E-Book, Deutsch, Band 1, 244 Seiten
Luck Kaltes Lachen
1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-96148-760-8
Verlag: dotbooks
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Der erste Fall für Schmidtbauer und van Royen | Ein Kriminalroman aus Bayern
E-Book, Deutsch, Band 1, 244 Seiten
Reihe: Ein Fall für Schmidtbauer und van Royen
ISBN: 978-3-96148-760-8
Verlag: dotbooks
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Harry Luck wurde 1972 in Remscheid geboren, ist ausgebildeter Redakteur und studierte in München Politikwissenschaften. Er berichtete viele Jahre für verschiedene Medien über Politik, Kultur und Wirtschaft in München und Bayern. Heute lebt er mit seiner Familie in Bamberg, wo er an weiteren Kriminalromanen arbeitet und als Pressesprecher für das Erzbistum tätig ist. Der Autor im Internet: www.harryluck.de/ www.facebook.com/luck.harry www.instagram.com/luck_harry/ Harry Luck veröffentlichte bei dotbooks seine »Schmidtbauer und van Royen«-Reihe mit den Kriminalromanen »Kaltes Lachen« und »Kaltes Spiel«. Der erste Band ist auch als Printausgabe erhältlich. Außerdem erscheint bei dotbooks seine »Sonne und Litzka«-Reihe mit den Kriminalromanen: »Tod in München - Rachelust« »Tod in München - Schwarzgeld« »Tod in München - Angstspiel« »Tod in München - Machtbeben« »Tod in München - Rufmord« Dabei ist »Machtbeben« auch als Printausgabe erhältlich.
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EINS
»Willkommen ... München-Hauptbahnhof ... Anschlussverbindungen ... Budapest ... Landshut ... Bad Reichenhall ... Service Point.«
Es waren nur Wortfetzen, die sie von der Durchsage in der Bahnhofshalle verstehen konnte. Dabei sprach sie perfekt Deutsch, und das, obwohl sie ihr gesamtes, bisher achtundzwanzig Jahre währendes Leben in den Niederlanden gelebt und auch mit ihrer deutschen Mutter ausschließlich Holländisch gesprochen hatte.
Anneke van Royen stand mit einem schwarzen Hartschalenkoffer und einem abgewetzten Eastpak-Rucksack auf dem zugigen Bahnsteig von Gleis vierzehn des Münchner Hauptbahnhofs und strich sich eine widerspenstige blonde Strähne aus dem Gesicht. Zwischen den Hunderten Reisenden, die entweder hektisch umherliefen oder gelangweilt auf verspätete Züge warteten, kam sie sich verloren vor. Sekunden, vielleicht auch Minuten wartete sie regungslos auf dem Bahnsteig in der düsteren riesigen Halle ab und ließ alles um sich herum einfach nur geschehen. Sie zog den Reißverschluss ihrer Windjacke bis zum Kinn hoch. Der Herbst in Bayern war kalt.
Das Angebot, sich von den neuen Kollegen abholen zu lassen, hatte sie selbstbewusst ausgeschlagen. Ich bin doch kein kleines Mädchen mehr, hatte sie gedacht und sich erklären lassen, dass das Münchner Polizeipräsidium nur zwei S-Bahn-Stationen vom Hauptbahnhof entfernt lag. Kein Problem für eine erfahrene Kriminalbeamtin. Wenn sie im Rahmen des sechsmonatigen Europol-Austauschprogramms ihren kriminalistischen Spürsinn unter Beweis stellen wollte, dann durfte sie nicht daran scheitern, dass sie ihren neuen Arbeitsplatz nicht fand. Ihr bisheriger Arbeitgeber war der »Dienst Nationale Recherche des Korps Landelijke Politiediensten« gewesen, und sie war stolz darauf, für das deutsch-niederländische Austauschprogramm ausgewählt worden zu sein.
Wieder wurde etwas durchgesagt, was nach einem verspäteten Eurocity aus Wien klang. Immerhin hatte der Münchner Hauptbahnhof auch einen Vorteil: Man konnte nicht in die falsche Richtung gehen, nachdem man aus dem Zug ausgestiegen war. In dem Sackbahnhof gab es nur eine Richtung. Anneke konnte sich nicht daran erinnern, jemals einen hässlicheren Bahnhof gesehen zu haben. War München nicht die Stadt der Prachtbauten und Schlösser? Der Isar und des Englischen Gartens? Warum wurden Besucher dann in einem monströsen Betonbunker mit dem Charme einer Fabrikhalle empfangen? Endlich löste sie sich aus ihrer Starre und ließ sich mit der Menschenmasse treiben, wobei sie von einem älteren Herrn angerempelt wurde, der sich aus unerfindlichen Gründen gegen den Strom bewegte. Der Weißhaarige raunzte ihr etwas zu, das sie weder als Deutsch noch als sonst eine ihr geläufige Sprache identifizieren konnte. Auch der Schriftzug »Service Point«, vor dem sie kurz darauf stand, war natürlich nicht in Deutsch formuliert, aber den Ausdruck verstand sie wenigstens. Sie zückte einen kleinen gelben Zettel aus ihrem Portemonnaie, auf dem sie »Polizeipräsidium Ettstraße« und »S-Bahn Marienplatz« notiert hatte. In Waalwijk, ihrem kleinen Heimatort in Nordbrabant, gab es keine S-Bahn und seit Jahrzehnten auch keinen Bahnhof mehr. Mit dem gelben Bus war sie bis Tilburg gefahren und von dort siebeneinhalb Stunden mit der Bahn über Düsseldorf bis nach München. Während der Fahrt hatte sie zweihundertzwanzig Seiten »Harry Potter« auf Deutsch und die komplette »Süddeutsche Zeitung« vom Vortag gelesen, die es am Tilburger Bahnhofskiosk zu kaufen gab – zum Training.
»Entschuldigen Sie, wie komme ich von hier am besten zur Ettstraße?«
Der Mann am Service Point schaute gutmütig und hilfsbereit, doch als er den Mund öffnete, drangen nur eigenartige Geräusche heraus: »Gengan S' do grodaus, d'Rolltreppn nunter, dann rechts, und dann seng S' scho a Schuidl zur S-Bahn, und dann nehman S' irgenda Bahn Richtung Marienplatz und steing noch zwoa Stationen wieder aus, junge Frau.«
Anneke hatte kaum ein Wort außer »Rolltreppe« und »Marienplatz« verstanden. Trotzdem bedankte sie sich höflich und ging einige Meter weiter zum Zeitschriftenstand, an dem sie die aktuelle »Süddeutsche« und einen Stadtplan kaufte.
Den werde ich wohl oder übel brauchen, dachte sie und hatte kein Problem, den türkischen jungen Mann an der Kasse zu verstehen.
Als sie auf einem Reklameschild eines Blumenhändlers im Laden neben dem Zeitschriftenstand »Blumen aus Holland« las, wurde ihr langsam bewusst, dass sie fern der Heimat fast am Ziel ihrer Reise angekommen war. Eigentlich war es mehr als nur eine Reise. Es war eine Flucht, auch wenn Anneke sich das nur ungern eingestand. Die achthundert Kilometer entfernte Millionenstadt war perfekt, um abzutauchen und zu vergessen. Und mal wieder etwas Neues anzufangen. Hier würde sie nur eine unter Hunderten von Polizistinnen sein und nicht bei jeder Verkehrskontrolle als die Versagerin aus der Zeitung erkannt werden. Sechs Monate waren keine lange Zeit. Aber lange genug, um sich selbst zu beweisen, dass sie noch immer eine gute Polizistin war.
***
»Sehr komisch«, sagte Alfons Hedderich an der Stelle, wo im Manuskript ein kleines 1 notiert war, das Zeichen für einen erwarteten Lacher des Kabarettpublikums. Doch bei der Probe auf der kleinen Bühne der Lach-Kompanie bestand das Publikum ausschließlich aus dem Betreiber des traditionsreichen Kabaretttheaters. Und wenn Alfons Hedderich »sehr komisch« sagte, dann glich das einem Todesurteil ohne Chance auf Begnadigung. Denn »komisch« sollte es bei der Lach-Kompanie nicht zugehen. Komik überließ Hedderich lieber den affenähnlichen Gestalten, die Abend für Abend die Sendeplätze der Privatsender mit Programmen verstopften und damit unter dem Begriff »Comedy« das Umfeld für teure Werbezeiten schufen. Ihm zufolge war Kabarett geistreiche und intelligente Unterhaltung. Aber nicht komisch.
»Diese Männer-Frauen-Scheiße über Fernbedienungen, Lockenwickler und Einparkprobleme kann ich wirklich nicht mehr hören!«
Hedderich nahm seine kleine schwarze Lesebrille ab und lockerte den blauen Seidenschal, seit Jahren das Markenzeichen des Altmeisters der Münchner Kabarettszene. Schon lange haderte er nicht mehr damit, dass er seit einem Schlaganfall vor elf Jahren nicht mehr selbst auf der Bühne stehen konnte. Manchmal war er sogar froh darüber, nicht erleben zu müssen, dass sein hochpolitisches Kabarett, wie er es als Ensemblemitglied der Lach-Kompanie jahrzehntelang dargeboten hatte, heute kaum noch zu vermitteln gewesen wäre. Dennoch wollte er nicht zulassen, dass auf seiner Bühne trivialer Gossenhumor aufgeführt wurde. Von Lorenz Merz war er anderes gewohnt.
»Lorenz!«, rief er in Richtung Bühne, wo Merz im Scheinwerferkegel stand und gerade noch nicht auswendig gelernte Passagen aus der Rohfassung seines neuen Programms präsentiert hatte. »Was ist los mit dir? Du hast es doch überhaupt nicht nötig, dich auf das Niveau dieser Knallfrösche aus dem ›Quatsch-Comedy-Club‹ zu begeben! Ich habe es dir von Anfang an gesagt: Es war ein Fehler, dass du dein neues Programm nicht mehr selbst geschrieben hast.« Nachdenklich massierte Hedderich sich das faltige Doppelkinn.
»Aber Ernst Grau hat Erfolg«, erwiderte Merz und kniff angesichts des grellen Scheinwerferlichts seine dunklen Augen zusammen. »Seit er für die ›Horst-Bendix-Show‹ schreibt, steigen dort erstmals seit vier Jahren wieder die Quoten. Max Metulskie füllt mit seinem Grau-Programm ganze Fußballstadien, und das, obwohl ihn vor einem Jahr noch fast niemand kannte!«
Merz, dessen wie immer braun gebranntes Gesicht ebenso im Scheinwerferlicht glänzte wie sein dunkelblondes geföhntes Haar, stieg von der Bühne hinunter und setzte sich in die erste Reihe neben Hedderich, der leise und abfällig murmelte: »Metulskie, dieser Pausenclown!«
»Ich weiß es doch auch nicht«, seufzte Merz. »Mein letztes Programm ›Scherz mit Merz VI‹ haben insgesamt weniger als tausend Leute gesehen. Du warst damit nicht zufrieden und hast gesagt, ich soll mir etwas Neues einfallen lassen. Und da habe ich gedacht ...«
»Grau ist ein guter Geschäftsmann. Was er anpackt, ist erfolgreich, ja, denn er trifft damit den Geschmack der Masse. Aber das ist Mainstream. Und Mainstream passt nicht auf eine kleine Kabarettbühne. Wir haben unser eigenes Profil, das wir schärfen müssen. Und das wird uns nicht gelingen, wenn wir das Gleiche bringen wie diese Pappnasenträger aus dem Unterschichtenfernsehen.«
Hedderich schwieg einen Moment, lockerte den Schal um seinen Hals und blickte Merz ernst an.
»Lorenz, es geht hier nicht um mein persönliches Humorverständnis. Es geht um die Existenz der Kompanie. Und das ist noch nicht einmal theatralisch übertrieben. Du weißt, dass wir in Schwierigkeiten stecken.« Ihm stockte die Stimme. »In verdammt ernsten Schwierigkeiten.«
»Ja, ich weiß, Alfons«, antwortete Merz leise. »Und ich weiß auch, was ich dir alles zu verdanken habe. Ich wäre heute vielleicht noch Requisiteur am Gärtnerplatz-Theater, wenn du damals nicht meine Rede als Hochzeitsclown gehört hättest und mich daraufhin –«
»Ja, ja, jetzt lass uns mal nicht sentimental werden, Lorenz. Das ist fast dreißig Jahre her, und noch ist nicht aller Tage Abend.« Die Luft im Bühnenraum war stickig, die Klimaanlage nicht eingeschaltet. Hedderich atmete tief durch und erhob seinen massigen Körper mühsam aus seinem Stuhl, wenn er für seine einundsiebzig Jahre auch vergleichsweise fit und rüstig war. »Wenn du unbedingt mit diesem Grau zusammenarbeiten willst, dann sprich noch mal mit ihm. Sag ihm, dass wir hier keine Komiker brauchen, sondern Kabarettisten. Wir sind nicht die Gag-Factory.« Er sprach den Namen des Medien- und TV-Giganten aus, als rotze er den üblen Geschmack eines...




