E-Book, Deutsch, 176 Seiten
Reihe: Carlsen Klartext
Ludwig Carlsen Klartext: Populismus
17001. Auflage 2017
ISBN: 978-3-646-92822-8
Verlag: Carlsen
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 176 Seiten
Reihe: Carlsen Klartext
ISBN: 978-3-646-92822-8
Verlag: Carlsen
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Jan Ludwig, geboren 1983, studierte Philosophie und Geschichte in Dresden und Paris. Nach dem Besuch der Henri-Nannen-Schule lebte er anderthalb Jahre als freier Korrespondent in Israel. Heute arbeitet er als Recherchetrainer im Faktencheck-Team der dpa und schreibt als freier Journalist Bücher. In der Reihe Carlsen Klartext sind von ihm die beiden Titel »Populismus« und »Demokratie« erschienen.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
KAPITEL EINS
Das Zeitalter des Populismus
Demokratie ist also: Jeder kann seine Überzeugungen haben, die Fakten werden schon mit ihnen fertig.1
Roger Willemsen, Publizist
Treffen sich eine Französin, ein Niederländer, eine Deutsche und ein Italiener in einer der reichsten Demokratien der Welt. Wir schreiben das Jahr 2017. Sagt die Französin: »Alle Völker Europas sind einer Tyrannei unterworfen!«2 Sagt der Niederländer: »Wir werden uns befreien und unsere Länder wieder groß machen.«3 Sagt die Deutsche: »Europa wird die Europäische Union nicht länger dulden.«4 Sagt der Italiener: »Es leben die Nationalisten!«5 Tosender Applaus.
Da fehlt die Pointe? Klar. Es ist ja auch kein Witz. Was hier beschrieben wird, hat sich im Januar 2017 wirklich ereignet, in der Rhein-Mosel-Halle in Koblenz. An diesem frostigen Tag im Winter trafen zum ersten Mal die wichtigsten Rechtspopulisten Europas zusammen.6
Der Niederländer: Das ist Geert Wilders, verurteilt wegen Volksverhetzung.7 Die Französin: Das ist Marine Le Pen, die die Todesstrafe wiedereinführen wollte. Der Italiener: Das ist Matteo Salvini, der andere Politiker »Parasiten«8 und »Verräter«9 nennt. Die Deutsche: Das ist Frauke Petry, die das Wort »völkisch«, bekannt etwa durch die Nazi-Zeitung »Völkischer Beobachter«10, gern wieder als normales Wort in der Politik sehen würde.11
Alle vier waren zu der Zeit Vorsitzende einer populistischen Partei in ihrem Land. Die Zitate stammen aus ihren Reden. So erfolgreich wie heute waren Parteien wie die ihren noch nie: Populisten sitzen mittlerweile in fast allen Abgeordnetenhäusern Europas.12
Wenn vor zehn, fünfzehn Jahren in Deutschland die Rede von Populisten war, dann dachte man eher an Menschen wie Franz Müntefering von der SPD. Er war damals Parteichef, bekannt für seine markigen Worte. Müntefering kritisierte im Jahr 2004 Großinvestoren, denen es nur um schnellen Profit ging, als »Heuschrecken«. Wörtlich nannte er sie »verantwortungslose Heuschreckenschwärme«13. Kritiker warfen ihm danach Populismus und Hetze vor.14
Auch Horst Seehofer, der Vorsitzende der CSU und Ministerpräsident von Bayern, ist schon seit vielen Jahren bekannt für seine populistischen Wahlkampfreden. Zum Beispiel schimpfte er gern darüber, dass das reiche Bayern andere Bundesländer mit Zahlungen durchfüttern müsse.15 Dabei war Bayern lange Zeit ein eher armes Bundesland, das auf das Geld anderer Bundesländer angewiesen war.16 Und so gab es prompt Kritik, Seehofer würde es sich ein wenig zu einfach machen. Viele warfen ihm Populismus vor.
»Populismus« war in diesen Zusammenhängen immer als Vorwurf gemeint. Weder Seehofer noch Müntefering würden sich wohl allzu gerne als Populisten sehen. Volksnah, ja, das schon. »Mit dem Ohr ganz nah am Volk«, wie man so sagt. Einer, der redet, »wie ihm der Schnabel gewachsen ist«, und das ausspricht, was das Volk hören will. Mehr Bierzelt als Doktorarbeit eben.
Diese Art von Populismus gehört zur Demokratie dazu wie das Wahlplakat und der Sitz im Parlament. Alle Politiker möchten ja gerne von den Bürgern verstanden werden. Deshalb meiden sie Fremdwörter, erklären sich in Talkshows und formulieren eingängige Wahlkampf-Slogans. Je einfacher und griffiger, desto besser. Einige schießen dann übers Ziel hinaus – wie Müntefering und Seehofer –, andere lassen ein paar Fakten weg und machen ihre Aussagen so zumindest missverständlich. Populismus ist eine Technik, die alle Parteien gelegentlich anwenden, in mehr oder weniger starkem Maße.
Auch Medien tragen zu einem gewissen Populismus in der Politik bei.17 Boulevardzeitungen wie etwa die BILD erscheinen mit großen, reißerischen Überschriften auf ihrer Titelseite. Je emotionaler, je skandalöser die Geschichte, desto besser. Für Feinheiten ist in dieser Welt der Großbuchstaben oft kein Platz. Das führt dazu, dass sich Politiker selbst gerne populistisch äußern, um in die Schlagzeilen zu kommen (»Politiker fordert: Kriminelle Ausländer raus!«, »Banken enteignen!«). Die Grenzen zwischen Popularisierung, also einer manchmal nötigen Vereinfachung, und Populismus sind eben fließend.
Seit geraumer Zeit aber wächst in vielen Ländern der Welt ein anderer, radikalerer Populismus heran. Von ihm handelt dieses Buch. Es ist ein Populismus, der die Welt aufteilt in ein »Wir« (die Guten) und ein »Die« (die Bösen). Die Vereinfachung von politischen Problemen ist bei diesem Populismus nicht nur ein Mittel, um beim Wähler zu punkten. Begriffe wie »Heuschrecken« sind bei ihm keine Ausrutscher und kein taktisches Mittel. Sie sind eine Strategie.
Für die meisten Menschen hat das Wort Populismus einen negativen Klang. Doch viele moderne Populisten tragen den Vorwurf mit Stolz, als wäre er ein Orden. Konrad Adam etwa, einer der Gründer der rechtspopulistischen Alternative für Deutschland (AfD): Er rief auf dem ersten Parteitag dazu auf, »den Vorwurf des Populismus als Auszeichnung zu betrachten«. Man solle »alle Welt daran erinnern, dass die Demokratie insgesamt eine populistische Veranstaltung ist, weil sie das letzte Wort dem Volk erteilt: dem Volk, wie gesagt, nicht seinen Vertretern«18.
Auch die Französin Marine Le Pen, Chefin des rechtspopulistischen Front National, hält den Begriff »Populistin« für ein Ehrenabzeichen: »Wenn [Populist sein] heißen soll, dass man sich um das Volk kümmert und das Volk ins Zentrum der politischen Debatte stellt, dann, ja, dann bin ich Populistin. Danke für dieses Kompliment.«19 Klarer hätte sie es kaum sagen können.
Schauen wir uns nun beispielhaft einige populistische Parteien in Europa an.
NIEDERLANDE
Mit seinen wasserstoffblonden Haaren ist der Niederländer Geert Wilders der vielleicht auffälligste Populist Europas. Aber auch mit seinen fremdenfeindlichen Äußerungen macht er von sich reden. Seine »Partei für die Freiheit«, auf Niederländisch Partij voor de Vrijheid (PVV), gründete er 2006. Seither provoziert er gerne und häufig. Er will zum Beispiel den Koran als Buch verbieten lassen20 und das Europäische Parlament abschaffen.21 Wilders forderte auch, eine »Kopftuchsteuer« für Musliminnen von 1000 Euro pro Jahr einzuführen.22 Den Islam hält er nicht für eine Religion; er vergleicht ihn lieber mit Faschismus und Kommunismus.23
Mit der Demokratie in der eigenen Partei nimmt es Wilders allerdings nicht so genau. Er ist nicht nur der Vorsitzende seiner Partei, sondern auch ihr einziges Mitglied.24 Die Kandidaten für Wahlen nominiert er allein, die Parteiprogramme verfasst er weitgehend selbst.25
Ergebnis bei der Wahl 2017: 13,1 Prozent, zweitstärkste Partei der Niederlande.
FRANKREICH
Marine Le Pen ist die derzeit wohl dienstälteste Populistin in Europa, und die erfolgreichste noch dazu. Jeder dritte Wähler stimmte bei der Präsidentschaftswahl 2017 in Frankreich im zweiten Wahlgang für sie. 2011 übernahm sie den Vorsitz der Partei »Front National« von ihrem Vater. Er war als Rechtsextremist bekannt. Aus dem rechtsradikalen Front National machte Marine Le Pen in wenigen Jahren das Flaggschiff des europäischen Populismus. Der Front National wehrt sich gegen eine »Islamisierung Europas«. Le Pen setzt sich für einen Austritt aus dem Militärbündnis Nato ein26 und wollte lange Zeit das Volk über die Einführung der Todesstrafe entscheiden lassen.27
ITALIEN
Beppe Grillo ist eigentlich Komiker. Doch weil er als Bürger die Korruption in seinem Land leid war, ging er selbst in die Politik. Im Jahr 2009 gründete er die »Fünf-Sterne-Bewegung«.28 Heute hetzt Grillo gegen das politische System als Ganzes, also nicht nur gegen einzelne Politiker. Eine Zusammenarbeit mit anderen Parteien lehnt er vehement ab. In zwei der größten Städte Italiens – Rom29 und Turin30 – stellt die Fünf-Sterne-Bewegung sogar jeweils die Bürgermeisterin.
Ergebnis bei der letzten landesweiten Wahl im Jahr 2013: rund 25 Prozent, drittstärkste Partei.31
SPANIEN
»Wir können das« ist nicht nur der Wahlspruch der spanischen Partei »Podemos« – es ist auch die wörtliche Übersetzung ihres Namens. Podemos wurde erst 2014 gegründet, geht aber aus einer älteren Protestbewegung hervor. Die Linkspopulisten kritisieren vor allem die Sparpolitik der EU in Spanien. Der Parteichef Pablo Iglesias Turrión ist bekannt für seine markigen Worte. Einen politischen Gegner bezichtigte er schon, eine »Marionette der Mächtigen«32 werden zu können.
Ergebnis bei der Wahl 2016: 21,1 Prozent, drittstärkste Partei.33
GRIECHENLAND
Seit 2015 wird Griechenland von einer ungewöhnlichen Kombination regiert: »Syriza« und »Anexartiti Ellines« (auf Deutsch »Unabhängige Griechen«).34 Syriza ist ein Bündnis linker und linksradikaler Parteien. Die »Unabhängigen Griechen« hingegen sind Rechtspopulisten. In Deutschland wäre das in etwa so, als würde die rechte Alternative für Deutschland (AfD) mit der Linken zusammenarbeiten. In der Parteizeitung von Syriza erschien 2015 eine Karikatur des damaligen deutschen Finanzministers Wolfgang Schäuble. Sie zeigt ihn in Wehrmachtsuniform als Nazi-Soldaten, der die Griechen zu Asche verbrennen und aus ihrem Fett Seife machen will.35
DEUTSCHLAND
Die rechtspopulistische Alternative für Deutschland (AfD) wurde ursprünglich im Jahr 201336 als Reaktion auf...