Lucier | Das Fieber | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 384 Seiten

Lucier Das Fieber

Historisch und doch hochaktuell: ein Roman über die Spanische Grippe
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-646-92752-8
Verlag: Carlsen
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Historisch und doch hochaktuell: ein Roman über die Spanische Grippe

E-Book, Deutsch, 384 Seiten

ISBN: 978-3-646-92752-8
Verlag: Carlsen
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Ein fesselnder Roman voller aktueller Bezüge in Zeiten der Corona-Epidemie Herbst 1918: Die Spanische Grippe hat die Welt bereits im Griff. Aber für Cleo ist sie weit weg, sie ist mit sich selbst und ihrer Zukunft beschäftigt: Heiraten, Bohemien werden oder an die Universität? Doch die Gegenwart holt Cleo bald brutal ein. Die Seuche erreicht ihre Heimatstadt: Schulen, Geschäfte, Theater schließen - das öffentliche Leben kommt zum Stillstand. Quarantäne-Maßnahmen greifen tief in die Gesellschaft ein. Und die Zahl der Opfer wächst: Nicht Kleinkinder und Alte, sondern vor allem Menschen in der Blüte ihres Lebens sterben. Als das Rote Kreuz freiwillige Helfer sucht, beschließt Cleo, nicht mehr untätig zu sein. Selbst wenn es den Tod bedeuten könnte.

Makiia Lucier ist auf der pazifischen Insel Guam aufgewachsen, hat Publizistik und Bibliothekswissenschaft studiert und lebt heute in dem Universitätsstädtchen Moscow, Idaho. 'Das Fieber' ist ihr erstes Buch.
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1


Samstag, 21. September 1918

In den folgenden Wochen sollte ich mir wünschen, vieles anders gemacht zu haben. Meinen Bruder vielleicht umarmt und gesagt zu haben: Ich liebe dich, Jack. Worte, die ich schon seit Jahren nicht mehr ausgesprochen hatte. Oder Lucy ein bisschen fester gedrückt und gesagt zu haben: Danke. Danke, dass du dich um mich gekümmert hast, da meine Mutter es nicht tun konnte. Aber der Abstand zwischen Rückschau und Vorausschau ist so groß wie der Pazifik. Und am letzten Abend, den meine Familie in der Stadt verbrachte, war es sicher nicht Dankbarkeit, die mein Interesse bestimmte, sondern ich selbst. Mein jämmerliches, bedauernswertes, unehrgeiziges Ich.

Berühmte amerikanische Frauen: Porträts aus Vergangenheit und Gegenwart. Auf dem Sofa zusammengerollt, las ich das Buch von der ersten bis zur letzten Seite und hoffte darauf, dass eine plötzliche Eingebung meinem Elend ein Ende setzen würde. Das! Das ist deine Bestimmung, Cleo Berry. Jetzt geh und leb dein Leben.

Bisher erfolglos.

Ich ging den Band noch mal durch. Abigail Burgess Grant, Leuchtturmwärterin in Matinicus Rock, Maine. Ich versuchte es mir vorzustellen: die windgepeitschte Küste, die salzige Luft, die nächsten Nachbarn meilenweit entfernt. Nein, dachte ich. Zu einsam. Ich blätterte um. Isabella Marie Boyd, Spionin in Kriegszeiten. Zu gefährlich. Geraldine Farrar, Opernsängerin. Nicht annähernd talentiert genug. Ich betrachtete den Eintrag über Eleanor Dumont, die erste weibliche Blackjack-Spielerin, auch bekannt unter dem Namen Madame Moustache. Meine Laune besserte sich ein wenig, als ich mir den Gesichtsausdruck meines Bruders ausmalte.

Lucy saß mir, fürs Abendessen angekleidet, gegenüber und studierte leise murmelnd ihren Reiseplan. Jack stand neben dem Wohnzimmerfenster und goss Whiskey in ein Glas. Die Krawatte hatte er gelockert und sein dunkelblaues Jackett über den Klavierhocker geworfen. Wir ähnelten beide unserem Vater, Jack und ich, mit den grauen Augen, dem pechschwarzen Haar und – zur großen Verlegenheit meines Bruders – so tiefen Grübchen, dass man darin ein Boot hätte zu Wasser lassen können. Jack sah zu mir herüber, begegnete meinem Blick und hielt das Glas in meine Richtung. Ein freundliches Angebot. Mein Bruder, der sechzehn Jahre älter war als ich, pflegte eine unorthodoxe Art der Vormundschaft: auf einigen Gebieten tolerant, auf anderen autoritär. Whiskey war erlaubt. Junge Männer nicht.

Ich schüttelte den Kopf, dann fragte ich: »Was ist eine Ornithologin?«

Jack steckte den Stopfen zurück in die Karaffe. »Eine Ornithologin? Jemand, der Vögel studiert, glaube ich.«

Enttäuscht senkte ich den Blick. Florence Augusta Merriam Bailey, Ornithologin. Nein, zu langweilig. Es war aussichtslos.

»Trink das hinter einem Vorhang, Jackson«, sagte Lucy, die aus dem Fenster blickte, durch das man sah, wie Mrs Pike ihr Haus gegenüber betrat. Mrs Pike, die einzige Nachbarin, die wir kannten, die die Prohibitionsgesetze von Oregon ernst nahm. »Diese Frau würde uns nach Australien schicken lassen, wenn sie könnte. Cleo auch.«

»Ich glaube nicht, dass heutzutage noch Verbrecher nach Australien verschifft werden, Schatz.« Aber Jack gehorchte und trat vom Fenster weg.

Lucy sah mich stirnrunzelnd an. »Bist du sicher, dass du zurechtkommst, solange wir unterwegs sind?« Sie hielt inne, sorgfältig darauf bedacht, ihren Mann nicht anzusehen. »Du weißt, dass du auch mitkommen könntest.«

Jack räusperte sich und gab sich noch nicht einmal Mühe, seinen gequälten Gesichtsausdruck zu verbergen. Ich musste lächeln. Morgen würden Lucy und er einen Zug nach San Francisco besteigen, um ihren dreizehnten Hochzeitstag zu feiern. Es sollte ein ausgedehnter Urlaub werden, in Kombination mit einigen geschäftlichen Angelegenheiten, die Jack zu erledigen hatte. Sie würden sechs Wochen wegbleiben.

»Niemand will auf einer Reise zum Hochzeitstag seine kleine Schwester dabeihaben«, erklärte ich. »Das ist das Gegenteil von romantisch.«

»Danke, Cleo«, sagte Jack. Lucy sah aus, als wollte sie Einspruch erheben.

»Mir wird nichts passieren. Wirklich«, fügte ich hinzu, da ich den wahren Grund für ihre Besorgnis kannte. »So weit nach Westen wird die Grippe nicht vordringen. Das sagen alle.«

Ich hatte von der Spanischen Grippe gehört. Wer hatte das nicht? Eine besonders schwere Form der Influenza hatte sich an der Ostküste ausgebreitet, ganze Familien ins Spital gebracht und die Ausbildungslager der Armee lahmgelegt. Die Zeitungen waren voll von grausigen Schilderungen aus Boston, Philadelphia und New York – Städten, die so weit weg lagen, dass sie zu einem anderen Land hätten gehören können. Aber das war das ganze Ausmaß. Hier in Oregon, in Portland, waren wir in Sicherheit. Die Spanische Grippe hatte kein Interesse an den nordwestlichen Staaten.

»Also gut.« Lucy gab sich geschlagen. »Aber das hier ist für dich.« Sie reichte mir ihren Reiseplan. Er enthielt die Abfahrts- und Ankunftszeiten ihrer Züge, dazu die Namen von Freunden entlang der gesamten Pazifikküste, die ich anrufen konnte, wenn ich Hilfe bräuchte. Außerdem eine Erinnerung, dass sie am dritten November, einem Sonntag, zurückkehren und dann gleich bei St. Helen’s Hall vorbeikommen würden, um mich abzuholen.

Die immer gleiche Klage lag mir auf der Zunge und ich schluckte sie mit Mühe hinunter. Ich wollte ihnen nicht den letzten Abend verderben, indem ich ihnen zeigte, wie unglücklich ich war. Das wussten sie bereits. Aber in meinem Inneren hätte ich am liebsten irgendwo gegengetreten.

Viele meiner Klassenkameradinnen stammten von außerhalb der Stadt, reisten aus Orten wie Coos Bay, Eugene, Bend und Sisters an. Andere kamen von noch weiter her: Juneau, Coeur d’Alene, Walla Walla, sogar Honolulu. Manche wohnten unter der Woche im Internat und verbrachten die Wochenenden bei ihrer Familie. Andere reisten nur in den Ferien nach Hause.

Ich war eine externe Schülerin. Jack fuhr mich jeden Morgen auf dem Weg ins Büro zur Schule und nachmittags ging ich zu Fuß nach Hause. Oder fuhr mit der Straßenbahn. Aber solange Jack und Lucy weg waren, wurde das Haus geschlossen. Unsere Haushälterin Mrs Foster bekam frei. Sie würde ebenfalls morgen abreisen, mit dem Dampfschiff, um ihren Sohn in Hood River zu besuchen.

Ich hatte darum gebettelt, alleine zu Hause bleiben zu dürfen, denn der Gedanke, sechs Wochen im Internat zu wohnen – fern von meinem gemütlichen Schlafzimmer, fern von jeder Hoffnung auf Privatsphäre – , behagte mir nicht im Geringsten. Aber mein Bruder hatte kein Verständnis dafür. Er hatte selbst im Internat gewohnt und sagte, es bilde den Charakter. Und ich solle nicht murren, denn so furchtbar ein Mädcheninternat auch sein mochte, ein Jungenwohnheim war tausendmal schlimmer.

Ich überflog den Rest von Lucys Notizen. Einmal in der Woche, jeden Samstag, sollte ich im Fairmont Hotel in San Francisco anrufen, um zu bestätigen, dass ich noch unter den Lebenden weilte. Meine Güte, dachte ich.

»Mein Gott«, sagte Jack, der mir über die Schulter sah, gleichzeitig. »Lucy, sie ist siebzehn, keine sieben.«

Lucy warf ihm einen missbilligenden Blick zu, dann ging sie den gesamten Plan mit mir durch. Ich widerstand dem Drang, die Augen zu schließen. Der Geruch nach Bratkartoffeln drang aus der Küche und mir fiel ein, dass Mrs Foster für unser letztes Abendessen Lachs zubereitete. Hinter Lucy in der Diele standen riesige Stapel Gepäck, genug Truhen, Koffer und Hutschachteln, um sechs Personen elegant auszustatten.

Unauffällig hob ich eine Ecke des Reiseplans an und linste auf mein Buch. Maria Mitchell, die erste weibliche Astronomin Amerikas und Direktorin der Sternwarte am Vassar College. Kate Furbish, Botanikerin und Illustratorin. Harriet Boyd Hawes, Pionierin auf dem Gebiet der Archäologie. Ich ließ den Kopf zurück ans Polster sinken und stieß einen langen gequälten Seufzer aus.

»Wer hat denn den Bären hereingelassen?«, rief Lucy.

Ich richtete mich auf. Während ich vor mich hin geträumt hatte, hatte Jack sich neben Lucy gesetzt, das Glas in einer Hand, den anderen Arm auf die Rückenlehne des Sofas gelegt. Zwei Augenpaare betrachteten mich in gespielter Verzweiflung.

»Dieses Schnaufen«, fuhr Lucy fort. »Was bedrückt dich denn, Cleo?«

Nun, was konnte es schaden, es ihnen zu erzählen? Vielleicht konnten sie mir sogar helfen.

»Es ist doch erst September«, sagte Lucy, nachdem ich mein Dilemma dargelegt hatte. »Du hast noch neun Monate Schule.«

»Es kann doch nicht sein, dass du die Einzige bist, die noch nicht weiß, was sie anschließend machen soll«, fügte Jack hinzu. »Da musst du dich doch nicht wie ein Trottel fühlen.«

»Das tue ich aber. Ich fühle mich aber wie ein Trottel.« Ich zählte meine Freundinnen an der Hand ab. »Louisa heiratet im Juli.« Ich klappte einen Finger um. »Ihr Verlobter ist fast dreißig und hat kaum noch Haare. Aber er ist sehr reich und ihr Herr Papa findet ihn äußerst attraktiv.«

Jack schnaubte. Lucy lachte und strich den Rock ihres saphirblauen Kleides glatt. Meine Schwägerin war klein, blond und hübsch, mit Augen, die eher bernsteinfarben als braun waren. Niemand wunderte sich, wenn er erfuhr, dass sie in Paris geboren war. Sie sah wirklich aus wie eine Französin und hielt sich auf eine Art, dass...


Makiia Lucier ist auf der pazifischen Insel Guam aufgewachsen, hat Publizistik und Bibliothekswissenschaft studiert und lebt heute in dem Universitätsstädtchen Moscow, Idaho. "Das Fieber" ist ihr erstes Buch.



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