Lutz | Menschsein im Krisengebiet | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 208 Seiten, Format (B × H): 225 mm x 155 mm

Lutz Menschsein im Krisengebiet

Erfahrungsbericht eines Gesundheits- und Krankenpflegers über die humanitäre Hilfe mit Ärzte ohne Grenzen (MSF) im Südsudan

E-Book, Deutsch, 208 Seiten, Format (B × H): 225 mm x 155 mm

ISBN: 978-3-456-96146-0
Verlag: Hogrefe AG
Format: PDF
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)



Humanitäre Hilfe und Krankenpflege im Südsudan

Ein Krankenhaus irgendwo im entlegenen Südsudan. Ein Ort, an dem das Leben der Menschen geprägt ist von bitterer Armut, Krieg, Gewalt, Klimakrise und täglichem Existenzkampf. Wie fühlt sich Menschsein unter diesen Bedingungen an? Was bewegt jemanden dazu, freiwillig dorthin zu gehen wohin niemand möchte?
Der Gesundheits- und Krankenpfleger Andreas Lutz nimmt Sie mit auf die Reise in ein Projekt der humanitären Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen (MSF) im nordöstlichen Südsudan. Beeindruckt von den Begegnungen mit Menschen, die unter den prekären Bedingungen dieses Krisengebiets leben, schreibt er von den Erfahrungen als Pflegender und wie


• Gesundheitsversorgung unter sehr limitierten Ressourcen funktioniert
• existenzielle Momente von Freude und Trauer den dortigen Krankenhausalltag prägen
• sich die Anwendung von Triage auf Betroffene und Gesundheitspersonal auswirkt
• die Corona-Pandemie 2020 den Südsudan erreicht
• wie Menschen versorgt werden, die unter Atemwegsinfekten, Diarrhoe, Malaria, Mangelernährung, Tetanus, Tuberkulose und Leishmaniose leiden
• Sinnerfüllung und Lebensfreude sich auch unter schwierigsten Bedingungen einstellen können
• sich die Schönheit und Einzigartigkeit des Lebens täglich neben großem Leid eigene Wege bahnt­­­­
• Extremsituationen Menschen zusammenwachsen lassen
• man sich einer anderen Kultur verbunden fühlt
• man ein tieferes Verständnis von Krisen und des eigenen Selbst entwickelt.

Mit persönlichen Fotos, Tagebucheinträgen und Zeichnungen aus dem Einsatzgebiet.
Lutz Menschsein im Krisengebiet jetzt bestellen!

Zielgruppe


Pflegefachpersonen, Nothelfer*innen, Entwicklungshelfer*innen


Autoren/Hrsg.


Weitere Infos & Material


1;Inhaltsverzeichnis und Vorwort;7
2;Einleitung;15
3;1 Ein Brief in die Heimat;17
4;2 Vom Ungewissen und Unvorstellbaren;23
5;3 Das Projekt;39
6;4 Wasser;47
7;5 Armut ist die tödlichste Erkrankung;63
8;6 Von einzigartigen Begegnungen im Krankenhaus;71
9;7 Geburtstagskinder;85
10;8 Mensch und Tier;95
11;9 Der Mond ist aufgegangen;103
12;10 Nyareath;121
13;11 Eine Welt – die Pandemie;133
14;12 Triage und Gerechtigkeit;145
15;13 Zahlen, Daten, Fakten, Mensch;159
16;14 Wir mögen uns im Frieden treffen;169
17;15 Handeln und Wirken;181
18;Literatur;195
19;Abku?rzungsverzeichnis, Autor, Sachwortverzeichnis;199


|15|1  Ein Brief in die Heimat
Lankien, Südsudan, Neujahr 2020. „Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt“, schrieb der österreichische Philosoph Ludwig Wittgenstein 1921 in seiner „Logisch-philosophischen Abhandlung“ (Tractatus logico-philosophicus, 1998, Satz 5.6) und ahnte damals sicherlich nicht, wie treffend diese Worte viele Jahre später einmal meinen Gefühlszustand zum Ausdruck bringen würden, während ich schwitzend in einer Lehmhütte sitzend diese Worte schreibe. So schreibe ich diese Worte in diesen Neujahrstagen in dem Bewusstsein, dass das Medium Sprache begrenzt ist, um euch, meinen vielen liebgewonnenen Menschen in der Heimat, ein Bild dessen vermitteln zu können, welche Eindrücke, Herausforderungen und Emotionen mich seit dem Beginn meiner Zeit im Südsudan begleiten. Zu einzigartig, drastisch, überwältigend und für mich bis vor kurzem auch unvorstellbar sind die Dinge, die ich hier erlebe, als dass sich dafür vollumfänglich geeignete Worte finden lassen würden. Seit Anfang Oktober lebe ich im Südsudan, schlafe in einer einfachen kleinen Lehmhütte mit Grasdach, sofern ich nachts nicht gerade durch das nebenan liegende Krankenhaus sause, um medizinische Nothilfe mit der humanitären Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen, weltweit auch unter dem französischen Namen Médecins Sans Frontières (MSF) bekannt, zu leisten. Geflogen bin ich in einer russischen Helikoptermaschine des Ernährungsprogramms der Vereinten Nationen, gelandet bin ich in Lankien, an einem einzigartigen Platz in Subsahara-Afrika und einem der größten Sumpfgebiete dieser Erde, welches sich durch heftige Regenfälle in den letzten Monaten auf dramatische Weise zu einer lebensfeindlichen Umgebung für die Menschen hier verwandelt hat. |16|Dieser Ort, einzigartig und unbeschreiblich, wirkt nach meiner Ankunft auf mich wie eine surreale Welt und es dauert einige Tage, bis die reale Dimension dieses von Armut, Krieg und Naturkatastrophen geprägten Ortes es zu mir vordringt. Wer mich jener Tage am anderen Ende der rauschenden Leitung über Internettelefonie gehört hat, mag sicherlich etwas ungewohnt wortkarge Konversationen erlebt haben. Seit 1993 leistet die humanitäre Hilfsorganisation Médecins Sans Frontières an diesem Ort medizinische Nothilfe. Einige meiner Kolleg*innen meinen scherzend, ich sei mit meinen 25 Jahren hier wohl der Erste, der damals noch nicht geboren war und heute schon mit der Leitung des Pflegedienstes inklusive der Patientenküche betraut ist. Damit einher geht für mich die täglich herausfordernde Aufgabe, alle pflegerelevanten Tätigkeiten und betrieblichen Abläufe innerhalb der Klinik zu koordinieren, der Verantwortung für 80 Mitarbeiter*innen in der Pflege gerecht zu werden und Patientensicherheit und Qualitätsmanagement zu gewährleisten. Wenngleich sich dieses Aufgabengebiet in vielen Punkten mit der Stellenbeschreibung der Pflegedienstleitung einer deutschen Gesundheitseinrichtung zu decken scheint, so ist mein Tun hier doch maßgeblich von den Herausforderungen geprägt, unter den Rahmenbedingungen von sehr limitierten Ressourcen, einem instabilen Sicherheitskontext und extremer klimatischer Bedingungen zu agieren oder auf der Suche nach dringend benötigten, lebensnotwendigen Medikamenten zunächst den metergroßen Waran mittels Strohbesen aus der Apotheke zu verscheuchen. So ist mir die Freude eines kurzweiligen Alltags stets garantiert. Für viele Menschen in dieser Region ist das Krankenhaus die einzige Möglichkeit, um medizinische Behandlung zu erhalten. Von Gesundheitsrisiken besonders betroffen sind Kinder, Schwangere und ältere Menschen, die unter Atemwegsinfektionen, Durchfallerkrankungen, Malaria, Mangelernährung, Tuberkulose, Verletzungen, viszeraler Leishmaniose oder anderen Tropenkrankheiten leiden. Über 9 von 100 Kindern im Südsudan erleben ihren fünften Geburtstag nicht, die durchschnittlich zu erwartende Lebenserwartung einer südsudanesischen Frau beträgt gerade einmal 59,4 Jahre, die eines Mannes sogar noch drei Jahre weniger (UNDP, 2020a). Der Anblick eines völlig ausgemergelten, tuberkulosekranken Patienten – so groß wie ich selbst und abgemagert auf 31 Kilogramm – brennt sich in mein Gedächtnis ein. Er liegt in einer einfachen räumlich separierten Hütte für infektiöse Patient*innen, während sich nebenan 19 Patient*innen und nochmals ebenso viele Angehörige einen einzigen Raum teilen und auf Besserung hoffen. Jener Raum besteht, wie die anderen |17|Gebäude auch, aus einer einfachen Metallkonstruktion mit einem Wellblechdach, unter dem so viele persönliche Schicksale, Bett an Bett mit einem Abstand von jeweils gerade einmal nur einem Meter, vereint sind. Um die Patientenversorgung in dem Krankenhaus mit 80 Betten zu ermöglichen, sind meine sehr geschätzten 15 internationalen Kolleg*innen aus den Bereichen Medizin, Pflege, Logistik, Technik, Verwaltung, Wasser und Sanitär sowie circa 340 weitere nationale Mitarbeiter*innen, mit welchen ich sehr gerne zusammenarbeite, im Einsatz. Schnell merke ich, wie sehr der tägliche Existenzkampf das Leben der Menschen diktiert. Kurz nach meiner Ankunft setzt heftiger Starkregen ein, der das Land noch weiter überflutet. Mitarbeiter*innen erscheinen nicht zur Arbeit, aus Sorge um ihre vom Ertrinken bedrohten Kinder und um ihre einfachen Unterkünfte zu retten. Die Flutkatastrophe beeinflusst die Aktivitäten im Krankenhaus maßgeblich, kein Flugzeug wird für zwei Monate mehr landen können, wichtige Medikamente und Materialien bleiben aus. Es schmerzt ungemein, diese ohnehin so vulnerable Bevölkerung unter dieser Katastrophe so leiden zu sehen. Die Menschen haben kein sauberes Trinkwasser, die Ernten der hungernden Bevölkerung sind nun bereits vor Beginn der Trockenzeit zerstört, die Moskitos vermehren sich rasch, die Malaria grassiert, das Vieh, die Lebensgrundlage der Menschen und Zahlungsmittel, findet kein Futter mehr, wird krank oder verendet. Die Ursache der meisten tödlichen Erkrankung ist kein Malariaparasit, ist nicht die giftige Schlange, die in den Fluten lauert, es ist die Armut. Ich bin mir bewusst, beim Schreiben dieser Worte das subjektive Bild einer Welt zu zeichnen, welches mit reiner Vorstellungskraft beim Lesen sicherlich nur schwer zu erfassen sein mag. Besonders gefreut hat mich in den letzten Tagen die Geschichte eines zehnjährigen Jungen, der von schwerer Malaria und Tetanus geplagt in der Nacht von seinen Angehörigen herbeigetragen wurde. Sein Zustand verschlechtert sich auf dem langen Fußmarsch in unsere Klinik. Als er ankommt, verliert er das Bewusstsein, hat einen schweren generalisierten Krampfanfall mit einhergehendem Atemstillstand. Eine Erkrankung in diesem Schweregrad ist unter den hier gegebenen Rahmenbedingungen ohne intensivmedizinische Möglichkeiten wie Beatmung oder Dialyse in aller Regel das Todesurteil. Wir beatmen ihn einige Zeit manuell mit einem Beatmungsbeutel, begleitet von den verzweifelten Schreien der Mutter. Bis in die frühen Morgenstunden folgt ein langer Kampf um das Leben des Kindes, den es nach einigen weiteren Tagen in komatösem Zustand tatsächlich gewinnt. Den Anblick des erwachten Kindes, wie dieser Bub am Weihnachtsmorgen im Bett unter der Decke neben |18|seiner Mutter liegt und die Augen aufschlägt, dieses Bild seiner dankbaren Mutter, deren Kind weiterleben darf, das hat mich zutiefst berührt. Zu einzigartig, drastisch, überwältigend und für mich bis vor kurzem auch unvorstellbar sind die Dinge, die ich hier erlebe, als dass sich dafür vollumfänglich geeignete Worte finden lassen würden. Nein, nicht jede Geschichte findet hier ein glückliches Ende. Der Tod ist allezeit gegenwärtig, wir müssen häufig verstorbene Menschen betrauern, deren Zahl ich aufgehört habe zu zählen. Erzählen möchte die Geschichte eines jungen Mannes. Er leidet an einer parasitären Tropenerkrankung, viszerale Leishmaniose, das sogenannte schwarze Fieber, das sein Immunsystem geschwächt und seine Blutbildung gehemmt hat, als er bereits schwer krank stationär aufgenommen wird. Sein Zustand verschlechtert sich trotz aller Bemühungen weiter und er verliert irgendwann das Bewusstsein. Kurz darauf stirbt er. Ich erinnere mich an seine Mutter, die im Moment seines Todes zusammengesunken vor dem einfachen Bett ihres toten Kindes sitzt. Diese unsägliche Verzweiflung...


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