E-Book, Deutsch, 192 Seiten
Luck Bamberger Fluch
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-86358-998-1
Verlag: Emons Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Franken Krimi
E-Book, Deutsch, 192 Seiten
Reihe: Horst Müller und Paulina Kowalska
ISBN: 978-3-86358-998-1
Verlag: Emons Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Harry Luck wurde 1972 in Remscheid geboren. In München studierte er Politikwissenschaften und arbeitete dort als Autor, Korrespondent und Redakteur u.a. für 'Abendzeitung', 'Focus' und mehrere Nachrichtenagenturen. Seit 2012 arbeitet, schreibt und lebt er in Bamberg.
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EINS
»Mein Name ist Müller. Horst Müller.«
»Sie waren noch nie bei uns?«, fragte mich die junge Sprechstundenhilfe mit dem schwarzen Pagenschnitt und dem Nasenpiercing.
»Ich hatte angerufen, weil mein Hausarzt im Urlaub ist. Ich komme wegen–«
»Wegen dem Heuschnupfen, ich sehe schon. Kasse oder privat?«
»Ja, ich komme wegen des Heuschnupfens«, korrigierte ich den fehlenden Genitiv. »Privat. Ich brauche eigentlich nur ein Rezept für meinen Spray.«
Als Beamter mit Beihilfeanspruch war die private Versicherung für mich die beste Wahl.
»Ich habe Ihnen ja schon am Telefon gesagt, dass ich Sie dazwischenschieben muss. Ohne Termin müssen Sie mit Wartezeit rechnen.«
Wartezeit war ein Begriff, der für mich als Privatpatient bei meinem Hausarzt am ZOB ein Fremdwort war. In der Praxis von Frau Dr.Hollerbeck, die sich über einem Töpferladen am Jakobsplatz befand, war ich noch nie gewesen. Aber mehrere Kollegen aus dem Kommissariat schwärmten so begeistert von ihr, dass ich den Urlaub von Dr.Wolfsberger und meine gleichzeitige Heuschnupfenattacke für einen Ausflug zum Jakobsberg nutzte.
»Das heißt?« Ich schaute auf meine Tchibo-Armbanduhr. Die Gleitzeitregelung erlaubte mir, bis spätestens neun Uhr fünfzehn meinen Dienst in der Kriminalpolizeiinspektion antreten zu können, ohne die Leiterin des Kommissariats eins, Frau Kriminalrätin Veronica Stadel, zu informieren.
»Eine Stunde kann’s schon dauern«, sagte der Pagenschnitt und erweckte den Eindruck, dass dies noch gutmütig geschätzt war. »Das Wartezimmer ist voll. Grippewelle, Sie wissen schon.«
»Aber können Sie mir das Rezept nicht schnell ausstellen? Nasonex heißt der Spray. Nehme ich schon seit Jahren.«
»Tut mir leid.« Die Assistentin blieb hartnäckig. »Frau Dr.Hollerbeck stellt grundsätzlich kein Rezept an Patienten aus, die sie nicht angesehen hat. Ich brauche dann noch Ihre Adresse und Ihre Unterschrift für die Rechnung. Nehmen Sie dies mit und gehen Sie dort ins Wartezimmer!«
Ich glaubte ihr ansehen zu können, wie sie ihre Machtposition auskostete. Sie schob mir ein Klemmbrett mit einem Formular und einem Kugelschreiber über den Tresen und deutete auf eine Glastür am Ende des Ganges, in dem Bambusstangen in Blumentöpfen als Deko-Elemente aufgestellt waren. Ich widerstand der Versuchung, meine Polizeimarke auf den Tresen zu knallen und zu sagen: »Sie wissen wohl nicht, mit wem Sie es zu tun haben!«
Holzstäbchen in kleinen Flaschen auf Glasregalen verströmten einen angenehmen blumigen Duft. Eine ältere Dame hinter mir nieste demonstrativ in meinen Nacken, um auf die Dringlichkeit ihres Praxisbesuchs hinzuweisen.
Hoffentlich hat sie auch Heuschnupfen und keine Influenza, dachte ich. Ich kapitulierte vor dem gepiercten Praxisdrachen und ging in das Wartezimmer, wo ich mich in einem der wenigen freien Clubsessel niederließ, die mich mehr an ein gemütliches Bistro erinnerten als an eine Arztpraxis. Auch die in Rottönen gestrichenen Wände irritierten mich. Beim Arztbesuch wollte ich die Farbe Weiß sehen, nicht nur beim Arztkittel.
Ich musste meine Kollegin, Kriminalmeisterin Paulina Kowalska, über meine Verspätung informieren. Ein Schild mit einem rot durchgestrichenen Mobiltelefon veranlasste mich, eine SMS auf Paulinas Diensthandy zu schicken, anstatt sie anzurufen. Ich lehnte diese Form der Daumenakrobatik eigentlich strikt ab. Aber dies war wohl ein Notfall.
»KOMME SPAETER WG.ARZT.HM.«
Das musste reichen.
Sekunden später erschien ihre Antwort in meinem Telefon, das tatsächlich noch ein Tastentelefon war und kein tragbarer Minicomputer in Zigarettenschachtelgröße: »Alles klar, bis später, Sie Klemper!P.«, lautete die Nachricht auf dem gelb erleuchteten Display.
Klemper? Was sollte das heißen? Hatte die automatische Worterkennung meiner Kollegin einen Streich gespielt? So wie bei mir immer »DROGE OSTERN« erschien, wenn ich »FROHE OSTERN« wünschen wollte? Das war unwahrscheinlich. Denn Paulina beherrschte die neuen Kommunikationsmittel im Gegensatz zu mir aus dem Effeff. Ihr würde es nicht passieren, dass sie einem Liebhaber versehentlich schrieb: »Bewegst du deinen Elefanten Körper zu mir«, obwohl sie »eleganten Körper« schreiben wollte. Allein die Tatsache, dass für mich dieser drahtlose WiFi-Bluetooth-Hashtag-Quatsch immer noch »neue« Technik war, bewies den jungen Leuten doch schon, dass ich mit meinen knapp fünfzig Lebensjahren bereits zum alten Eisen gehörte.
Ich war nicht der Einzige im Wartezimmer, der auf einem Mobiltelefon herumdrückte. Einige informierten vermutlich ihre Mitmenschen auf Twitter darüber, welche Symptome sie gerade plagten, und bekamen im Gegenzug Therapievorschläge in hundertvierzig Zeichen. Hashtag Gute Besserung. Andere verfolgten online die aktuellen Börsenkurse. Ich hatte vor Kurzem von einer Studie gelesen, nach der es inzwischen weltweit üblich war, auf dem Klo Facebook zu lesen, und dass manche Menschen schon nicht mehr wüssten, was sie sonst auf der Toilette machen sollten. Im Wartezimmer schien es sich ähnlich zu verhalten.
Ich war froh, dass mein altes Nokia nicht viel mehr konnte als telefonieren. Eine Taschenrechnerfunktion gab es auch noch und ein Spiel namens Snake, das meine Tochter Andrea manchmal spielte, wenn sie mich besuchte. Sie betrachtete das wohl als zeitgeschichtliche Forschung, um zu erfahren, wie man sich in der Steinzeit Kurzweil verschaffte. Als Teenie hatte sie vermutlich im Leben noch keine Wählscheibe gesehen, außer vielleicht im historischen Museum. Für wenige Wochen hatte ich auch mal ein dienstliches Smartphone, das ich aber jeden Abend zu Hause aufladen musste. Als ich die Stadel fragte, ob ich die dafür anfallenden Stromkosten dem Dienstgeber in Rechnung stellen könne, durfte ich mein altes Nokia wieder verwenden. Bis zur Einführung des Digitalfunks nutzten die meisten Polizeibeamten für die interne Kommunikation ihre Handys, weil die als abhörsicherer galten.
Ich griff zur neuen Ausgabe des »Stern«, die in der Mitte des Raumes auf einem runden Glastisch lag. Das Titelbild zeigte einen Ausschnitt aus einem bunten Gemälde mit hässlichen Frauen voller Warzen und mit Hakennasen, die auf Besenstielen durch die Luft ritten. Darüber stand in roten Buchstaben geschrieben: »Deutsche Walpurgisnacht– die Rückkehr des Hexenzaubers«. Wer in Bamberg lebte, war aus historischen Gründen für das Hexenthema sensibilisiert.
Ich schlug die Titelgeschichte auf, deren aktueller Aufhänger der Kinofilm »Hexensabbat« war, dessen bundesweiter Start unmittelbar bevorstand. Ich erinnerte mich daran, dass die Dreharbeiten vor etwa einem Jahr auch in Bamberg an historischen Schauplätzen stattgefunden hatten. Die Alte Hofhaltung war wochenlang gesperrt, der Verkehr über den Domplatz, auf dem Pferdemist das Kopfsteinpflaster überdeckte, war im Viertelstundentakt unterbrochen worden. Und draußen in Scheßlitz hatte man Scheiterhaufen aufgebaut und die Hexenverbrennungen authentisch in Szene gesetzt. Mich gruselte es beim Gedanken daran.
Der Artikel erstreckte sich über sechs Seiten und zeigte viele Fotos mit Ausschnitten aus dem Film, der das Schicksal einer Bamberger Bürgerstochter erzählte, die in die Hände der Hexenverfolger gefallen war. Aber auch Originalbilder waren abgedruckt, zum Beispiel ein Kupferstich, der das berüchtigte Bamberger Malefizhaus zeigte, in dem die brutalen Verhöre und Folterungen stattgefunden hatten, das nach dem Ende des Hexenwahns aber spurlos aus dem Stadtbild verschwunden war. In der Nähe wurde nur alljährlich zur Weihnachtszeit eine Bäckerei ausgerechnet zum »Hexenhäusla«.
Der Artikel war höchst spannend und anschaulich geschrieben. Ich vertiefte mich in die Lektüre, ohne im Einzelnen mitzubekommen, wie ein Patient nach dem anderen aufgerufen wurde. Ich erfuhr grausame Details über die Foltermethoden und die historischen Hintergründe über den als »Hexenbrenner« berüchtigt gewordenen Bamberger Fürstbischof Fuchs von Dornheim, der auch eine der Hauptfiguren im Film »Hexensabbat« war, dargestellt von einem Schauspieler, der mit einer Arztserie im ZDF bekannt geworden war und schon in meiner Lieblingskrimiserie »Derrick« in den achtziger Jahren einige Gastrollen gehabt hatte.
Mit den Worten »Herr Müller, bitte!« riss mich eine sanfte Stimme aus meiner fesselnden Lektüre.
Ich legte die Zeitschrift wieder auf den Glastisch.
»Bitte gehen Sie ins Sprechzimmer zwei«, sagte eine Arzthelferin.
Dann wurde ich zu Dr.Isabella Hollerbeck vorgelassen.
* * *
Ich schätzte Dr.Hollerbeck auf etwa fünfzig. Ihre kinnlangen, glatten Haare waren auf eine unnatürliche Weise schwarz. Sie trug keinen weißen Kittel, sondern einen violetten Hosenanzug. Mit ihren dunklen Augen sah sie mich durchdringend an, während sie auf den Stuhl vor ihrem Schreibtisch deutete. Sie blickte ernst und ließ keine Gefühlsregung erkennen.
Das Zimmer, in dem mich die Ärztin empfing, erinnerte mehr an einen gemütlich eingerichteten Salon als an ein Sprechzimmer. Rote Vorhänge vor den Fenstern dunkelten den Raum ab. An den Wänden hingen Aquarelle, die farbenfrohe Landschaften und Sonnenuntergänge zeigten. Ein leise plätschernder Steinbrunnen in der Mitte des Raums strahlte etwas Beruhigendes aus. Unter einem Fenster stand ein roter Plastikwichtel, der den Komponisten Richard Wagner verkörperte. Diese Figuren...




