Lunding | Ein schwerer Fall von Liebe | E-Book | www2.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 256 Seiten

Lunding Ein schwerer Fall von Liebe

Roman
1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-423-43522-2
Verlag: dtv Verlagsgesellschaft
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)

Roman

E-Book, Deutsch, 256 Seiten

ISBN: 978-3-423-43522-2
Verlag: dtv Verlagsgesellschaft
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



»Eine schlechte Pizza ist besser als gar keine Pizza.« Elvira Gregersen ist 39 Jahre alt, bringt 148 Kilo auf die Waage und arbeitet am Empfang eines Bordells. Davon darf allerdings das Jobcenter nichts wissen, denn offiziell ist sie arbeitslos. Obwohl es das Leben wahrlich nicht gut mit ihr meint, meistert sie ihr Schicksal - mit einer guten Portion Selbstironie und ohne ein Wort des Jammerns. Bewaffnet mit Pizza und buntem Nagellack trotzt Elvira allen Widrigkeiten. Als Henry auf der Bildfläche erscheint, fängt ihre dicke Schale sogar an, ein wenig zu bröckeln. Und zum Vorschein kommt: Elviras riesengroßes Herz.

Anne-Sophie Lunding wurde 1969 geboren und studierte Film- und Medienwissenschaften. Sie war als Lektorin und Mitarbeiterin bei einer dänischen Entwicklungshilfeorganisation in Nepal tätig. Außerdem arbeitete sie als Autorin für ein Fernsehquiz.
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1.


Ich bin mir nicht sicher, ob »süß« oder »frech« das richtige Wort ist, aber an der Stimme des Mannes erkenne ich, dass er ein Neuling ist, und darum entscheide ich mich für »süß«. Bevor ich ihm antworte, schiebe ich den Kekskaramellklumpen mit der Zunge auf die Seite, damit man nicht hören kann, dass ich den Mund voll habe. Diese Technik beherrsche ich mittlerweile relativ gut.

»Wir haben heute eine ganz Süße hier, sie heißt Candy.«

»Okay.«

»Vielleicht hast du sie ja schon auf unserer Homepage gesehen?«

»Nein, das habe ich nicht.«

Dann ist er über die Anzeige im auf uns aufmerksam geworden. Ich drehe das Mikrofon meines Headsets weg und kaue in einer Affengeschwindigkeit den Kekskaramellklumpen kleiner, spüre, wie mir der Speichel aus dem Mundwinkel läuft. Ich schlucke runter und wische die Schmiere weg, schiebe das Mikrofon zurück an seinen Platz.

»Candy ist eine exotische Schönheit und süße dreiundzwanzig Jahre alt. Sie ist schlank und zierlich mit festen B-Körbchen-Brüsten, hat einen prallen, kleinen Hintern und eine enge, glatt rasierte Muschi. Ihre Haut ist milchkaffeebraun, und sie hat lange schwarze Haare.«

»Okay.«

In Wirklichkeit habe ich keine Ahnung, wie alt sie ist, eigentlich sieht sie sogar jünger aus als dreiundzwanzig. Aber wer weiß das schon so genau, ich hatte schon immer Schwierigkeiten, das Alter von Leuten zu schätzen. Ich habe mir für jedes der Mädchen einen kleinen Verkaufstext ausgedacht, den ich je nach dem Bedürfnis, das ich im Gespräch mit dem Kunden heraushöre, ändern kann. Das kann ich gut, ich spüre, was sie wollen, außerdem liegt das auch an meiner Stimme, die klingt nett und unverfänglich, und darum fühlen sich die Männer gut aufgehoben.

»Hast du Sonderwünsche?«

Er zögert etwas mit seiner Antwort.

»Nur ganz normal eben?«

»Candy bietet einen tollen Cocktail, am Anfang ein bisschen Französisch und danach Dänisch.«

»Wie, Dänisch, hihi, was ist das denn?«

»Verkehr in der Missionarsstellung.«

»Okay, klar.«

Wir vereinbaren einen Termin, dann nenne ich ihm die Summe und unsere Adresse. Heute Morgen lagen schon wieder Krümel auf dem Tisch und ein leerer Eiscremebecher auf dem Küchenfußboden. Cream Cheese. Aber ich will da jetzt nicht drüber nachdenken, darum greife ich nach meinem Lion, verabschiede ihn mit den Worten »Dann freuen wir uns auf deinen Besuch!« und will mir gerade das letzte Stück von dem knusprigen Keks mit klebriger Karamellmasse, umhüllt von einer dicken Schicht Vollmilchschokolade, in den Mund schieben, als ihm noch eine Sache einfällt.

»Ja?«

»Ich wollte nur wissen, ob ich sie küssen darf?«

Ich hole tief und absolut geräuschlos Luft.

»Hier ist es so, dass keines der Mädchen küsst. Und wir bestehen auch darauf, dass unsere Kunden alle Kondome benutzen. Es geht vorrangig um die Sicherheit. In erster Linie um die unserer Kunden. Das wirst du doch sicher verstehen?«

»Ja, natürlich. Entschuldige, dass ich gefragt habe.«

Ich beende das Telefonat, schüttele den peinlichen Moment ab und widme mich ganz und gar der Schokolade. Immer mehr Kunden wollen küssen oder fragen sogar nach Superfranzösisch, oral ohne Gummi, oder auch Supergriechisch oder Superdänisch. Auf der Straße können sie das alles bekommen, von den Junkies oder den Mädchen, die mehr oder weniger freiwillig importiert worden sind. Allerdings sind in letzter Zeit auch in den Boulevardzeitungen und im Netz Anzeigen aufgetaucht, in denen mit gratis Zungenküssen und Superfranzösisch in »Schönheitssalons« und anderen Etablissements geworben wird. Die Konkurrenz wird immer härter. Auch bei uns im Keller mussten wir schon ein paarmal die Preise senken. Der Zustrom von Frauen aus den lausigsten Ecken der Welt nach Dänemark ist endlos. Sogar unsere Mädchen hier haben immer wieder mal Küsse in ihrem Sortiment, für einen extra Hunni. Aber solange da niemand drüber spricht, tue ich so, als wüsste ich von nichts. Ich will so wenig wie möglich davon erfahren, was hinter den Türen vor sich geht. So ist es am besten.

Aber der Gedanke lässt mich nicht los, kommt immer wieder, während ich die Zimmer überprüfe, kontrolliere, ob die Duschen ordentlich geputzt wurden, die Betten frisch bezogen sind, ausreichend Kondome und Gleitcreme in den Schubladen der Nachttische liegen und ob der Psychopathenknopf funktioniert. Der wurde das letzte Mal benutzt, als ein vierzigjähriger Typ, von der Sorte gut aussehender Familienvater mit ECCO-Schuhen und Fahrradhelm, Katarina gewürgt hat. Ihr gelang es gerade noch, den Knopf zu drücken. Das war in meiner Schicht, und ich brauchte ein bis zwei Sekunden, bis ich reagiert habe, bis mein Gehirn die Bedeutung des Alarmsignals begriffen hat, aber dann habe ich mir die Eisenstange gegriffen, die unter dem Tresen liegt, und habe die Zimmertür aufgerissen. Er saß auf ihr drauf und würgte sie mit beiden Händen, ihre Zunge hing ihr aus dem Mund, und die Augen waren groß wie Kugeln und sahen aus, als würden sie ihr gleich aus dem Kopf springen. Ich schlug auf ihn ein, auch als er schon längst von ihr abgelassen hatte, und hörte erst auf, als ich Køsters Arme spürte, mit denen er mich festhielt und mir dann die Eisenstange aus den Händen nahm. Hinterher erzählte er, dass ich dabei wie irre geschrien habe. Und dass ich wie jemand geklungen habe, mit dem man sich besser nicht anlegt. Als Katarina am nächsten Tag zur Arbeit kam, trug sie einen hochgeschlossenen Spitzenbody, der die Würgemale verdeckte. Mir brachte sie einen ganzen Othellokuchen mit. Ich liebe diese Marzipantorten mit Vanillecreme und Schokoladenüberzug.

Das Kussverbot ist eine ganz alte Regel. Auch Anne Grethe hat es nie gemacht. Als sie noch aktiv im Dienst war, kamen viele Kunden mit Sonderwünschen. Sie hatte nämlich die Sorte von Verrichtungen im Angebot, die sehr beliebt, aber nur bei wenigen zu bekommen waren, sowohl mit Urin als auch mit dem anderen, was noch viel schlimmer ist. Aber küssen, darauf hatte sie überhaupt keine Lust, das war eindeutig ihre Grenze. Eigentlich sonderbar, dass es ein so großer Unterschied zu sein scheint, ob man einen Schwanz oder eine Zunge im Mund hat, ich glaube, ich würde Letzteres vorziehen. Obwohl. Da fällt mir ein. Dieser große alte Mann, der immer tadellos angezogen ist, mit Hemd und Krawatte, seine dünnen Haare alle nach hinten gekämmt trägt und nach Brillantine duftet, aber wenn er den Mund aufmacht, eine Reihe von dunkelgelben Zähnen in dunkelgrauem Zahnfleisch entblößt.

Das erinnert mich an das Spiel, das ich mit Sixten gespielt habe, als wir klein waren. Man stellt sich immer »oder«-Fragen, wie »Was willst du lieber: eine Tasse Blut trinken oder was Verbotenes machen?« oder »Willst du lieber ertrinken oder verbrennen?«. Ich muss lächeln bei dem Gedanken daran, wie Sixten immer bis zum Äußersten gegangen ist, und wenn man so dumm war, seine Antwort infrage zu stellen, konnte man sicher sein, dass er es einem beweisen wollte, und das ging dann meistens schief. Und wenn ich an Sixten denke, meinen Sixten, dann spüre ich diese Unruhe im Bauch, ich wische mir schnell mein dämliches Grinsen aus dem Gesicht, öffne den Kühlschrank und hole mir eine Dose Sprite raus, lege den Kopf in den Nacken und lasse das süße, sprudelnde Getränk meine Kehle hinunterfließen. Danach setze ich die erste Wäsche des Tages auf, Kochwäsche, Laken und Handtücher von gestern. Ich höre, wie die Maschine mit einem Klick ihre Arbeit aufnimmt, und setze mich wieder an meinen Platz vor dem Computer. Acht Besucher sind im Moment auf der Webseite unterwegs, das ist ganz ordentlich so früh am Tag, vielleicht wird es ja einer dieser Tage mit viel Kundendurchlauf, dann vergeht die Zeit schneller, denn das wünsche ich mir, weil ich merken kann, dass ausgerechnet heute so ein Tag mit schweren Gedanken ist, die mich überfallen und an Orte bringen, die ich lieber vermeiden will. Wie die Tatsache zum Beispiel, dass ich ganz offensichtlich heute Nacht schon wieder auf war, ohne mich daran erinnern zu können.

Jemand ist am Eingang. Die Kunden müssen klingeln, ich kann sie mithilfe der kleinen Kamera über der Tür auf meinem Bildschirm sehen, aber die Mädchen haben die Nummer für den Türcode. Ich hatte auf dem Schichtplan nachgesehen und eigentlich Candy erwartet, aber es ist Katarina. Sie wischt ihre kleinen Schuhe gründlich an der Fußmatte ab, während sie sich aus ihrem riesigen grauen Schal wickelt. Ihr Gesicht, mit den großen blauen Augen, sieht ganz nackt aus, so ungeschminkt. Sie lächelt sparsam und sieht, mit krummem Rücken und den fast mausgrauen Haaren, die eng am Kopf anliegen, wie ein kleines, verletzliches Tier aus.

»Ich dachte, Candy würde kommen.«

»What?«

Sie spricht und versteht kaum Dänisch. Nur die nötigsten Wörter, Zahlen und Regeln. Kundendänisch nennen wir das. Ich frage sie auf Englisch, ob sie Candy gesehen hat, und sie hebt eine schmale gezupfte Augenbraue, denn das hat sie selbstverständlich nicht. Candy ist für die erste Schicht heute eingetragen und sie ist in der Regel immer pünktlich. Aber es ist auch nicht ungewöhnlich, dass die Mädchen plötzlich verschwinden. Schon gar nicht, wenn sie aus dem Ausland kommen und jemandem viel Geld schulden. Was für die meisten zutrifft. In der Regel werden sie von Haus zu Haus geschoben, von Stadt zu Stadt. Frische Gesichter und frisches Fleisch verkaufen sich einfach besser. Wenn das Neue verflogen ist, können sie in ein neues Etablissement in einer anderen Stadt gebracht werden.

Ich sitze gerne hinten mit den Mädchen zusammen, quatsche mit ihnen und sehe mir die Fotos ihrer Kinder an. Aber ich achte darauf, nicht...


Lunding, Anne-Sophie
Anne-Sophie Lunding wurde 1969 geboren und studierte Film- und Medienwissenschaften. Sie war als Lektorin und Mitarbeiterin bei einer dänischen Entwicklungshilfeorganisation in Nepal tätig. Außerdem arbeitete sie als Autorin für ein Fernsehquiz.

Anne-Sophie Lunding wurde 1969 geboren und studierte Film- und Medienwissenschaften. Sie war als Lektorin und Mitarbeiterin bei einer dänischen Entwicklungshilfeorganisation in Nepal tätig. Außerdem arbeitete sie als Autorin für ein Fernsehquiz.



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