E-Book, Deutsch, Band 31
Reihe: Cabra-Leder-Reihe
E-Book, Deutsch, Band 31
Reihe: Cabra-Leder-Reihe
ISBN: 978-3-641-32439-1
Verlag: Anaconda Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
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Die Musik des Erich Zann Obwohl ich mit größter Sorgfalt die Stadtpläne studiert habe, gelang es mir nicht, die Rue d’Auseil wiederzufinden. Es waren nicht nur moderne Stadtpläne, denn mir ist bewusst, dass sich Straßennamen ändern. Ganz im Gegenteil, ich habe mich tief in sämtliche Antiquariate vergraben und persönlich jeden Bezirk dieser Stadt nach jedem Namen durchforscht, der auch nur irgendwie an die Straße erinnerte, die ich als Rue d’Auseil kannte. Doch trotz all meiner Bemühungen bleibt es eine verstörende Tatsache, dass ich weder das Haus noch die Straße noch nicht einmal das Viertel finden konnte, wo ich während der letzten Monate meines ärmlichen Lebens als Student der Metaphysik an der Universität die Musik des Erich Zann gehört habe. Mich wundert nicht, dass meine Erinnerung Lücken aufweist, denn meine geistige und körperliche Gesundheit wurde während der Zeit, als ich in der Rue d’Auseil wohnte, stark beeinträchtigt, aber ich erinnere mich, dass ich keinen meiner wenigen Bekannten mit dorthin nahm. Doch dass ich den Ort nicht mehr finden kann, ist zugleich einzigartig und verstörend, denn es war nur eine halbe Stunde Fußweg zur Universität und er wurde gesäumt von auffälligen Besonderheiten, die jemand, der dort war, wohl kaum vergisst. Ich habe nie jemanden getroffen, der in der Rue d’Auseil war. Die Rue d’Auseil lag jenseits eines dunklen Flusses, an dessen Ufer steil aufragende Lagerhäuser aus Ziegeln mit blinden Fensterscheiben standen und über den sich eine massige, dunkle Steinbrücke wölbte. Am Fluss war es immer schattig, so als ob der Rauch der anliegenden Fabriken die Sonne permanent ausschließen würde. Der Fluss selbst verbreitete üble Gerüche, die ich nirgendwo sonst gerochen habe und die mir vielleicht eines Tages den Weg weisen werden, denn diesen Geruch werde ich sofort wiedererkennen. Auf der anderen Seite der Brücke gab es schmale Kopfsteinpflasterstraßen mit Geländern und danach der Anstieg, erst nur wenig, doch dann, wenn man die Rue d’Auseil erreichte, ziemlich steil. Nie habe ich eine Straße gesehen, die so steil und schmal war wie die Rue d’Auseil. Sie war fast wie eine Klippe und für alle Fahrzeuge gesperrt, hatte eine Reihe von Treppenfluchten und endete oben an einer efeubewachsenen Mauer. Das Pflaster war unregelmäßig und bestand teilweise aus Steinplatten, teilweise aus Pflastersteinen und manchmal auch dem blanken Boden mit einem grünlichen Bewuchs. Die Häuser waren hoch und hatten spitze Dächer, waren unglaublich alt und neigten sich wild nach vorne, hinten oder zur Seite. Manchmal berührten sich zwei vorwärts geneigte gegenüberstehende Häuser fast über der Straße wie zu einem Bogengang, und ganz gewiss hielten sie den größten Teil des Lichts vom Boden ab. Es gab einige Brücken über der Straße, die zwei Häuser verbanden. Die Bewohner dieser Straße beeindruckten mich auf eigentümliche Weise. Zuerst dachte ich, es läge daran, dass sie alle verschwiegen und zurückhaltend waren, doch später dann merkte ich, dass es an ihrem hohen Alter lag. Ich weiß nicht, wie es dazu kam, dass ich mir in einer solchen Straße eine Wohnung nahm, doch ich war nicht ganz ich selbst, als ich dorthin zog. Ich hatte an vielen ärmlichen Orten gelebt, immer knapp bei Kasse, bis ich schließlich in dieses verfallene Haus in der Rue d’Auseil kam, das von dem gelähmten Blandot geführt wurde. Es war das dritte von oben und bei Weitem das höchste von allen. Mein Zimmer befand sich im vierten Stock, das einzig bewohnte auf dieser Etage, denn das Haus stand fast leer. Am Abend, als ich einzog, hörte ich aus der Mansarde über mir seltsame Musik und am nächsten Tag fragte ich Blandot danach. Er sagte, dass es ein alter deutscher Geigenspieler sei, ein merkwürdiger stummer Mann, der sich als Erich Zann eingeschrieben hätte und abends in einem billigen Theaterorchester spielte, und er fügte hinzu, dass es Zanns Verlangen, abends, nach seiner Rückkehr von dem Orchester, noch zu spielen, gewesen sein, warum er die hohe Mansarde mit dem einzigen Fenster in der Giebelwand genommen hätte, von dem aus er über die Grenzmauer auf das ansprechende Panorama dahinter blicken konnte. Danach hörte ich Zann jede Nacht spielen und obwohl mich sein Spiel nicht schlafen ließ, war ich von seiner absonderlichen Musik gefangen. Ich hatte nicht viel Ahnung von Kunst, doch ich war mir sicher, dass keine seiner Melodien irgendeinen Bezug zu einer Musik hatte, die ich schon einmal gehört hatte, und schloss daraus, dass er ein Komponist von großer Originalität sein musste. Je länger ich zuhörte, desto mehr faszinierte sie mich, bis ich nach einer Woche beschloss, die Bekanntschaft des alten Mannes zu suchen. Eines Abends, als er von seiner Arbeit kam, trat ich ihm im Korridor entgegen und erklärte, dass ich ihn kennenlernen und bei ihm sein wollte, wenn er spielte. Er war eine kleine, schmale, gebeugte Person mit schäbiger Kleidung, blauen Augen, einem merkwürdig satyrgleichen Gesicht und einem fast kahlen Kopf, und nach meinen ersten Worten schien er zugleich verschreckt und wütend. Meine offene Freundlichkeit erweichte ihn schließlich, und grummelnd wies er mich an, ihm die quietschenden und wackligen Stufen hinauf in die Dunkelheit zu folgen. Seine Mansarde war eine der beiden einzigen unter dem steilen Dach und lag nach Westen, in Richtung der hohen Mauer, die das Ende der Straße bildete. Die Mansarde war sehr geräumig und erschien durch die karge Ausstattung noch größer. Die einzigen Möbel waren ein schmales eisernes Bett, ein Waschgestell, ein kleiner Tisch, ein großes Bücherregal, ein eiserner Notenständer und drei altertümliche Stühle. Auf dem Boden verstreut lagen Notenblätter herum. Die Wände waren blankes Holz und wahrscheinlich nie verputzt gewesen, während das Übermaß an Staub und Spinnweben den Ort eher verlassen denn bewohnt wirken ließ. Offensichtlich lag Erich Zanns erstrebenswerte Welt der Schönheit in einem weit entfernten Kosmos der Fantasie. Nachdem er mich genötigt hatte, Platz zu nehmen, schloss der stumme Mann die Tür, legte den hölzernen Riegel vor und entzündete eine Kerze, um seinen Gast in Augenschein zu nehmen. Nun holte er seine Fiedel aus der von Motten zerfressenen Hülle und setzte sich auf den am wenigsten unbequemen Stuhl. Er benötigte den Notenständer nicht, fragte mich auch nicht, was ich hören wolle, sondern spielte aus dem Gedächtnis und verzauberte mich über eine Stunde lang mit Melodien, die ich nie zuvor gehört hatte, Melodien, die er selbst ersonnen haben musste. Sie zu beschreiben ist für jemanden, der keine Ahnung von Musik hat, unmöglich. Sie waren eine Art Fuge mit Wiederholungen absolut unglaublicher Kunstfertigkeit, doch mir fiel auf, dass keine der absonderlichen Töne darunter waren, die ich bei anderer Gelegenheit in meinem Zimmer vernommen hatte. Jene Töne, die mich gefangen und die ich häufig mehr schlecht als recht vor mich hin gesummt oder gepfiffen hatte. Als der Geigenspieler schließlich den Bogen weglegte, fragte ich ihn, ob er ein paar davon spielen könnte. Kaum hatte ich meine Bitte ausgesprochen, verschwand aus dem faltigen, satyrgleichen Gesicht die gelangweilte Gleichgültigkeit, die er während seines Spiels gezeigt hatte, und es erschien der gleiche seltsame Ausdruck von Schrecken und Wut, den ich schon festgestellt hatte, als ich den alten Mann ansprach. Einen Moment lag versuchte ich ihn zu überreden, denn ich konnte sehr leicht die Schrullen des Alters erkennen, und versuchte sogar die Laune meines Gastgebers zu beeinflussen, indem ich einige der Melodien pfiff, die ich in der Nacht zuvor gehört hatte. Doch diese Absicht verfolgte ich nur einen Augenblick, denn als der stumme Musiker das Pfeifen vernahm, verzog sich plötzlich sein Gesicht auf unbeschreiblich abscheuliche Weise und er streckte seine knochige rechte Hand aus, um meinen Mund zum Schweigen zu bringen und so die grässliche Nachahmung zu unterbinden. Während er dies tat, stellte er seine Exzentrik noch dadurch unter Beweis, dass er einen erschrockenen Blick zu dem einsamen Fenster warf, als ob er Angst vor einem Eindringling hätte, ein Blick, der doppelt unsinnig war, befand sich die Mansarde doch hoch und unerreichbar über sämtlichen benachbarten Dächern und war das Fenster der einzige Punkt, wie mir der Hausverwalter gesagt hatte, von dem man aus über die Mauer auf der Hügelkuppe blicken konnte. Der Blick des alten Mannes brachte mir wieder Blandots Bemerkung in Erinnerung, und mit einer Anwandlung von Eskapismus fühlte ich den Wunsch, einen Blick über das weite, Schwindel erregende Panorama von im Mondlicht daliegenden Dächern und den Lichtern der Stadt hinter dem Hügelkamm werfen zu wollen, das sich von allen Bewohnern der Rue d’Auseil nur diesem griesgrämigen Musiker darbot. Ich bewegte mich auf das Fenster zu und hätte die unbeschreiblichen Vorhänge zur Seite gezogen, wenn der stumme Mieter nicht mit einer ängstlichen Wut, die noch größer war als zuvor, über mich hergefallen wäre. Diesmal deutete er mit seinem Kopf zur Tür und zog mich unruhig mit beiden Händen dorthin. Nun war ich ernsthaft über meinen Gastgeber verärgert, wies ihn an, mich loszulassen, und sagte ihm, dass ich sofort gehen würde. Sein Griff lockerte sich, und als er meine Verärgerung und Erregung bemerkte, milderte sich sein eigener Zorn. Sein Griff wurde wieder fester, doch diesmal als freundliche Geste, und er nötigte mich auf einen Stuhl, dann begab er sich nachdenklich zu dem überhäuften Tisch, wo er viele Worte mit einem Bleistift im...