Ludwig | Ein Bündel Wegerich | E-Book | www2.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 288 Seiten, GB

Reihe: Oktaven

Ludwig Ein Bündel Wegerich

Roman
2. Auflage 2020
ISBN: 978-3-7725-4408-8
Verlag: Freies Geistesleben
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 288 Seiten, GB

Reihe: Oktaven

ISBN: 978-3-7725-4408-8
Verlag: Freies Geistesleben
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Sie wollte wieder nach Palästina. Kurz. Jetzt im Krieg sitzt Else Lasker-Schüler hier in Jerusalem fest, zwischen Juden, Arabern, und Briten, Bombenanschlägen und Horrornachrichten. Will Frieden stiften, dringend. Aber dazu braucht sie einen Mann für ein Liebesgedicht. - Mit subtilen Mitteln lässt Christa Ludwig ein intensives Porträt der Dichterin in ihren letzten Lebensjahren entstehen. 'Wo soll ich hin, wenn kalt der Nordsturm brüllt -? - Die scheuen Tiere aus der Landschaft wagen sich - Und ich - vor deine Tür, ein Bündel Wegerich.' Else Lasker-Schüler, 'Die Verscheuchte'

Christa Ludwig, 1949 in Wolfhagen bei Kassel geboren, studierte Germanistik und Anglistik. Sie hat bislang Kinder- und Jugendbücher geschrieben. Mit Else Lasker-Schüler beschäftigt sie sich seit nahezu zwanzig Jahren. Für Ihr Romanprojekt erhielt sie ein Stipendium vom Förderkreis deutscher Schriftsteller und ein Reisestipendium für Recherchen in Jerusalem vom Verband deutscher Schriftsteller. Ihr Hörspiel 'Pendelblut' wurde vom NDR produziert und zum Hörspiel des Monats gewählt.
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Prolog auf dem Friedhof Jerusalem 1998 Die erste Kladde Juni 1940 bis Ende 1940 Die zweite Kladde April 1941 bis Juli 1941 Die dritte Kladde September 1941 bis Februar 1942 Danksagung Personenverzeichnis Begriffe


Also habe ich nun wieder keine Zeile, kein Wort, keine Silbe, geschrieben von seiner Hand, keinen einzigen Buchstaben. Warum habe ich ihm seinen Brief zurückgeschickt? Er sollte jetzt endlich kommen und ihn mir wiederbringen. Kann ich Tasso bitten, dass er mir den Brief holt? Tasso, bitte gehen Sie. Ich habe ihm den Brief nur zurückgeschickt, damit man ihn nicht eines Tages bei mir findet. Weil ihm das doch peinlich wäre. Aber ich werde schon darauf aufpassen, es gibt schließlich auch Dinge, die ich nicht herumliegen lasse in meinem .

«Ich gehe», sagte ich, «zur Maimonstraße kann ich laufen, ich kenne ihn von der Uni, ja, vielleicht ist es besser, ich frage ihn dort, ob er Ihnen den Brief…»

«Nein», schrie sie, «ich bin keine Bettlerin. Er soll selber kommen und ihn bringen.»

Und sie presste sich die Uhr auf die Brust. Hinter ihren langen dünnen Fingern lag das tickende Gehäuse wie ein lebendes Herz in einem Käfig.

«Ich muss warten», murmelte sie, «warten, warten. Tasso, Sie wissen nur, wie schwer das ist, wenn man jung ist, also wissen Sie nichts, nichts. In Ihren schlimmsten Albträumen streift Sie nicht ein Hauch von Ahnung, wie schwer das Warten wird, wenn man alt ist. Gehen Sie! Lassen Sie mich endlich allein!»

Ich lief die Treppe hinunter und dachte:

.

In den nächsten Tagen mied ich sie und stellte mich in eine Schlange von Wartenden. Da stand ich zusammen mit vielen jungen jüdischen Männern, die sich vergeblich darum bewarben, endlich mit den Briten gegen die Deutschen kämpfen zu dürfen. Aber die Engländer hatten sich für die Araber entschieden, und das schloss die Juden aus. Die Briten brauchten die Straße von Gibraltar, und durch den Suezkanal kamen ihre Soldaten aus Indien und Australien. Ich wurde zurückgeschickt mit den vielen anderen jungen Männern, die wahrscheinlich alle mit einem Foto ihrer Geliebten in der Brusttasche in den Kampf nach Europa ziehen wollten. Auch meine Brusttasche war nicht leer. Es lag ein Zettel darin, auf dem stand:

.

.

Ich war Anfang zwanzig und wollte verliebt sein, ich hielt mich für einen Dichter und wollte gern unglücklich verliebt sein, mit dem ‹Du› in ihren Gedichten ging das vorzüglich, mit dem Kameldung in ihrer Kladde hatte ich es schwerer.

Wenn ich hier wenigstens mit Dung heizen könnte. Aber es gibt ja keine Kamele in dieser Stadt. Was ist das für ein . Ohne Kamele.

Und als ich ihr erzählte, dass ich mich darum beworben hatte, in den Krieg zu ziehen, da zuckte ihr Kopf und ihre schwarzen Augen funkelten mich glühend an.

«Lassen Sie das, Tasso!», rief sie. «Wir Juden kämpfen nicht in diesem Krieg. Wir sterben da nur!»

Es war November und kalt. Ihr Zimmer hatte keinen Ofen. Sie flickte ihre durchlöcherte Wolldecke und stickte Blumen über die Löcher, mit bunten Fäden, die sie gesammelt hatte. Der rasche Griff, mit dem sie Freunden und Fremden lose Fäden aus den Pullis riss, war berüchtigt. Sie konnte weder stopfen noch sticken. Auf ihrer Decke blühten Kraken und Quallen.

Mitte November fielen die Bomben auf Coventry und zerstörten die Stadt. Deutsche U-Boote torpedierten englische Handelsschiffe mit Nahrung und Kleidung im Ärmelkanal und im Mittelmeer, und die Briten ließen drei Schiffe mit jüdischen Flüchtlingen immer noch nicht landen, ließen sie warten vor Haifa und Zypern. Da machte sie sich auf den Weg zu Gott.

Es ist zu heiß für Kerzen in der Grabeskirche.

Wenn es auch kalt ist in der Stadt und kalt unter der Kuppel der Kirche, so ist es doch heiß, zu heiß, da, wo die Kerzen stehen, weil da die Kerzen stehen, auf kupfernen Platten in der Kirche stehen und viele, zu viele, so dicht gedrängt, ein Stangenwald, angelegt von besonnener Hand. Für jedes Licht ist eine kleine Kuhle vorgesehen, jede Kerze hat ihren Platz, aber grenzenlose Anteilnahme hat weitere Kerzen zwischen die legitimen Stammplätze geschoben, sie auf Wachstropfen geklebt oder einfach auf das zu warme Metall gedrückt.

Und jedes Licht, das um Gnade bittet, um Hilfe, um Rettung für die Verzweifelten auf den Schiffen, gefährdet ein anderes Licht oder zwei oder mehr, die ebenfalls um Gnade bitten, um Hilfe durch den Heiland, den Erlöser, von dem die Christen glauben, dass er an diesem Ort begraben lag, drei Tage lang. Aber jede der von gläubigen Händen angezündeten Flammen zerstört, das ist sichtbar, und ob sie errettet, davon sieht man nichts. Wer glaubt noch daran?

Manche der flackernden Spitzen lecken am oberen Rand einer neben ihnen bittenden Kerze, deren Wachs, aufgelöst und verflüssigt, läuft über und rinnt hinab in Tropfen, die wie Tränen aussehen, was sie auch sind, nur dass sie manchmal erstarren, aber nie lang, nur kurz innehalten im Weinen und weiterfließen, sie rinnen hinunter, hinab. Es ist zu heiß für Kerzen in der Grabeskirche, und oben flackert unstet ihr Licht.

Die sehr hohen, dünnen aber, deren Flammen so hoch brennen, dass sie niemandem schaden, erwärmen sich langsam und beginnen, scheinbar unversehrt, sich sachte zu neigen, während ihr Licht aufrecht bleibt, den Kreis, in dem es brennt, ins Oval zieht, schließlich eine Zunge bildet, von der Wachs tropft auf die unteren, auf die sie allmählich hinabsinken, sich selbst und andere löschen.

Auf der Kupferplatte sammelt sich vergeudetes Wachs, geschaffen für viele lichtvolle Stunden, aber es hat keinen Docht, keinen Lebensnerv, es wird erkalten, dunkeln, es ist um seine Bestimmung betrogen, um sein Leuchten gebracht. Zu viele Flammen, so dicht gedrängt wie jene, für die sie brennen: 1700 jüdische Flüchtlinge auf der Atlantic vor Zypern, 700 auf der Milos, 800 auf der Pacific vor Haifa. Sie sind dem Schrecken entkommen und dürfen nicht landen.

Auf den Schiffen stehen sie so eng wie die Kerzen auf der Kupferplatte. Jeder, der dort atmet, zieht die Luft ein, die ein anderer ausgeatmet hat. Jeder, der dort leben will, hindert einen anderen am Überleben. Sie zehren sich aus, einer den anderen. Aber ihr lichtloses Leben zerfließt nicht so weich wie das verschwendete erwärmte Wachs in der Grabeskirche. Was sich an Ober- und Unterdeck der Pacific sammelt, macht nicht solch anmutig in Terrassen geformte Gebilde wie in Schichten erkaltendes Paraffin und nichts auf der Milos riecht wie Bienenwachs nach Blütenhonig. Sie haben Krankheiten an Bord, Infektionen, vielleicht Seuchen, man sprach von Typhus, sie können sich nicht waschen, es gibt kaum Toiletten, sie frieren, sie hungern, sie leben noch.

Ich war auf dem Weg zu Gott.

Ich wollte Gott suchen auf dem Tempelberg. Ich wollte die Stufen hinaufsteigen zu dem weiten hohen Platz mit der El Aqsa Moschee und dem Felsendom und Meter für Meter in schmalen parallelen Linien die Fläche abgehen, und dabei hätte ich dann irgendwann – irgendwo den Fuß auf das Allerheiligste gesetzt, oh, ich weiß, wie sehr es verboten ist, aber es soll kein Frevel sein und nicht Hochmut. Verzweiflung ist es, die zu manch unerlaubter Tat berechtigt. Dort oben ist die Spitze des Berges Moria, wo Abraham seinen Sohn auf den Opferblock legte, da ist der Ort, wo der Engel erschien und Einhalt gebot, dort oben auf dem Tempelberg hat Gott einmal gesagt: Es ist genug!

Er soll es wieder tun! Er soll es wieder sagen! Es ist genug!

Er wird es tun. Er wird Isaaks Fesseln lösen, ihn vom Opferblock heben und in seine Arme nehmen und alle Söhne und Töchter Israels.

Was mich in die Grabeskirche trieb, weiß ich nicht. Plötzlich stand ich im Heiligtum der Christen. Es riecht nach Weihrauch und nach Wachs. Nach Schweiß, Blut, Urin riecht es nicht.

Und weiterhin schieben fromme christliche Hände Kerzen auf die Kupferplatten, viele Frauen darunter, Töchter und Ehefrauen der Briten wahrscheinlich, Mönche, Nonnen, Priester aller christlichen Konfessionen in schwarzen Gewändern, vielleicht auch auf ähnlichen Schiffen geflohene, konvertierte Juden, denen das Taufwasser ihr Jude-Sein nicht aus dem Abstammungsnachweis waschen konnte. Sie zünden Kerzen an, sie knien, sie falten die Hände, sie schauen auf den mit goldenen Ampeln geschmückten Bogen, hinter dem Stufen zum Grabe Christi führen.

Die Tür ist geschlossen. Da ist kein Weg.

Also ging ich.

Bevor ich das Gotteshaus verließ, hob ich noch einmal den Kopf und schaute hinauf in die Kuppel. Ich sagte einen Dank dem großen Gedanken, dass durch das Opfer eines Einzelnen die Sünden der Welt vergeben seien. Wahrlich – welch ein Mensch. So liebevoll, so...


Ludwig, Christa
Christa Ludwig, 1949 in Wolfhagen bei Kassel geboren, studierte Germanistik und Anglistik. Spätestens seit sie lesen kann, liebt sie Bücher, früh fing sie auch an, selbst zu schreiben. Seit 1989 erschienen von ihr Kinder- und Jugendbücher, u.a. ›Blitz ohne Donner‹, ›Die Siebte Sage‹, die sechsbändige Pferdebuchreihe ›Hufspuren‹ sowie die fünfbändige Reihe für Erstleser ›Jonas Weg ins Lesen‹. Parallel dazu beschäftigte sie sich seit nahezu zwanzig Jahren mit Else Lasker-Schüler. Fu¨r Ihr Romanprojekt ›Ein Bündel Wegerich‹ erhielt sie ein Stipendium vom Förderkreis deutscher Schriftsteller und ein Reisestipendium fu¨r Recherchen in Jerusalem vom Verband deutscher Schriftsteller. 2019 wurde Christa Ludwig zudem mit dem Eichendorff-Literaturpreis ausgezeichnet. Christa Ludwig hat drei erwachsene Söhne. Sie lebt mit ihrem Mann und einem Islandpferd in der Nähe des Bodensees.

Christa Ludwig, 1949 in Wolfhagen bei Kassel geboren, studierte Germanistik und Anglistik. Sie hat bislang Kinder- und Jugendbücher geschrieben. Mit Else Lasker-Schüler beschäftigt sie sich seit nahezu zwanzig Jahren. Für Ihr Romanprojekt erhielt sie ein Stipendium vom Förderkreis deutscher Schriftsteller und ein Reisestipendium für Recherchen in Jerusalem vom Verband deutscher
Schriftsteller. Ihr Hörspiel "Pendelblut" wurde vom NDR produziert und zum Hörspiel des Monats gewählt.



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