie.
Was doch wohl für Sie störend war?
Ich war nach Brasilien gegangen, weil ich Ethnologe werden wollte. Und ich war erobert worden von einer Ethnologie, die gegen Durkheim rebellierte. Er war kein Mann des Feldes, während ich, angeregt von den Engländern und Amerikanern, die ethnologische Feldforschung entdeckte. Ich war also in einer falschen Position. Man hatte mich berufen, um den französischen Einfluss einerseits und die Comte-Durkheim-Tradition andererseits fortzusetzen. Und ich kam an, zu diesem Zeitpunkt gebannt von einer angelsächsisch inspirierten Ethnologie. Das hat mir ernsthafte Schwierigkeiten bereitet.
Welcher Art?
Georges Dumas hatte im ersten Jahr an der Universität einen jungen Verwandten von ihm installiert, der Soziologe war. Als ich eintraf, als Nebenfachsoziologe, wenn ich so sagen darf, war jener Verwandte darauf bedacht, mich in eine untergeordnete Position abzuschieben. Das behagte mir nicht, und als ich Widerstand leistete, bemühte er sich, im Namen der Comteschen Tradition, in der er Spezialist war und der mein Unterricht entgegenarbeitete, meine Entlassung zu erwirken. Die Schirmherren der Universität, die auch die der großen Zeitung waren, schenkten ihm bereitwillig Gehör. Dass ich bleiben konnte, verdanke ich der Solidarität einiger heute verstorbener Kollegen: Pierre Monbeig und Fernand Braudel, der mich mit der Autorität, die er bereits genoss, unterstützte. Ich habe 1985 daran in meiner Ansprache erinnert, als man ihm seinen Degen der Académie française überreichte.[6]
Sie sind in Brasilien geblieben, aber nicht sofort zu einer Expedition zu den Indianern aufgebrochen.
Gleich zu Ende des ersten Studienjahres. Anstatt nach Frankreich zurückzukehren, sind meine Frau und ich in den Mato Grosso zu den Caduveo und den Boróro gegangen.[7] Ich hatte jedoch bereits angefangen, mit meinen Studierenden Ethnologie zu treiben: über die Stadt São Paulo selbst und über die Folklore der Umgebung, mit der sich meine Frau eingehender beschäftigte.
Haben sich Spuren dieser Arbeiten erhalten?
Vielleicht in Gestalt der Nachforschungen, die ich meine Studierenden anstellen ließ. Vor einigen Tagen habe ich, nicht ohne Überraschung, einen kurzen Dokumentarfilm wiedergesehen, den wir bei einem Fest auf dem Lande gedreht hatten. Die Brasilianer haben ihn im Centre Georges-Pompidou gezeigt, zusammen mit allem, was von meinen bei den Caduveo und den Boróro gefilmten Dokumenten erhalten geblieben ist.
»Ich fühlte mich, als ob ich die Abenteuer der ersten Reisenden des 16. Jahrhunderts nacherlebte.«
Wie haben Sie sich gefühlt, als Sie Ihre ersten Erfahrungen bei der Feldforschung machten?
Ich war in einem intensiven geistigen Erregungszustand. Ich fühlte mich, als ob ich die Abenteuer der ersten Reisenden des 16. Jahrhunderts nacherlebte. Ich entdeckte die Neue Welt auf eigene Faust. Alles erschien mir märchenhaft: die Landschaften, die Tiere, die Pflanzen …
Sie haben also einige Monate Feldforschung gemacht, dann ein Jahr akademischen Unterricht.
… und in den folgenden Ferien sind wir nach Frankreich zurückgekehrt, 1936/1937, wenn es dort Sommer ist und hier Winter.
Und zu eben diesem Zeitpunkt haben Sie Ihre erste Ausstellung organisiert. Das war im Musée de l’Homme?
Nicht genau im Musée de l’Homme, weil gerade das alte Palais du Trocadéro für die Weltausstellung von 1937 restauriert wurde und eine einzige Baustelle war. Georges-Henri Rivière, dem ich zum ersten Mal begegnete, hat dafür gesorgt, dass die Galerie Wildenstein an der Kreuzung der Rue du...