Ludwig | Blitz ohne Donner | E-Book | www2.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 176 Seiten

Ludwig Blitz ohne Donner


Neuausgabe 2014
ISBN: 978-3-7725-4005-9
Verlag: Freies Geistesleben
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 176 Seiten

ISBN: 978-3-7725-4005-9
Verlag: Freies Geistesleben
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Johannes spricht etwas fremdartig und rau, wie jemand der erkältet ist. Ohne deutliches Gespür für hoch und tief, laut und leise, Frage oder Antwort. Mit Händen reden kann er viel besser. Und wen er sprechen sieht, den versteht er auch. In der lautlosen Welt kennt er sich aus. Und dann kommt dieser Sommer. Im Nachbarhaus zieht Maria ein. Maria, die Töne liebt. Die ihm ihre Musik zeigen, die mit ihm tanzen will ...

Christa Ludwig ist als Jugendbuchautorin bekannt geworden mit ihren Romanen 'Der eiserne Heinrich', 'Ein Lied für Daphnes Fohlen', 'Carlos in der Nacht', 'Blitz ohne Donner' und 'Die Siebte Sage'. Im Anschluss fand ihre 6-bändige Reihe 'Hufspuren' begeistertes Echo bei jungen Pferdeliebhaberinnen. Für Kinder hat sie die Geschichten 'Puzzle-Ponys' und 'Fluchtballon' geschrieben. Und kürzlich sind die ersten zwei Bände ihrer Erstlesereihe 'Jonas Weg ins Lesen' erschienen. Christa Ludwig lebt mit ihrem Mann in der Nähe des Bodensees.
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Viereinhalb Wochen vor den Sommerferien Blattlauszeiten Sonntag Singen Tanzen und Springen Die Lösung Schallwellen Kleine Nägel Schlangenbeschwörer Muttersprache Geschrei Tanja Irrtum Johann Christian Was ist denn eine Telefonzelle? Nachwort zur Neuausgabe


Viereinhalb Wochen vor den Sommerferien


Johannes war ein Sonntagskind. Er wurde an einem Sonntag geboren, an einem Morgen im September, und er lebte ein herrliches Sonntagskindleben, fast fünfzehn Jahre lang, bis zu jenem Nachmittag im Juli, als die Sonne in das Südfenster seines Zimmers schien und mit den Spiegeln an allen Wänden spielte. Nur, Johannes war nicht in seinem Zimmer, er stand im Nachbarhaus neben der Terrassentür, schaute nahezu geblendet in das Licht derselben Sonne, unter der er so lange glücklich gewesen war und die nun auf den geschwungenen Bogen einer Harfe schien. Die Saiten boten dem Licht kein Hindernis, auf den Teppich fiel kaum ein Schatten, aber Johannes starrte durch die zarten Drähte wie durch die Gitterstäbe eines Gefängnisfensters. Er war hier eingesperrt, hier war seine Grenze, an dieser Stelle war sein Sonntagskindleben zu Ende.

Dass er überhaupt so lange hatte glücklich sein können, verdankte er seinen – nahezu – tadellosen Eltern. Sophia und Stefan waren nett, immer da, wenn man sie brauchte, einsichtig, großzügig und reich. Nichts war an ihnen auszusetzen außer der Tatsache, dass sie ihn Johannes genannt hatten.

Jedes Mal, wenn er sich vorstellte –

«Wie heißt du?»

«Johannes.»

«Und weiter?»

«Beer.»

– war er versucht, zu buchstabieren B-ä-r. Aber so hieß er nicht. Er hieß Beer. B-e-e-r. Johannes Beer.

Nach einer kurzen Pause kam Gelächter. Er sah Spott in den Augen, gebleckte Zähne im Ring der Lippen, sinnlos geöffnete Münder, die keine Worte formten: Gelächter.

Früher war er dabei wohl auch rot geworden, johannisbeer-rot, jetzt passierte ihm das nicht mehr. Man gewöhnt sich an alles oder kann zumindest so tun, als hätte man sich daran gewöhnt. Und je näher die Sommerferien kamen, desto leichter wurde es. Noch viereinhalb Wochen und dann ab nach Spanien, wo niemand, wenn er seinen Namen nannte, an Marmelade dachte.

Es war am frühen Nachmittag in der Physikstunde. Er dachte an Spanien und an Mercedes.

Man lacht nicht über Leute mit komischen Namen! Das war für Johannes ein Gesetz, und als Mercedes ihm vor vier Jahren vorgestellt wurde, hatte er sich das Grinsen verbissen. Dann lernte er, das ‹c› in jenem Mercedes zu zischen wie ein gelispeltes ‹s›. Aber erst viel später wurde Mercedes ein Zauberwort. Seit mehr als einem Jahr hatte er dabei nicht mehr an Autos gedacht.

Auf seinem Tisch lag noch sein Biologieheft von der letzten Schulstunde. Darin sagte der Längsschnitt eines menschlichen Kopfes: aaaaaaaaaaaaaa. In den bei der ‹a›-Stellung breiten Raum zwischen Zunge und Gaumensegel malte Johannes Mercedessterne, wobei er nicht an Autos dachte.

Mercedes war die Tochter der Familie, die das Haus der Beers an der Costa del Sol betreute und, wenn nicht gerade Ferien waren, auch ganz bewohnte. Wenn die Beers anreisten, zogen sich die Spanier in einen kleinen Teil des Hauses zurück und betraten die anderen Räume nur noch, um dort zu kochen, zu räumen, zu putzen. Aber wie sie das taten! Gracias! – war das Wort, an dem Johannes das spanische Lispeln lernte, weil er das Gefühl hatte, sich ständig bedanken zu müssen, nicht nur dafür, dass Mercedes’ Mutter kochte und seinen Dreck wegräumte, vor allem dafür, dass er überhaupt in diesem Haus wohnen durfte. Es gehörte nämlich offensichtlich den Spaniern. Niemals in seinem Leben sah Johannes eine dermaßen herablassende Geste wie jene, mit der Mercedes eine Türklinke herunterdrückte in Haus, gelassen durch die Tür ging und ihm mit gnädigem Kopfnicken bedeutete, er dürfe folgen.

Mercedes in Málaga hatte eine seltsame Eigenschaft: Sie wurde mit jedem Sommer schöner. Es hatte ganz harmlos angefangen. Als er elf war und sie fünfzehn, musste sie schon ziemlich hübsch gewesen sein, er erinnerte sich nicht daran. Im folgenden Jahr fiel ihm auf, was für ungeheuerliche Haare sie hatte – und Augen! –, und dann, als er fast vierzehn war und sie siebzehn, hatte er einen geradezu explosionsartigen Anstieg ihrer Schönheit festgestellt. Wenn das so weiterging mit ihr, mussten da unten in Spanien unaufhörlich Funken sprühen. Sicher war es so. Johannes hatte immer das Gefühl, dass Funken sprühten, wenn er nur an Mercedes dachte, und er dachte kaum noch an etwas anderes.

Fast hatte er Angst, ihr im Sommer wieder zu begegnen. Andererseits war es unerträglich, noch viereinhalb Wochen warten zu müssen.

Darum malte er Mercedessterne in alle seine Schulhefte und übte, klar und deutlich zu sprechen: «Merßedes, Merßedes, Merßedes …», während der Physiklehrer ihnen den Rücken zuwandte, Hebelwirkungen an die Tafel zeichnete und nichts merkte. Aber Christian, der zwei Plätze weiter rechts saß, entdeckte mit seinen Adleraugen die Mercedessterne. Ausgerechnet Christian. Der war das kleine, lästige Ärgernis in seiner Klasse. Dauernd quirlte er um Johannes herum und zog ihn wegen seines Namens auf. Die anderen hatten das längst aufgegeben. Natürlich hatte Christian keine Ahnung, was die Mercedessterne in den Heften bedeuteten. Er warf einen roten Filzstift hinüber auf Johannes’ Tisch, strich damit zwei Sterne durch, und peinlicherweise sagte Johannes: «Bleib weg von Merßedes», sagte es spanisch, und Christian entdeckte die Zunge an den Zähnen.

«Eine lißßßßpelnde Johannisbeere!» Er warf die Arme in die Luft, dass alle hinschauten. «Der kann immer noch kein ‹s›. Der ist unreif. Darum wird er auch nie rot, wenn man ihn ärgert. Johannisbeeren werden rot, wenn sie reif sind.»

Seit Jahren wartete Christian darauf, dass Johannes einmal rot wurde, rot wie eine reife Johannisbeere, aber der tat ihm den Gefallen nicht.

Da drehte sich der Physiklehrer um, sah die Unruhe, zwang mit einer Handbewegung Christians Blick wieder zur Tafel, und Johannes ließ das Biologieheft unter der Bank verschwinden.

Er näherte sich dem Physikunterricht, indem er versuchte, eine Kurve zu berechnen und zu zeichnen. Er wollte die explosive Entwicklung von Mercedes’ Schönheit durch eine trigonometrische Funktion darstellen. So etwas hatte sein Vater ihm beigebracht – die trigonometrischen Funktionen natürlich, nicht eine mathematische Darstellung von Mercedes. Johannes aber hatte nicht viel davon kapiert, der Versuch misslang, in seiner Gleichung sprühten keine Funken. Sie war also falsch.

Er versuchte es mit einer einfachen Gleichung. Dabei jedoch kam nichts als eine Gerade heraus, das ging noch weniger, denn um Mercedes abzubilden waren unbedingt Kurven nötig.

Johannes strich die Kurve, in der keine Funken sprühten, durch und überlegte, ob er seinen Bruder fragen sollte. Thomas war zwar fast zwei Jahre jünger als er, aber ein Mathematikgenie wie der Vater. Der war Professor für Mathematik, und so etwas würde Thomas wahrscheinlich auch werden. Stefan und Thomas konnten einfach berechnen. Doch es hatte keinen Sinn, Thomas zu fragen. Der hatte zwar von den trigonometrischen Funktionen alles kapiert, von Mercedes dagegen nichts.

Neben dem Lehrerpult blinkte die Lampe, und damit war wieder ein Schultag zu Ende – ein Tag weniger bis zu den Sommerferien.

Auf dem Heimweg überlegte Johannes, warum Thomas von Mercedes’ Veränderung nichts sah. Das musste an seiner Kurzsichtigkeit liegen. Wahrscheinlich konnten Brillen doch nicht die vollständige Sehkraft ersetzen.

Johannes’ Sehkraft war allerdings an diesem Nachmittag auch getrübt, obwohl er wirklich Augen hatte wie ein Indianerhäuptling. Unkraut sollte er jäten in den Blumenrabatten hinter dem Haus, und schon als er die Steintreppe zum Garten hinunterging, wäre er beinahe gefallen. Er sah eine Stufe zu wenig, machte einen Schritt geradeaus und trat ins Leere. Dann stolperte er über die Steine, mit denen die Blumenbeete eingefasst waren, fing sich wieder und begann mit seinem Arbeitsauftrag. Als er aber nach ein paar Minuten anschaute, was er geschafft hatte, da hatte er genauso viel Kapuzinerkresse ausgerupft wie Löwenzahn und Ackersenf.

So ging das nicht. Er setzte sich auf einen Stein – viereinhalb Wochen bis zu den Sommerferien, dachte er –, malte einen Mercedesstern auf den Sandweg, wollte ihn wieder auslöschen, aber das erledigte der Hund für ihn, der plötzlich – ein schwarz-weiß gezackter Blitz – über Rasen und Sandweg ins Blumenbeet sauste. Damit war dieser Teil der Rabatte hinreichend vorbereitet für eine Neubepflanzung.

Noch viereinhalb Wochen warten und dann drei Wochen Spanien, nur drei Wochen, weil in diesem Jahr niemand außer Johannes länger bleiben wollte oder konnte. Sein älterer Bruder Andreas kam gar nicht mit, Stefan musste zu einem Kongress nach Berlin, Thomas wollte zum Trainingslager seines Ruderclubs. Also musste Sophia ihn...


Ludwig, Christa
Christa Ludwig, 1949 in Wolfhagen bei Kassel geboren, studierte Germanistik und Anglistik. Spätestens seit sie lesen kann, liebt sie Bücher, früh fing sie auch an, selbst zu schreiben. Seit 1989 erschienen von ihr Kinder- und Jugendbücher, u.a. ›Blitz ohne Donner‹, ›Die Siebte Sage‹, die sechsbändige Pferdebuchreihe ›Hufspuren‹ sowie die fünfbändige Reihe für Erstleser ›Jonas Weg ins Lesen‹. Parallel dazu beschäftigte sie sich seit nahezu zwanzig Jahren mit Else Lasker-Schüler. Fu¨r Ihr Romanprojekt ›Ein Bündel Wegerich‹ erhielt sie ein Stipendium vom Förderkreis deutscher Schriftsteller und ein Reisestipendium fu¨r Recherchen in Jerusalem vom Verband deutscher Schriftsteller. 2019 wurde Christa Ludwig zudem mit dem Eichendorff-Literaturpreis ausgezeichnet. Christa Ludwig hat drei erwachsene Söhne. Sie lebt mit ihrem Mann und einem Islandpferd in der Nähe des Bodensees.

Christa Ludwig ist als Jugendbuchautorin bekannt geworden mit ihren Romanen "Der eiserne Heinrich", "Ein Lied für Daphnes Fohlen", "Carlos in der Nacht", "Blitz ohne Donner" und "Die Siebte Sage". Im Anschluss fand ihre 6-bändige Reihe "Hufspuren" begeistertes Echo bei jungen Pferdeliebhaberinnen. Für Kinder hat sie die Geschichten "Puzzle-Ponys" und "Fluchtballon" geschrieben. Und kürzlich sind die ersten zwei Bände ihrer Erstlesereihe "Jonas Weg ins Lesen" erschienen. Christa Ludwig lebt mit ihrem Mann in der Nähe des Bodensees.



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