E-Book, Deutsch, 320 Seiten
Lüpkes Taubenkrieg
1. Auflage 2011
ISBN: 978-3-423-40832-5
Verlag: dtv Verlagsgesellschaft
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)
Kriminalroman
E-Book, Deutsch, 320 Seiten
ISBN: 978-3-423-40832-5
Verlag: dtv Verlagsgesellschaft
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)
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Die Eins
steht als Zahl für den Anfang und die Einmaligkeit
Der Tatort ist eine Landschaft. Unberührte Natur, wenn man ihn vernünftig abgesperrt hat. Chaotisches Dickicht oder unwegsames Gelände. An einigen Stellen aber auch aufgeräumt, übersichtlich, nahezu einladend: Komm her und erforsche mich. Hier ist vieles verborgen. Und wenn du bereit bist, dich auf meine Fährten zu begeben, erzähle ich dir vielleicht auch meine Geschichte. Doch pass auf! Bewegst du dich zu eilig, werden einige Dinge für immer verborgen bleiben. Lässt du dir aber zu lange Zeit, wird vieles von dem, was es zu entdecken gilt, überwuchert. … Fast hätte Wencke mit der Hacke ihres Turnschuhs den rußigen Fleck auf dem Holz verwischt. Flecken sah man unzählige, wenn man nach unten schaute: kalligraphische Linien fast, die Wassertropfen auf den Dielen hinterlassen hatten, neben schwarzen Kreisen aus Motoröl und grünen Farbklecksen, die beim Streichen der Decke heruntergetropft sein mussten. Alles alte Spuren. Doch die Asche war frisch. Genauso frisch wie der größte Fleck von allen, der sich so ziemlich genau in der Mitte des Bootsschuppens ausbreitete. Ein braunroter See, an den meisten Stellen bereits in der Maserung versickert, nur auf den Astlöchern der Fußbodenbretter lag das Blut noch nass und glänzend. Wencke richtete sich wieder auf. »Sie haben zusammen geraucht.« Kriminalhauptkommissar Wachtel schaute durch die fast blinden Scheiben nach draußen, als sei ihm das alles hier zu blöd. »Rocker rauchen immer und überall.« Die Augen hinter den starken Brillengläsern waren so schmal, dass man nicht erkennen konnte, ob er wirklich etwas beobachtete oder nur den Blickkontakt zu vermeiden suchte. »Und alles«, ergänzte er schließlich. »Im Aschenbecher auf dem Tisch liegen vier filterlose Kippen. Und auf dem Boden wurde dieselbe Anzahl ausgedrückt.« Wencke beugte sich noch einmal nach unten, auch wenn der Geruch geronnenen Blutes unangenehmer wurde, je weiter man sich dem Boden näherte. »Es sieht zumindest danach aus. Vier Ascheflecken. Aber die Zigarettenstummel sind nicht da. Oder hat die Spurensicherung die Beweise schon …« »Wir haben alles fürs Erste so gelassen, Frau Tydmers. Wie besprochen. Meine Männer sind keine Dilettanten.« Man sah dem Leiter der Schweriner Mordkommission deutlich an, dass er sich wenig von dem versprach, was Wencke Tydmers und ihr Kollege Boris Bellhorn hier trieben – sie im Innenbereich, Bellhorn war gerade auf dem Außengelände beschäftigt. Wahrscheinlich würde Wachtel in den nächsten Minuten einen Satz sagen wie: »Operative Fallanalyse klingt für mich nach Hokuspokus« oder: »Die deutsche Polizei ist jahrelang gut damit gefahren, akribisch die Spuren am Tatort auszuwerten, was brauchen wir also Leute, die versuchen, in den ganzen Scheiß noch was hineinzuinterpretieren?« Vorerst aber begnügte er sich mit einem eindrucksvoll-muffigen Gesichtsausdruck. »Wie lange hat die Spurensicherung gebraucht, das gesamte Chaos zu archivieren?« »Schauen Sie sich doch um. Mit ein, zwei Stunden ist da keinem geholfen …« Er selbst schaute sich überhaupt nicht um, sondern ließ seinen Blick lieber schweifen: nach draußen, wo keine zwei Meter entfernt der Pinnower See lag, mit Enten und Libellen und Seerosenblättern auf der spiegelglatten Wasseroberfläche und mannshohem Schilfgras am Ufer. Schön war der Anblick hier drinnen wirklich nicht. Es gab kaum etwas, das so aussah, als befände es sich an dem ihm zugedachten Platz. Lediglich der Aschenbecher stand noch auf dem Tisch und die zwei leeren Literflaschen, in denen sich ursprünglich Mineralwasser befunden hatte. Gerade die Dinge, die noch an Ort und Stelle waren, interessierten Wencke. Doch das Chaos ringsherum war fast übermächtig. Die beiden Ruderboote, für die diese Hütte gebaut worden sein mag, waren wahrscheinlich schon länger nicht mehr in Gebrauch. Sie vermittelten den Eindruck, dass man mit ihnen bestenfalls bis zur Seemitte gelangte, für den Rückweg brauchte man aber schon großes Glück und müsste mindestens mit nassen Füßen rechnen. Das kleinere, blau gestrichene Boot schob sich längsseits auf die Werkbank, und der rostige Griff einer Schraubzwinge war durch die Planken gedrückt worden. Das Größere – ursprünglich mochten bis zu sechs Personen darin Platz gefunden haben – war im vorderen Drittel komplett zertrümmert. Die passende Axt lag daneben, der scharfe Metallkopf hatte sich im Eifer des Gefechts vom Griff gelöst. Die Farbeimer, Abdeckplanen, Taue und Netze, die sich ringsherum im Raum verteilten, hatten sich vermutlich zuvor auf dem Regal gestapelt. Derjenige, der das eigentlich stabil wirkende Metallgestell aus der Wand gerissen hatte, war mit Sicherheit kein Spargeltarzan. Und der Außenbordmotor war ihm als Wurfgeschoss auch nicht zu massiv erschienen, das altersschwache Ding hing halb auf dem Tisch, farbig schillerte das Altöl, das zäh von den Rotorblättern tropfte. Ein Tatort brauchte keine Leiche, um schrecklich zu sein. Aber mit Leiche war er bei Weitem übersichtlicher. Dann wusste man wenigstens genau, wo das Zentrum lag. Ein Toter bot so etwas wie Orientierung. Da ist der Kopf, da sind die Beine. Gibt es Strangulationsfurchen, muss man nach einem Strick suchen. Bei Schusswunden läuft die Fahndung nach dem Projektil oder einem entsprechenden Loch in der Wand. Wurde ein Mensch erstochen, liegt vielleicht irgendwo das Messer verborgen. Doch hier gab es nichts dergleichen. Keine Leiche, keine Orientierung. Nur ein See aus Blut. Und deswegen hatte die Schweriner Polizei auch das LKA des Nachbarlandes um Hilfe gebeten. Mecklenburg-Vorpommern verfügte zwar über eine eigene Profiling-Abteilung, doch die dortigen Kollegen waren skeptisch, bei einem Fall ohne Leiche ihre Arbeit zu leisten. Das ging über die übliche Fallanalyse hinaus, hier waren Experten gefragt, die sich auf die sogenannte Sequenzanalyse* spezialisiert hatten, bei der Schritt für Schritt der vermutete Tatablauf in kleine Stücke zerlegt wird, um dann zu sehen, unter welchen Gesichtspunkten er sich wieder zusammenpuzzeln lässt. Boris Bellhorn, Wenckes Kollege im LKA Hannover, war eine solche Koryphäe der Soziologie und beherrschte die ausgefeiltesten Methoden der Kriminalistik. Wencke war da eher von der praktischen Sorte. Vielleicht hatte man sie als Ergänzung an Boris’ Seite gestellt, jedenfalls mussten beide heute Vormittag in Hannover ziemlich zügig ihre Sachen packen. Sequenzanalytiker finden sich auch ohne Sachbeweise zurecht. Sie erkennen die Handschrift des Täters sozusagen zwischen den Zeilen. Indem sie sich ihren eigenen Weg suchen. Keine Trampelpfade aus Fingerabdrücken und Zeugenaussagen benutzen, sondern sich ins Unterholz der Psychologie schlagen. Und das macht sie irgendwie … suspekt. Zumindest schien KHK Wachtel es so zu sehen. »Und? Schon eine originelle Idee?« Die Ironie passte zu ihm. Zu seiner etwas behäbigen, selbstzufriedenen Art. Männer, die Toupets diesen Ausmaßes trugen, mussten selbstzufrieden sein, sonst wäre ihnen der silbergraue Wischmopp auf dem Scheitel peinlich. »Ich dachte, Sie und Ihr Kollege kommen hierhin, schauen sich kurz um, und schwuppdiwupp haben Sie uns die Arbeit von vier Wochen abgenommen. So geht das doch bei diesen modernen Methoden, oder nicht?« Endlich war es raus, das Gift, auf das Wencke bereits gewartet hatte und das sie fest entschlossen ignorierte. »Was sind denn jetzt Ihre Pläne, um die Leiche zu finden, Herr Wachtel?« »Selbstverständlich sind diverse Proben schon seit heute früh im DNA-Labor.« »Wie schnell wird dort gearbeitet?« »Die Warteliste ist genau so lang wie bei Ihnen in Niedersachsen, aber wir haben eine besondere Dringlichkeit angemerkt. Wenn wir viel Glück haben, haben wir in zwei Tagen ein Ergebnis.« »Und bis dahin?« »Meine Leute durchkämmen gerade den unmittelbaren Umkreis. Das Gelände ist ja weiträumig abgesperrt. Auch das Clubhaus* nebenan wird so gut wie auseinandergenommen, sobald wir den entsprechenden Durchsuchungsbeschluss haben.« »Den haben Sie noch nicht? Warum dauert das so lange?« »Das Clubhaus befindet sich laut Katasteramt nicht auf demselben Grundstück wie der Tatort, vielleicht liegt es daran. Auf jeden Fall sind wir dran, der leitende Oberstaatsanwalt Gauly persönlich kümmert sich um den entsprechenden Antrag.« »Und die Taucher?« »Längst unterwegs!« Boris Bellhorns schlaksige Gestalt tauchte im Gegenlicht der offenen Schuppentür auf. Er war Wenckes Lieblingskollege, intelligent und freundlich, vielleicht ein bisschen zart besaitet für den Job, dafür nicht so ein Drachen wie ihre gemeinsame Vorgesetzte Tilda Kosian. Die Entscheidung, wer von ihnen beiden bei diesem Job draußen bleiben durfte und wer rings um die Blutlache zu tun hatte, war schnell gefallen. Wencke hatte im Gegensatz zu Boris früher bei der Kripo gearbeitet und war wesentlich unempfindlicher in diesen Dingen. »Und?« Boris blieb auf der Türschwelle stehen und fuhr sich mit den Fingern durch seine etwas zu langen Haarsträhnen, um die Wachtel ihn sicher beneidete. »Sollen wir mal kurz zusammenfassen, was wir haben?« »Nicht viel«, musste Wencke zugeben. »Ein zertrümmerter Bootsschuppen auf dem Gelände eines einschlägig bekannten Motorradclubs*. Die Devil Doves – Teufelstauben?« Boris Bellhorn und KHK Wachtel nickten synchron. Wencke betrachtete die Szenerie. »Zwei Wasserflaschen, ein paar Zigarettenkippen und eine solche Menge...