Lourié / Liebermann | Briefe an Dich | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 280 Seiten

Lourié / Liebermann Briefe an Dich

Erinnerungen an das russische Berlin
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-7317-6037-5
Verlag: Schöffling
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Erinnerungen an das russische Berlin

E-Book, Deutsch, 280 Seiten

ISBN: 978-3-7317-6037-5
Verlag: Schöffling
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



'BRIEFE AN DICH sind die Erinnerungen der letzten Zeitzeugin des 'russischen Berlins' der zwanziger Jahre. In einer Mischung aus Tagebuch und Briefen schildert Vera Lourié ihre Kindheit und Jugend in St. Petersburg, wo sie behütet aufwuchs und sich als junge Frau der Schauspiel- und Dichtkunst zuwandte. Sie erzählt von der dramatischen Flucht der Familie nach der Oktoberrevolution ebenso anschaulich wie von den russischen Kreisen in Berlin, wo sie in einer Bohème aus Künstlern und Literaten verkehrte, Intrigen und Liebesaffären erlebte.Den Nationalsozialismus überlebte sie trotz ihrer Kontakte zum deutschen Widerstand, der Festnahme durch die Gestapo und der Inhaftierung ihrer Mutter im KZ Theresienstadt. Ihre beherzte Geistesgegenwart kam ihr auch zugute, als die sowjetische Armee, die bürgerlichen russischen Flüchtlingen feindlich gesonnen war, 1945 einmarschierte. Sie überstand Not und Hunger der Nachkriegszeit und war lange vergessen, bis sie als Literatin und Zeitzeugin wiederentdeckt wurde und sich im hohen Alter noch einmal verliebte. Dies bestärkte sie in der Niederschrift ihrer Erinnerungen, die nun endlich, um autobiografische Texte, Dokumente und Fotos aus dem Nachlass ergänzt, erstmals vollständig veröffentlicht werden.'

Vera Lourié, 1901 in St. Petersburg geboren, gehörte einer Dichtergruppe um Nikolaj Gumiljow an und floh mit ihrer Familie 1921 nach Berlin. Sie überlebte dort den Nationalsozialismus, den Krieg und den Einmarsch der Roten Armee. In den 80er Jahren wurde sie erstmals als Zeitzeugin befragt und ein Band mit ihren Gedichten publiziert.Vera Lourié starb 1998.
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Doris Liebermann

Einleitung

Vera Lourié war achtzig Jahre alt, als sie sich noch einmal leidenschaftlich verliebte: in eine jüngere Frau, die Gattin ihres Hausarztes. Dreißig Jahre lang hatte Vera Lourié kein Gedicht mehr geschrieben, nun begann sie, Liebesgedichte auf Deutsch zu verfassen.

Die Angebetete erwiderte die fordernde, besitzergreifende Liebe nicht. Sie sah in Vera eine Freundin, sorgte sich um ihr Wohlergehen, brachte ihr Medikamente. Jeden Montag tranken die beiden ein Glas Champagner zusammen.

Vera Lourié begann damals auch, ihre Erinnerungen aufzuschreiben, in Form der hier erstmals veröffentlichten Briefe, die an die Geliebte adressiert sind. Tagebuch einer Seele sollte die Briefsammlung als Buch heißen. Die kleine, gebrechliche russische Dichterin hatte zu dieser Zeit schon nicht mehr die Kraft, sich über Stunden zu konzentrieren. Sie konnte nicht mehr lange sitzen, ein Bein und die Hüfte schmerzten ständig. Das Laufen fiel ihr schwer, und die Wohnung konnte sie nur noch in Begleitung verlassen. Aber sie klagte nicht. »Alte Klamotte«, so nannte sie sich selbst. Ihre Briefe, die mehr und mehr zum Tagebuch wurden, schildern Fragmente eines Lebens voller Brüche, sie sind Stimmungsbild, Berliner Stadtgeschichte und Autobiografie in einem. Als sie während der Berliner Festwochen 1995 im Deutschen Theater daraus las, bekam sie stürmischen Applaus. Einen Verlag konnte sie indes zu Lebzeiten für ihre Aufzeichnungen nicht gewinnen.

Sie kam erst spät zu Ehren, die letzte Angehörige des legendären »russischen Berlins« der zwanziger Jahre. Lange trug Vera Lourié ihr Wissen mit sich, ohne dass sich jemand in Berlin dafür interessiert hätte. Es war auch ein Amerikaner, der die russische Dichterin Anfang der achtziger Jahre in West-Berlin »entdeckte«. Der Slawist Thomas R. Beyer vom Middlebury College war während seiner Arbeit an einer Monografie über den russischen Symbolisten Andrej Belyj, der von 1921 bis 1923 in Berlin gelebt hatte, auf die Spur der russischen Emigrantin gestoßen. In Amerika hatte Beyer die russische Schriftstellerin Nina Berberova gefragt, wer von den Russen der zwanziger Jahre noch in Berlin wohnen und Belyj gekannt haben könnte. Die Berberova hatte Vera Lourié genannt, es aber für unwahrscheinlich gehalten, dass sie die Nazi-Zeit überlebt hatte.1 Und wenn doch, war sie womöglich nach dem Krieg als »Weiße« ein Opfer der Roten Armee geworden. Als »bourgeois« abgestempelt, wurden russische Emigranten nach dem Einmarsch der Roten Armee in Berlin 1945 oft erschossen oder auf Jahre in Lager deportiert – von den eigenen Landsleuten.

Beyer suchte die alte Dame im Telefonbuch zunächst, korrekt aus dem Kyrillischen transkribiert, unter Lurje, Lurie, Luré. Vergeblich. Er wollte schon aufgeben, als ihm die französische Schreibweise in den Sinn kam. Tatsächlich fand er unter »Lourié« die Dichterin, die in den zwanziger Jahren zur russischen Bohème Berlins gehört hatte. Beyer machte sich nach Berlin auf und erfuhr von Vera Lourié unbekannte Details über Andrej Belyj und viele andere Schriftsteller, mit denen sie verkehrt hatte. Beyer war es auch, der Vera Louriés eigene Gedichte veröffentlichte. In Russland hatte sie nur drei Gedichte publizieren können, ihre Hefte mit den Strophen hatten die Wirrnisse der Zeit überstanden. Dank Thomas R. Beyer erschien der Band 1987 in einer Reihe der Staatsbibliothek Berlin.2 Überwiegend sind es russische Gedichte, ausgenommen das letzte. Es ist das Gedicht an die Freundin »Es war, es ist!« mit den Versen: »Da plötzlich das Wunder, das Wunder zu lieben!/Vergessen das Alter, nicht denken an Schmerzen!/Nach Dir nur geblieben/Die Sehnsucht im Herzen!/Das ist!//Gefallen die Schranken,/Die Leere genommen./Dem Himmel ich danke,/Die Fee ist gekommen!/Nur Du!//«

Als Professor Beyer an der Universität Göttingen über Andrej Belyj und dessen Berliner Zeit referierte, erwähnte er auch Vera Lourié. Er ermutigte die Slawistikstudenten, sie in Berlin zu besuchen. Eine Freundin, die in Göttingen studierte und Beyers Vortrag gehört hatte, erzählte mir davon. Ich studierte damals am Osteuropa-Institut der Freien Universität, vom »russischen Berlin« erfuhr ich dort nichts. Ich glaube, auch die Professoren hatten noch nichts oder wenig davon gehört. Die 300000 Russen, die zu Beginn der zwanziger Jahre in der Stadt Verlage, Zeitungen, Theater, Geschäfte, Schulen und Restaurants betrieben hatten, waren längst in alle Winde zerstreut, die Geschichte im geteilten Nachkriegsdeutschland in Vergessenheit geraten. Bücher wie Fritz Mieraus Russen in Berlin,3 Karl Schlögels Der große Exodus oder Berlin Ostbahnhof Europas4 waren zu dieser Zeit noch nicht erschienen, die Quellen waren verstreut und in den Ländern des Ostblocks nur schwer oder gar nicht zugänglich. Zusammen mit der Göttinger Freundin rief ich Vera Lourié an. Sie lud uns zum Tee ein, und bald gehörten wir zu ihrem Freundeskreis.

Schon seit 1933 lebte sie in einer bescheidenen, heruntergekommenen Hinterhofwohnung im Berliner Stadtteil Wilmersdorf. Ein Klavier, Bilder mit dem Portrait der Mutter und russischen Landschaften an den Wänden, Katzen. Weil sie nicht alle Kosten von ihrer Rente bestreiten konnte, vermietete sie zwei Zimmer an junge Leute, Studenten, die ihr im Alltag zur Hand gingen. Man fühlte sich an die Notgemeinschaften russischer »Kommunalkas« erinnert. Die Studenten kamen aus dem Iran oder aus Amerika. Nach dem Zerfall der Sowjetunion waren es meist russischsprachige, aus der Ukraine, aus Kasachstan, aus Turkmenistan. Sie nahm Anteil am Schicksal ihrer Mieter und wusste über die politischen Zustände der jeweiligen Länder Bescheid. Sie selbst begnügte sich mit dem Durchgangszimmer. Nie hörte man sie über die Enge und Unbequemlichkeit klagen, darüber, dass die jungen Leute erst ihr Bett passieren mussten, wenn sie in die vermieteten Räume wollten. Einsam zu sein wäre schlimmer für sie gewesen. Ich nahm lange Interviews mit ihr auf, aus denen Radiosendungen5 entstanden, ich befragte sie auch für einen Dokumentarfilm über das »russische Berlin«.6 Vera Lourié erinnerte sich lebhaft und sie konnte gut erzählen. Sie sprach mit energischer, tiefer, dunkler Stimme. Ihr Deutsch war russisch gefärbt.

Ich fragte sie nach der Herkunft ihres Namens. Sie sagte, er sei hugenottisch. Damals glaubte ich es bereitwillig. Später klärten mich russische Literaturwissenschaftler darüber auf, dass »Lur’e« ein jüdischer Name sei. Womöglich war erst Vera Louriés Vater zum evangelischen Glauben konvertiert, ein Schritt, durch den sie mitsamt der »Hugenotten-Legende« die Zeit des Nationalsozialismus überlebt hatte.

Die französische Schreibweise ihres Namens taucht in den Texten zum ersten Mal 1932 auf, bis zu diesem Zeitpunkt sind sie mit »Lur’e« unterzeichnet.

Am 21. April 1901 wurde Vera Jossifowna Lourié als Tochter wohlhabender Eltern in St. Petersburg geboren. Sie wuchs mit einem Schweizer Kindermädchen, einer estnischen Gouvernante und einem Privatlehrer so auf, wie man es aus den klassischen russischen Romanen kennt. Erst mit zwölf Jahren besuchte sie das Taganzewa-Gymnasium für Töchter aus höherem Hause. Der Großvater war ein erfolgreicher Börsenmakler, der Vater besaß als Arzt eine eigene Klinik in der Gorochowaja Uliza. Ihre ersten Lebensjahre verbrachte sie in einem imposanten Haus an der Fontanka, der Haupteingang befand sich in der Morskaja Uliza 48. Sie konnte sich gut an die weißen Nächte erinnern, die im Sommer die Stadt in ein geheimnisvolles, irisierendes Licht tauchten, auch an die Spaziergänge auf dem Newskij Prospekt, die sie, herausgeputzt im Matrosenkleid, als kleines Mädchen mit dem Kinderfräulein unternahm, am liebsten zum Kaufhaus Gostinnyj dwor, wo es den Stand mit den begehrten orientalischen Spezereien gab. In zärtlicher Erinnerung waren ihr die »amerikanskije shiteli« geblieben, die »amerikanischen Bürger«, ein Kinderspielzeug, das es auf dem Jahrmarkt in der Karwoche zu kaufen gab: in Glasröhren eingeschlossene Männchen, die sich auf Knopfdruck bewegen ließen. Auch den »mushik«, den hübschen Bauernjungen im roten Kittelhemd, der an der Fontanka Fisch verkaufte und den sie unbedingt heiraten wollte, vergaß sie nie.

Der Großvater besaß ein Logenabonnement im Mariinskij Theater, nach dem Genuss der Oper wurde in großen Gesellschaften gespeist. »Oft ließen sich meine Eltern noch um ein Uhr nachts vom Delikatessengeschäft Romanow Kaviar, Schinken und Champagner liefern«, erzählte sie gleichmütig. Das Geschäft liebte sie, weil dort drei Katzen waren. Man sprach fließend Französisch und reiste vor dem Ersten Weltkrieg im Sommer in die deutschen Badeorte Kissingen, Kreuznach und Wiesbaden, mit Zwischenaufenthalten in Berlin.

Die Revolution 1917 kam dem Freiheitsdrang der jungen Vera zunächst entgegen. Im allgemeinen Wirrwarr konnte sie endlich einmal der Gouvernante entwischen und vor der Sperrstunde jugendliche Verehrer zu schüchternen Rendezvous treffen. Ein Pädagogikstudium brach sie ab und belegte im 1919 gegründeten Petrograder Haus der Künste einen Schauspielkurs bei dem Regisseur Nikolaj Jewrejnow und einen Lyrikkurs bei dem Dichter Nikolaj Gumiljow.

Gumiljow, erster Ehemann der Lyrikerin Anna Achmatowa, war eine schillernde Figur im damaligen Petrograd, wie Petersburg seit 1914 hieß. Er unterrichtete eine Gruppe junger Künstler, die sich »Die tönende Muschel« nannte. Zu ihr gehörten Irina Odojewzewa, Georgij Iwanow, Nikolaj Tichonow,...


Vera Lourié, 1901 in St. Petersburg geboren, gehörte einer Dichtergruppe um Nikolaj Gumiljow an und floh mit ihrer Familie 1921 nach Berlin. Sie überlebte dort den Nationalsozialismus, den Krieg und den Einmarsch der Roten Armee. In den 80er Jahren wurde sie erstmals als Zeitzeugin befragt und ein Band mit ihren Gedichten publiziert.Vera Lourié starb 1998.



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