E-Book, Deutsch, 288 Seiten
Lucadou Die Hochhausspringerin
1. Auflage 2018
ISBN: 978-3-446-26152-5
Verlag: Hanser Berlin in Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 288 Seiten
ISBN: 978-3-446-26152-5
Verlag: Hanser Berlin in Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Julia von Lucadou wurde 1982 in Heidelberg geboren und ist promovierte Filmwissenschaftlerin. Sie arbeitete als Regieassistentin, Redakteurin beim Fernsehen und als Simulationspatientin; sie lebt in Biel, New York und Köln. Ihr erster Roman Die Hochhausspringerin (2018) stand auf der Shortlist für den Schweizer Buchpreis und wurde mit dem Schweizer Literaturpreis ausgezeichnet.
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So sehe ich Riva heute: mit einem Plastikkreisel spielend wie ein Kind. Die Beine abgespreizt, den Oberkörper vorgebeugt. Ich höre das Kreiselgeräusch ihr Apartment ausfüllen, ein monotones Summen. Dann fällt der Kreisel zur Seite. Ihre Hand greift nach ihm, ich sehe die Hand, höre Drehen, Summen, Stille, Drehen, Summen, Stille, in Endlosschleife.
Ich frage mich, ob man ihr Spiel als Zwangshandlung beschreiben kann. Und wo sie das Spielzeug aufgetrieben hat. Vielleicht erlebt es ein Revival auf irgendeinem Lifestyle-Blog, ein Modeimpuls, der in ein paar Monaten wieder vergessen sein wird.
Ich sehe Rivas lange, weiße, ausgestreckte Beine. Das Sommerkleid klebt ihr am Körper, ihre Brust glänzt vom Schweiß. Weigerung, die Klimaanlage anzustellen, notiere ich und in der Kommentarspalte: Selbstkasteiung/Hinweis auf Schuldgefühle?
Das Bild ist überbelichtet. Die Nachbarhäuser reflektieren Sonnenlicht durch die breiten Fensterflächen. Ich passe die Helligkeit des Monitors an.
Das Kreiselgeräusch dröhnt mir in den Ohren. Ich spüre eine leichte Übelkeit und einen beginnenden Clusterkopfschmerz ums rechte Auge. Ich konzentriere mich auf meine Atmung, um eine Attacke zu verhindern, ein und aus.
Das Monitorbild verschwimmt vor meinen Augen. Eiswürfel klackern gegen den Rand meines Wasserglases. Ich halte es mir an die Stirn und lasse das Kondenswasser über die Nase herabrinnen.
Die Wettervorhersage für die nächsten drei Tage: Hitze, kein Regen. Air Quality Index schlecht, Feinstaubbelastung hoch.
Kondenswasser läuft mir ins Dekolleté. Ich setze das Glas ab, um Eiswürfel nachzufüllen, und beginne das Spiel von vorne, Stirn, Nase, Mund, Brust.
Plötzlich ein schrilles Benachrichtigungspiepsen. Ich suche nach dem Tablet auf meinem Schreibtisch. Es blinkt stumm. Der Ton ist nicht mein Ton, er kommt aus den Lautsprechern des Monitors, leicht übersteuert. Ich schwenke die Kamera von Riva weg in den Raum hinein, bis ich das Tablet auf ihrem Wohnzimmertisch entdecke.
Riva reagiert nicht.
Nach zwanzig Sekunden beginnt sie den Ton nachzuahmen, sie piept vor sich hin wie eine Maschine.
Meine Schläfe pocht, ich drehe den Lautstärkeregler herunter.
Ihre Stresshormonwerte, hat Master gesagt, sind zu hoch. Sie müssen mehr auf sich achten. Meditation, Entspannungsübungen. Bewusst atmen. Lärm vermeiden.
Auf dem Monitor wird eine Türe aufgestoßen. Aston im Türrahmen. Er rennt zum Tablet und drückt auf den Touchscreen. Das Piepsen bricht ab. Meine Nackenmuskeln entspannen sich.
— Kannst du das verdammt noch mal selber ausmachen!
Ich notiere Rivas abgewandte Körperhaltung, ihren Reflex, die Beine nahe an den Körper heranzuziehen. Schutzhaltung, schreibe ich und in die Recherchespalte: Hinweis auf häusliche Gewalt? Bisher hat die Datenanalyse hierfür keine Anhaltspunkte geliefert.
Aston stellt die Klimaanlage an. Am Fenster hebt er seine Kamera und blickt durchs Objektiv hinunter auf die Stadt. Seit Projektbeginn habe ich ihn in der Wohnung nicht ohne Kamera gesehen. Er trägt sie an einem Riemen um den Hals, so dass sie auf Bauchhöhe hervorsteht wie eine Geschwulst.
Beim Fotografieren erscheint Aston am verletzlichsten, am meisten bei sich selbst, der Moment so intim, dass es mir beinahe unangenehm ist, ihm dabei zuzusehen. Sein Mund angespannt hinter dem Apparat, während er fokussiert, halb geöffnet, dann das erleichterte Absinken der Mundwinkel nach dem Auslösen.
In der Aufsicht betrachtet, franst das Wohnzimmer zu seinen Rändern hin strahlenförmig aus. Aston hat Stellwände mit digitalen Fotorahmen rechtwinklig zur Wand aufgestellt, um den Platz bestmöglich auszunutzen. Ständig wechselnde Bilder wie Werbeschleifen auf einem Taximonitor. Es hat etwas Narzisstisches, wie er den wertvollen gemeinsamen Wohnraum zu seinem persönlichen Ausstellungsraum macht. Jede Nacht lädt er neue Fotografien hoch, bevor er ins Bett geht. Die Bilder der letzten Wochen: der immer gleiche Blick aus dem Hochhauskomplex, ameisengroße Köpfe und spielzeuggroße Fahrzeuge aus der Vogelperspektive in verschiedenen Formationen. In meinem ersten Tagesbericht habe ich die These aufgestellt, dass es sich dabei um eine empathische Übung handelt. Den Versuch, sich hineinzuversetzen in seine Partnerin, deren einzige Verbindung zur Außenwelt der Blick aus dem Fenster bleibt.
In der Mitte, auf einer eigenen Stellwand, Astons Opus Magnum Dancer_of_the_Sky™, vier Digiframes à zweiunddreißig Zoll, im Zehn-Minuten-Loop. Es ist die Fotoreihe, die ihn vor vier Jahren über Nacht berühmt machte. Bilder von Riva im Absprung, Riva in der Luft, langgestreckt zwischen den Häuserreihen, den Körper präzise ausgerichtet, die Hände über dem Kopf ausgestreckt und aneinandergelegt wie eine Balletttänzerin. Ihr Körper silberfarben glitzernd im Flysuit™. Aston hat den Effekt der Lichtspiegelung in den Hochhauswänden durch die Belichtung so manipuliert, dass der Hintergrund um sie herum ausbrennt. Eine sakrale Superheldin, die vom Himmel herabstößt.
Das regelmäßige Klicken des Auslösers von Astons Kamera verbindet sich mit Rivas stetig wieder in Gang gesetztem Kreiselton, rhythmisch konturierte Geräuschflächen, beinahe melodisch. Ein absichtsloses Zusammenspiel.
Ich notiere den Effekt in einer weiteren Protokollspalte. Mit dem Wachsen der Datenmenge wächst auch die Notwendigkeit von Markierungssystemen, einer Ordnung, die die Analyse erleichtert. Erst wenn genügend Informationen erschlossen wurden, wird das Bemerkenswerte sichtbar, subtile Brüche und Widersprüche, die zugrundeliegenden Strukturen, die Triebwerke im Innern.
Es hat etwas von Fabrikarbeit, dieser erste Schritt, das Notieren des Alltäglichen. Meine Beobachtungen wiederholen sich in so regelmäßigen Abständen wie Astons Fotografien in den Rahmen. Riva am Boden, Riva mit dem Kreisel, Riva schwitzend in der Sonne. Aston, der aus dem Studio kommt und die Temperatur anpasst.
— Du weißt, dass das wieder eine Vorladung war, sagt er jetzt, das Tablet hochhaltend.
Meinem Protokoll entnehme ich, dass er den gleichen Satz vor zwei Tagen schon einmal gesagt hat, in derselben Formulierung. Ich frage mich, welche Sätze ich täglich wiederhole, ohne es zu merken.
Aston hat das Tablet zur Seite gelegt und hält seine Kamera an die Brust gedrückt. Die anderen Apparate nutzt er höchstens als Backup. Dieser ist ein Vintage-Modell, hergestellt vor circa zwanzig Jahren. Astons Finanzbewegungen zeigen an, dass er es vor drei Monaten beim zweitgrößten Online-Reseller gekauft hat.
— Für jede unterlassene Rückmeldung zahlst du Strafe. Wir zahlen so lange, bis nichts mehr da ist. Und dann zahlen wir woanders weiter.
Riva tut so, als ob sie ihn nicht hören würde. Sie greift nach dem Kreisel, so dass Aston über das Geräusch hinweg sprechen muss.
— Hast du keine Angst, dass deine Muskeln sich zurückbilden? Irgendwann kannst du nicht mehr aufstehen. Das geht schneller, als du denkst.
Riva zuckt mit den Schultern und greift nach dem Kreisel, unterbricht ihn in der Bewegung, setzt noch mal an. Der rapide Abbau ihres Körpers, der schnelle Muskelschwund und Gewichtsverlust, bereitet mir ebenfalls Sorgen. Riva verweigert sich seit dem Vertragsbruch den Pflichtuntersuchungen, ihren Activity Tracker trägt sie nicht mehr. Es gibt keine Möglichkeit, ihre Fitnesswerte mit Sicherheit zu bestimmen, aber es ist offensichtlich, dass sie sich täglich verschlechtern.
— Dein Körper braucht Vitamin D, sagt Aston in leicht verändertem Ton, fürsorglicher, dringlicher. Mehr natürliches Licht.
Seine Einsatzbereitschaft imponiert mir, die Geduld, mit der er sich ihr täglich widmet, die Annäherung versucht.
— Das ist im Vitaminwasser, sagt Riva mit abgewandtem Gesicht.
Ich setze den Tageszähler ihrer gesprochenen Sätze nach oben. Bisher lässt sich keine grundlegende Verbesserung der Kommunikationsbereitschaft ablesen.
Aston hat sich aus der Position am Fenster gelöst, ohne dass ich es bemerkt habe. Er steht etwa einen Meter vor Riva, geht dann langsam um sie herum. Er betrachtet sie von allen Seiten, legt den Kopf schief, geht in die Hocke. Dann beginnt er, Fotos von ihr zu machen.
— Ich hab eine Idee für ein neues Projekt, sagt er.
Rivas Hand greift nach dem Kreisel. Er entgleitet ihren Fingern zu früh und dreht sich nur kurz.
Ich beobachte einen Stimmungswandel in Astons Gesichtszügen, Ungeduld, offene Frustration.
— Nur weil du deine Karriere an den Nagel hängst, heißt das...