Lutz | Keinen Seufzer wert | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 240 Seiten

Lutz Keinen Seufzer wert

Roman
1. Auflage 2017
ISBN: 978-3-03855-118-8
Verlag: Limmat Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 240 Seiten

ISBN: 978-3-03855-118-8
Verlag: Limmat Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Auf dem Schafberg bei Signau im Emmental wohnt der Bauer Res Schlatter, ein frömmlerischer wie geiziger Betbruder. Seit er Vater und Schwestern vertrieben hat, haust er allein. Im Februar 1860 erkundigt sich ein entfernter Verwandter bei ihm, ob ein Logis zu vergeben wäre, der Wyssler Jakob, ein arbeitsloser Schuhmacher und Taglöhner mit Frau und drei Kindern. Schlatter fasst Vertrauen und geht darauf ein. Aber bald beginnen Schwierigkeiten. Der Mietzins ist überrissen. Wyssler hat die versprochenen Geissen nicht mitgebracht. Schlatter überlässt ihnen nur schlechtes Ackerland. Dauernd argwöhnt er, bestohlen zu werden, da können die hungernden Wysslers ja gleich das eine oder andere nehmen, er hält sie sowieso für Diebe. Geredet wird kaum, und so steigen die Spannungen im Haus bis ins Unerträgliche. Es endet ein Jahr später in Totschlag und öffentlicher Hinrichtung vor Tausenden von Zuschauern. "Keinen Seufzer wert" ist ein eindringlicher Roman über weltverachtenden Glauben, über Engherzigkeit und Selbstgerechtigkeit und nicht zuletzt über die Katastrophe der Sprachlosigkeit.

Barbara Lutz, 1959 in Dornbirn geboren, studierte Ethnologie in Wien und Bern. Arbeitete und forschte auf verschiedenen Kontinenten, in der Entwicklungszusammenarbeit und im Migrationsbereich. Barbara Lutz lebt bei Bern.
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Hornung 1860


«Seit gestern wieder kalt, es liegt viel Schnee.»

Schlatter Res wartet, während die engen, steilen Buchstaben trocknen, klappt dann das Notizbüchlein zusammen und räumt es in die Tischschublade. Das Vieh versorgt, Tenne und Stall verriegelt, die Haustür verschlossen. Es sind ihm dies die liebsten Stunden des Tages.

Wenn die Ruhe andauert. Wenn nicht draussen plötzlich Schritte zu vernehmen sind und flüsternde Stimmen, nächtlicher Besuch.

Schlatter Res horcht in die Stille.

Selbst wenn sie kommen, wird er sich heute zu nichts verleiten lassen. Er wird nicht das Fenster öffnen, um hinauszubrüllen, sie sollen verschwinden. Nicht einmal hinter der Türe stehen, um zu lauschen, was draussen vor sich geht. Auch wenn sie sich ums Haus herumtreiben. Nehmen können sie ihm nichts, es wäre denn vom Brunnenwasser.

Am besten ist es, wenn er sie nicht bemerkt. Res lärmt absichtlich laut, hackt Holzspriesse, schleift seine Holzbodenschuhe flach über den Küchenboden und scheppert mit der Milchpfanne. Im Stehen trinkt er etwas warme Milch und isst ein Brot dazu. Ins Haus werden sie sich niemals wagen.

Res nimmt Mutters Gebetsheft und die Öllampe und setzt sich damit auf den kalten Ofentritt. Seit draussen untertags die Frühlingssonne scheint, lässt er das Heizen bleiben. Er streckt sein böses Bein auf der Ofenbank aus und reibt die verknoteten Adern, die an seinen weissen, mageren Waden hervorquellen. Aber sein Reiben verstärkt das lästige Ziehen. Dass er auf die Fünfzig zugeht, spürt er an solchen Tagen. Die Hose ist feucht vom Schnee, und an den Rändern klebt Mist.

«Die ganze Welt ist keinen Seufzer wert», Res blättert in Mutters Heft mit den Gebeten, «aber vom Morgen bis am Abend ist die Gnade da, mit jedem Morgen neu, und das Liebeserbarmen in Christo.» Wer den Herrn im Herzen trägt und danach lebt, ist den Menschen zuwider. Res weiss, auch anderen aus der Versammlung passen sie am Heimweg ab, bei ihm aber kommen die Vaganten bis zum Haus, seit er alleine wohnt. Seine Schwestern behaupten freilich, sie seien nur in seinem Kopf. Wohl, aber als er vor ein paar Wochen das Läufterli geöffnet und in die Nacht hinausgehorcht hat, kam ein Drecksklumpen geflogen. Res fürchtet sich vor jungen Burschen, Taglöhnern und durchziehenden Knechten.

«Kehre dich jetzt nur immer einwärts ins Herz zum Heiland, dort bekommst du alles, was du nötig hast.» Eine grosse Sehnsucht ergreift Res. Er kann den künftigen Glanz um sich fühlen und die Wärme spüren. Er wird Geborgenheit finden, denn sein Leben ist darauf ausgerichtet, dem Herrn zu gefallen.

Res klappt das Heft zu und geht über die Laube nach hinten in den Stall, um Wasser zu lassen. Während er seinen Strahl in den Schorgraben richtet, erhebt sich eine der beiden Kühe schwerfällig und sieht ihm dabei zu. Die Mütze in den Händen, betet Res daraufhin noch um das Wohl der Tiere und segnet sie. Schliesslich überprüft er ein letztes Mal Riegel und Schlösser, bevor er, zurück in der Stube, auf den Ofen steigt. Durch das Bodenloch zieht er sich hinauf in den Gaden, wo er schläft. Res taucht gerade seinen Kopf durch das Loch, als er im flackernden Licht der Öllampe eine Gestalt erblickt. Lang ausgestreckt liegt einer auf seinem Bett.

Res blinzelt, und die Gestalt ist weg. Immer wieder passiert ihm das, im Gaden, im Tenn oder im Stall, und er weiss nicht, ob es seine Augen sind.

Die ungewaschenen Laken, in die Res steigt, nachdem er die immer noch feuchte Stallhose, nicht aber das Hemd, ausgezogen hat, sind leer und kalt.

Den nächsten Tag verbringt Schlatter Res im Keller, vor sich einen klafterhohen Berg staubiger Kartoffeln. Er sitzt auf dem Melkschemel und nimmt die Knollen einzeln in die Hand, um Triebe wegzubrechen. Dass die jetzt keimen müssen, viel zu früh, der warme Jänner wird schuld sein. Das Licht aus der russigen Öllampe reicht kaum aus, um zu sehen, was er macht. Aber die Kellertür will er nicht offen halten, es gefrieren ihm sonst die Zwiebeln. Der Kartoffelhaufen ist heuer grösser als in manchem Jahr. Auch Äpfel sind noch viele, die bleiben aber nicht mehr lange gut.

Das Alleinsein macht Res nichts aus. Am liebsten sind ihm die Tage, an denen sich keiner zeigt. Nicht einmal den Nachbarn ist zu trauen, kaum kehrt er ihnen den Rücken, treiben sie sich auf seinem Land herum. Nachts laufen sie in den Obstgarten, um Äpfel und Birnen zu stehlen. Es nützt nichts, ihnen hinterher zu fluchen und zu drohen. Sie lachen ihm geradewegs ins Gesicht und behaupten, sie seien auf der Suche nach einem verirrten Kalb, wenn er sie hinterm Haus erwischt, wo sie Eier stehlen oder ein Huhn. Und wer weiss, wird eines Tages einer grob und tut ihm etwas an.

Trotzdem muss er sich in Kürze nach Gehausleuten umsehen, die ihm beim Zinsen helfen. Eine Verwandte aus Ursenbach hat fragen lassen, ob Platz wäre, und es sollte sich bald einer zeigen von deren Leuten.

Um die Mittagszeit tritt Res hinters Haus und blickt den Hang hinauf zum Wald, von wo er Stimmen hört. Am Horizont, zur Multenweid hin, sieht er eine fremde Gestalt über die Wiesen gehen. Die Fussstapfen auf dem Weg vom Graben zum Haus sind aber bloss seine eigenen. Hinter dem Stall haben die Schafe den Schnee zertreten und bräunlich gefärbt. Noch immer liegt Schnee und ist die Erde nass. Wenn sich jetzt aber bald einmal die Sonne durchsetzt, muss alle Arbeit auf einmal getan werden. Res geht in die Küche, wo er von der Milch und vom Mus nimmt und sich damit in seine Stube setzt.

Der Weg von Steinen hinauf zum Schafberg ist beschwerlich, die Strasse schlickig und steil. Wyssler Jakob ist seit gestern unterwegs, den Weg von Ursenbach hierher hat er zu Fuss gemacht. Nun keucht er am steilen Hang. Je näher er dem Schafberg kommt, umso ungeduldiger wird er. Jakob sucht ein Logis für sich und seine Familie. Bei Schlatter Res, der alleine auf dem Schafberg wohnt, sei Platz vorhanden.

Merkwürdig nur, denkt Jakob, während er zügig bergan steigt, dass seine Frau den Schlatter Res erst jetzt erwähnt hat. Ein Verwandter, der allein einen Hof bewirtschaftet und Mietsleute sucht. Als ob sie in den vergangenen Jahren, Hungerjahre allesamt, nicht auch schon froh gewesen wären um ein günstiges Logis.

Jakob denkt auch an die Stille gestern Abend in der Stube von Schlatter Res’ Schwestern, als er sich nach deren Bruder erkundigt hat. Die drei alten Jungfern wohnen mit ihrem greisen Vater in Signau, und Jakob hat bei ihnen übernachtet. Es heisst, der Schlatter Res habe sie mitsamt dem eigenen Vater aus dem Haus gejagt und nach Signau in Miete getrieben. Davon war gestern Abend aber nicht die Rede, als er mit den Frauen in ihrer engen Stube sass. Man sprach über die Verwandtschaft im Allgemeinen. Dann hat sich Jakob nach dem Weg auf den Schafberg erkundigt und gefragt, was ihn dort erwarte. Daraufhin die Stille. Die Schwestern blieben zum Bruder wortkarg, bis auf Maria, die ihn zänkisch nannte. Als sie das sagte, beobachtete sie Jakob aus den Augenwinkeln.

Ob zänkisch oder nicht, Jakob braucht eine Wohnung für seine Familie und Arbeit für sich selbst.

Auf dem erdigen Weg voller Pfützen rächt sich die ungeflickte Naht an seinen Schuhen. Wasser dringt ein und nässt die Socken. Obschon der Vormittag weit fortgeschritten ist, sieht Jakob in der Düsterkeit des Waldes kaum bis zur nächsten Wegkehre. Trübe ziehen sich die Bäume über ihm zusammen und es tropft ihm auf Kopf und Kragen. Als er hochsieht, fliegt eine Schar Krähen auf. Er muss den Schlatter dazu bringen, ihm die Wohnung zu geben. Während Jakob sich den steilen Weg hinaufmüht, beschleicht ihn Furcht, mit dem alten Mann nicht handelseinig zu werden. Das unsichere Gefühl in seinem Magen kommt aber bestimmt auch vom Hunger.

Jakob erreicht die Höhe und gelangt endlich auf freies Gelände. Hier oben, nur wenige Schritte hinter dem Altschloss, weitet sich der Blick. Jakob bleibt stehen und besieht sich die Gegend, Hügel, Schwenden und bewaldete Kuppen, Bauernhöfe mit rauchenden Kaminen. Jemand schlägt Holz. Der Tag ist kühl und wolkenverhangen, aber die Weiden am Wegrand tragen erste Kätzchen. Jakob geht die Bergkuppe entlang weiter, bis er unter sich im steilen Gelände den Schafberg erblickt. Umgeben von Wald drückt sich der Hof an einen abschüssigen Hang. Jakob sieht Weideland, Pflanzungen, Obstbäume. Hier also wohnt Schlatter Res, allein im Bauernhaus, das eine Familie samt Magd und Knecht aufnehmen könnte. Er hat recht getan, hierher zu kommen. Gottlob hat die Frau vom Schafberg gesprochen. Als er über die Wiesen zum Haus hinuntersteigt, drückt eine blasse Sonne durch die Wolken. Es wird sich zum Guten wenden.

Rund ums Haus ist alles still, und schüchtern klopft Jakob an die Haustür. Nichts regt sich. Während er nochmals klopft, ruft er laut, ob einer da sei. Schliesslich öffnet er die Tür um einen Spalt, die Küche ist leer.

«Jemand zu Hause?», fragt er in die Stille.

Von der anderen Hausseite her ist ein leises Geräusch zu vernehmen, ein Kratzen aus der hinteren Stube. Laut grüssend betritt Jakob die Küche und bleibt stehen. Als keiner kommt, geht er vorsichtig weiter und streckt schliesslich den Kopf in die Stube.

Ein alter Mann sitzt dort im Dämmerlicht. Misstrauisch starrt er Jakob entgegen, während er ungerührt etwas aus einer Schüssel löffelt. Jakob grüsst und bleibt im Türrahmen stehen.

Schlatter sagt nichts, er isst weiter. Jakob betritt die Stube und lehnt sich an den Rand der Ofenbank.

«Es ist wegem Logis?», fragt Schlatter schliesslich in die Stille.

Jakob bejaht. Als nichts mehr folgt, setzt er sich auf den Ofen, die Kutte auf den...



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