Lotze / Würth | Zeichensetzung | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, Band 16, 157 Seiten

Reihe: Linguistik und Schule

Lotze / Würth Zeichensetzung


1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-8233-0314-5
Verlag: Narr Francke Attempto Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, Band 16, 157 Seiten

Reihe: Linguistik und Schule

ISBN: 978-3-8233-0314-5
Verlag: Narr Francke Attempto Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Wie erlernt man die Interpunktion und was nützen uns Regeln? Jeder kennt griffige Formeln, doch eignen sie sich für die Schule? Die Welt der Zeichensetzung ist eine Welt der Mythen, der Halbwahrheiten und Fehlauffassungen. Dieser Band lädt dazu ein, sich in mancher Vorstellung wiederzufinden, fachliche Hintergründe zu erkunden und dabei die erstaunlichen Leistungen Lernender zu würdigen. Verständliche Erklärungen machen den wahren Kern in jedem Mythos der Zeichensetzung sichtbar, was zu einer bemerkenswerten gedanklichen Neuordnung führt: Wer durchschaut, warum vor und manchmal ein Komma steht, blickt auf ein einfaches Gesamtsystem. Wer versteht, warum manche beim Imperativ lieber kein Ausrufezeichen setzen, positioniert sich souverän gegenüber Normfragen. Dieser Band belehrt nicht. Er nimmt ernst. Er ist eine Entdeckungsreise für alle, die sich für Sprachliches interessieren.

Dr. Stefan Lotze unterrichtet an der Universität Jena zur Grammatiktheorie und zur Orthografie des Deutschen. Kathrin Würth ist Linguistin und Sprachdidaktikerin an der Pädagogischen Hochschule Luzern.

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3.4 „Regeln haben ausgedient“
Die Relativierung des Stellenwerts von Regeln kann zu dem Schluss verführen, auf ihren Einsatz im Unterricht könne oder müsse man verzichten. Kinder würden die Orthografie doch besser und schneller erwerben, überließe man sie dabei einfach sich selbst.   DEN WAHREN KERN DIESES MYTHOS hat der vorherige Abschnitt umrissen: Kinder eignen sich orthografisches Wissen selbstständig an – manchmal entgegen der unterrichtlichen Instruktion. Doch haben Regeln vielfältigere Zwecke, als Grundlagen oder Zugänge zu schaffen. Sie stützen Entscheidungsprozesse, ermöglichen die Verständigung über Unbewusstes und geben Orientierung im Normativen. Richtig eingesetzt, steuern sie Erwerbsprozesse. 3.4.1 Ein altes Bedürfnis
In der Entwicklung von Schriftsystemen spielen Regeln eine wesentliche Rolle. Vermutlich ist die Erfahrung, dass sich fremde Texte trotz aller Gemeinsamkeiten auch unterscheiden in Aspekten, die dem eigenen Anspruch an „das richtige Gefühl“ zuwiderlaufen, so alt wie die Schrift. Spätestens mit der Notwendigkeit einer überregionalen Verständigung ist das Bedürfnis nach Normierung in jeder Kultur gestiegen. So gibt es seit der Antike immer wieder Belege für Versuche, Schriftsprachlichkeit zu regulieren. Man will das Gefühl in Worte fassen und der geeignete Weg scheint die Handlungsanweisung in Form einer Regel zu sein. Aufgabe 3.4  Menschen reden gerne über ihre Sprache. Können Sie Beispiele nennen, wo Sprachnormen verhandelt werden? Das gilt auch für die Verschriftung des Deutschen. Ein vermehrtes Bemühen um Einheitlichkeit wird mit der Erfindung des Buchdrucks im 15. Jahrhundert immer offensichtlicher. Was anfangs einzelne Druckereien betraf, wurde ab dem 16. Jahrhundert mehr und mehr zur überregionalen Aufgabe, sodass Grammatiken und Rechtschreiblehren entstanden, die den rechten Gebrauch der Schrift festhalten sollten. Dabei wurden die Regeln nicht einfach von den Autoren erfunden, das heißt, neue Schreibungen entstanden daraus nicht (vgl. Dürscheid 2012: 169). Man versuchte vielmehr, die bestehenden Gepflogenheiten in einer Art beschreibend zu fassen, dass sie anderen Entscheidungshilfe sein konnten. Neben dem offensichtlichen Zweck der Vereinheitlichung ist der Mehrwert von Rechtschreibregeln vor allem darin zu sehen, dass sie Ebenen des sachlichen Austauschs bieten über einen Gegenstand, der sonst im Emotionalen und Vagen verhaftet bliebe. Deklaratives Wissen wird damit zur Kulturtechnik. In der Auseinandersetzung über das „gefühlt Richtige“ muss der Gegenstand zwangsläufig auf eine Metaebene gehoben werden, und das gelingt nur, indem man ihn auf die Funktionsweise von Sprache bezieht. Oder anders gefasst: Über Rechtschreibregeln lässt sich nicht sprechen, ohne die menschliche Sprachfähigkeit als Bezugssystem zu setzen. Umgekehrt ist die Auseinandersetzung mit Regeln eine Möglichkeit, Facetten dieser Sprachfähigkeit sichtbar zu machen. Regelformulierungen können also: zugänglich und verständlich machen, was via Introspektion allein nicht greifbar wird, nämlich die Funktionsweise von Sprache. den Austausch mit anderen und die Adaption fremden Handelns ermöglichen, da sie die nötige Metaebene erzeugen. Regeln sind damit Ausgangspunkt für die Reflexion und Weiterentwicklung der eigenen Kenntnisse und Fähigkeiten. Sie vermitteln zwischen bereits vorhandenem (prozeduralem) Können und (deklarativem) Wissen. 3.4.2 Regeln können steuern
Beim ungesteuerten Erwerb können Lernende auf dem Weg zur Zeichensetzungskompetenz zu unterschiedlichen Regelhypothesen gelangen, die der Norm eventuell zuwiderlaufen. Deklaratives Wissen kann dann hilfreich sein, vor allem wenn keine grammatischen Strukturbeziehungen, sondern reine Konventionen betroffen sind. Die folgenden Beispiele zeigen zwei Interpunktionsfehler dieser Art: (1) Aaron und Lena haben zwei sehr gute –in vielen Formulierungen aber auffallend ähnliche– Aufsätze geschrieben. (2) Das Beste wäre es mit den beiden, die ja Banknachbarn sind, einmal in Ruhe zu reden. In Beispiel (1) fehlen die Zwischenräume nach dem ersten bzw. vor dem zweiten Gedankenstrich. Das lässt vermuten, dass es zwar ein stabiles Konzept von Einschüben gibt (= Strukturbeziehung), die reine Konvention, beim Gedankenstrich beide Zwischenräume zu setzen, jedoch nicht bekannt ist. Die Norm über eine deklarative Regel kennenzulernen, schafft Abhilfe. In Beispiel (2) fehlt das Komma nach dem Pronomen es. Bei Infinitivgruppen ist die Kommasetzung tatsächlich oft freigestellt (? 5.4). Im vorliegenden Fall erfordert das Korrelat es die Setzung. Der Hintergrund liegt in einer prinzipiell intuitiv erschließbaren Regelmäßigkeit, nämlich dass die Infinitivgruppe in diesem Satz syntaktisch einem Nebensatz entspricht (= Strukturbeziehung). Die Freigabe bei vergleichbaren Strukturen (z. B. ohne Korrelat) führt jedoch dazu, dass eine Systematik mitunter kaschiert wird, sodass man hier im Zweifel schlichtweg wissen muss, was die Regeln vorsehen. Beide Beispiele gehören zur weiterführenden Orthografie und zeigen Phänomene, die sich so nur in der Schriftsprache wiederfinden. Sie setzen stabile Grundkonzepte und -kenntnisse voraus. Regeln können hier zweierlei leisten: Sie geben das deklarative Wissen, bewusste Entscheidungen zu treffen. Sie leiten das Handeln an und ermöglichen eine Erweiterung des prozeduralen Wissens. Entscheidungen werden unbewusst normgerechter. 3.4.3 Regeln brauchen Fundamente
Rechtschreibregeln können zu Reflexions- und Weiterführungszwecken gewinnbringend eingesetzt werden. Damit dies gelingen kann, müssen ihre Fundamente im Sinne von Voraussetzungen anerkannt werden. Diese Fundamente sind: allgemeine sprachstrukturelle Fähigkeiten adäquates deklaratives Vorwissen Unter den sprachstrukturellen Fähigkeiten ist die Grammatik zu verstehen. Richtig ausgewählte grammatische Analysen (? 4) schaffen transparente und stabile Konzepte dessen, was die Zeichensetzung schließlich regelt: Grenzen anzuzeigen und dabei ggf. semantisch-pragmatische Markierungen einzubeziehen. Kapitel 5 und 6 widmen sich diesen Aufgaben der Satzzeichen. Für die Beispiele (1) und (2) oben lässt sich fragen: Liegen stabile Konzepte zur Satzwertigkeit von Ausdrücken bzw. zur Art eines Einschubs vor, auf die intuitiv zurückgegriffen werden kann? Ist die Funktion der Zeichen Komma und Gedankenstrich als paarige syntaktische Grenzsignale intuitiv erfasst? Das sind wohlgemerkt keine Fragen, die sich auf deklaratives Wissen zur Zeichensetzung beziehen könnten. Salopp gesagt, nützt das Wissen nichts, wie Nebensatzkommas verwendet werden sollen oder wie wichtig sie sind, wenn der Begriff Nebensatz das eigentliche Rätsel bleibt. Adäquates deklaratives Vorwissen zu berücksichtigen, heißt, unterschiedlich komplexe Voraussetzungen und Hintergrundkonzepte zu erkennen, die ohne Überforderung nur in kleinen Schritten erschlossen werden können. Eine Regel kann sich zum Beispiel auf eine andere Regel beziehen, die eine dritte Regel einschränkt, das aber nur unter den Bedingungen einer vierten Regel usw. Man muss sich dann über die gesamte Kette verständigen können, um die letzte weiterführende Regel zur Steuerung neuer Handlungserfahrungen einzusetzen. Das Folgende entspricht zwar nicht der amtlichen Formulierung, zeigt aber, was man wirklich wissen (also können) muss, wenn man das Komma bei der Infinitivgruppe aus Beispiel (2) richtig setzen will: Kommas begrenzen bestimmte syntaktische Einheiten. ? Nebensätze gehören zu solchen syntaktischen Einheiten. ? Infinitivgruppen können Nebensätze sein, müssen es aber nicht. ? Bei Infinitivgruppen ist die Kommasetzung deshalb freigestellt. ? Spricht ein Kriterium (wie das Korrelat) für den Nebensatzstatus, ist die Kommasetzung darum wieder verbindlich. ? Es sei denn, es handelt sich um den bloßen Infinitiv … In der Praxis geht es nicht darum, solche Zusammenhänge formelhaft benennen zu können, sondern im Schreibprozess ganz einfach auf ein stabiles Konzept von Satzwertigkeit zurückzugreifen. Das deklarative Wissen kann den Austausch auf dem Weg dahin Schritt für Schritt stützen. Allgemeiner kann man sagen, dass jede Handlungsanleitung in Wygotskis Zone der proximalen Entwicklung liegen muss, wie sie in Lerntheorie und Entwicklungspsychologie postuliert wird (vgl. Wygotski 1987): Die Eigenleistung, die Kinder erbringen, lässt sich durch Anleitung nur dann zielführend erweitern, wenn das Niveau dieser Anleitung nur wenig über der Eigenleistung liegt. Lernen gelingt, wenn ein Impuls von außen leicht überfordert, die Aufgabe aber im Prinzip mit den bereits vorhandenen Fähigkeiten lösbar wäre. So lassen sich Erfahrungen machen, die mentale Repräsentationen (= implizite Regeln = prozedurales Wissen) erzeugen und die dem deklarativen Wissen letztlich erst die Substanz geben. Das ist der Zugang zum...



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