E-Book, Deutsch, 256 Seiten
Reihe: Allgemeine Reihe
Lossau Dunkle Nordsee
1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-95719-308-7
Verlag: Blitz Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
E-Book, Deutsch, 256 Seiten
Reihe: Allgemeine Reihe
ISBN: 978-3-95719-308-7
Verlag: Blitz Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Bizarres Morden im Norden.
Ein rätselhafter Serienmörder geht um. Grausam entstellte Leichen liegen an der Nordseeküste. Die beiden von der Kripo, die bisher ein ruhiges Leben führten, sind vollkommen überfordert. Doch als man den Fall abgeben möchte, kommt es zu weiteren Morden. Eine dunkle Vergangenheit wird lebendig.
Ein abgründiges Sammelsurium liebevoll schräger Charaktere. So rau und authentisch wie der Norden selbst. Ein genialer, abgründiger Psychothriller voll überraschender Wendungen.
ens Lossau, geboren 1974, lebt in Alzey, veröffentlicht seit Mitte der Neunziger Kurzgeschichten und Romane in unterschiedlichen Genres, zuletzt die Thriller DIE SCHLAFWANDLER, DUNKLE NORDSEE und NORDSEEBLUT.
Autoren/Hrsg.
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3
Paul fand, dass Perlmann ein Typ war, auf den die Bezeichnung vielleicht passte. Vielleicht war er ein netter Mensch, vielleicht ein pathologischer Neurotiker. Vielleicht war sein Händedruck warm, vielleicht war er zu trocken. Vielleicht hatte er einen leichten bayrischen Akzent, vielleicht rollte er auch einfach nur das R. Paul und Patrick folgten dem Arzt, der vielleicht müde war, vielleicht aber auch zu viele Aufputschmittel während seines Nachtdienstes geschluckt hatte, über die Krankenhausflure, wobei sich Paul mit jedem Schritt beklommener fühlte. Auf ihrem Weg begegneten sie keiner Menschenseele. Pauls Krankenhausassoziationen waren ausschließlich negativer Natur. Ins Krankenhaus ging man, um zu verfallen. Im Krankenhaus roch es schlecht. Ins Krankenhaus kamen Menschen mit Viren, Bazillen, Geschwüren und anderen Dingen, die ihren Körper zerstörten. Im Krankenhaus wurden Körperteile abgeschnitten. Im Krankenhaus nahm man Abschied von den Menschen, die der Verfall besiegt und entstellt hatte. Im Krankenhaus wurden Leute auseinandergeschnitten. Im Krankenhaus verlor man. Unmittelbar vor der Leichenhalle stand ein Automat mit Süßigkeiten für das Krankenhauspersonal. Es war wie ein schlechter Witz: schnell noch einen Keksriegel, dann die bunkerartige Metalltür geöffnet und hinein ins Vergnügen zu den stählernen Wannen. Hallo, liebe Zangen, Haken und Knochensägen! Perlmann steckte einen Schlüssel in das Schloss der Prosekturtür und drehte ihn herum. Kalte Luft floss aus dem sich öffnenden Raum in den Korridor. Auf Pauls Armen bildete sich eine Gänsehaut. „Nettes Hemd, das Sie da tragen“, wandte sich Perlmann an ihn, vielleicht beruhigend, vielleicht sarkastisch. „Es ist mein Glückshemd.“ Paul zwang sich zu einem Lächeln. „Stammt noch aus meiner Im the walrus-Zeit.“ „Interessant.“ Doktor Perlmann lächelte, vielleicht aufmunternd, vielleicht diabolisch, und betrat die Leichenhalle. Der Raum war weiß gekachelt. Die rechte Seite wurde von einem großen Stahlschrank mit sechs Fächern eingenommen. Am anderen Ende war neben einer weiteren Bunkertür ein Waschbecken in die Wand eingelassen. Zwei Birkenfeigen aus Plastik sowie ein schlichtes Holzkreuz füllten den linken Bereich aus. Daneben warteten zwei Stahlwannen mit Rädern auf Kundschaft. Die nebelhafte Eiseskälte schmeckte nach Toilettenreiniger. „Sieht doch alles normal aus“, sagte Patrick. „Dachte, hier hätte einer gewütet, aber …“ „In dem Raum hinter dieser Tür da“, sagte Doktor Perlmann, vielleicht gelangweilt, vielleicht nervös, und deutete mit dem Zeigefinger auf die zweite Bunkertür, „bewahren wir für die Universität diverse Exponate auf: amputierte Extremitäten, Gallenblasen, Därme et cetera et cetera.“ Paul spürte, wie er auf die Größe eines Gartenzwerges schrumpfte. „Haut, Gehirne, Knochengewebe, Gesichter …“ „Wie bitte?“, fragte Patrick. „Haben Sie eben Gesichter gesagt, Doktor?“ „Sicher. Verstehen Sie, für einen angehenden Medizinstudenten ist es notwendig, alles über die menschliche Anatomie zu lernen. Und wie gelangt er zu diesem notwendigen Wissen?“ „Lehrbücher“, krächzte Paul. „Er lernt an den organischen Objekten.“ Doktor Perlmann blickte zu den Leichenkästen, holte einen Inhalator aus der Tasche seines Kittels und gab sich einen Schuss. „Und aus diesem Raum sind Objekte verschwunden“, stellte Patrick fest. Paul klammerte sich an sein Hawaiihemd, um nicht vornüber zu kippen. „So ist es. Die Objekte sind aus dem Raum dahinten verschwunden. Wir nennen ihn unser Gruselkabinett.“ Wie ein blasses Gespenst im Arztkittel schwebte Perlmann durch die Prosektur, schloss die Bunkertür auf und winkte wie ein Platzanweiser im Theater. „Kommen Sie, meine Herren. Bitte, kommen Sie.“ Der Raum, der sich vor ihnen auftat, war bis unter die Decke angefüllt mit Regalen, auf denen Dutzende von Gläsern standen, in denen Organisches lagerte. Es gab blaue Müllsäcke, die mit Karteikärtchen versehen waren, und große Kolben mit gelben, wurmartigen Gebilden, die in einer trüben Flüssigkeit schwammen. Paul entdeckte ein Behältnis mit einem in der Mitte zerteilten Gehirn. Er sah Herzen und eine gehäutete Hand. In einem Glas schwammen einige Dutzend Augen, die hier aufbewahrt wurden wie Murmeln von kleinen Jungs. „Wir haben erst gar nicht bemerkt, dass hier etwas fehlt“, berichtete Doktor Perlmann, vielleicht glücklich, vielleicht traurig, vielleicht jenseits von allem. „Das Schloss war nicht beschädigt, und es kommt öfter vor, dass ein Professor für eine Vorlesung etwas … wie soll ich sagen … mopst.“ „Mopst?“, rief Paul. „Nun, Professor Ernestin wollte heute Morgen auch etwas mopsen. Er unterrichtet an der Uni. Und da die dort keine Gesichter haben, kam er in aller Früh hierher, um ein Gesicht zu mopsen.“ „Kann man denn hier einfach so Gesichter mopsen?“, fragte Patrick. „Ich meine, es gibt doch gewiss Formulare, die man vorher ausfüllen muss.“ „Oh, sicher gibt es die.“ Doktor Perlmann lächelte, vielleicht verächtlich, vielleicht über die Naivität des Polizisten staunend. „Daran halten wir uns auch, das kann ich Ihnen versichern. Man muss ein Formular ausfüllen, in der Tat.“ „Ich finde es schon seltsam“, sagte Paul. „Ich meine, das hier ist doch keine Universitätsklinik. Warum werden hier überhaupt Körperteile aufbewahrt? Warum nicht gleich an der Universität?“ „Das ist eine Frage der Kapazität. An der Uni lagern Tausende von anatomischen Präparaten, das stimmt schon. Aber die Räumlichkeiten sind erschöpft. Sehen Sie, die meisten Ärzte und Professoren verkehren hier regelmäßig. Das hier ist ein angesehenes Krankenhaus. Unser kleines Gruselkabinett ist eine Gefälligkeit an die Obrigkeit. Wir sorgen für Übersicht.“ „Es ist grotesk.“ „Das mag für Sie vielleicht so aussehen, aber es ist effektiv. Wir haben jemanden, der sich um die Präparate kümmert, sie hegt, pflegt und katalogisiert.“ „Und wer ist dieser jemand?“, fragte Paul. Doktor Perlmann sah ihn mit großen Augen an, vielleicht verwundert, vielleicht verunsichert. „Ich natürlich.“ „Sind Sie auch an der Uni beschäftigt?“ „Nein, aber ich unterrichte die Auszubildenden der Krankenpflege in Anatomie.“ „Benutzen Sie dabei die Präparate?“ „In der Tat.“ „Wie werden sie transportiert?“ „In mit Alkohol gefüllten Behältnissen.“ „Werden alle Präparate auf diese Weise konserviert?“ „In der Tat.“ „Das heißt, man müsste sie eigentlich gar nicht in einem Kühlraum lagern.“ „Nein, eigentlich nicht. Aber doppelt gemoppelt hält besser. Es ist eben eine Tradition, verstehen Sie? Hier werden für ein Kleinstadtkrankenhaus recht viele chirurgische Eingriffe vorgenommen und …“ „Sie können es drehen und wenden, wie Sie wollen, Doktor Perlmann – es ist sonderbar.“ „Hören Sie, meine Herren …“ Perlmanns Gesicht zog sich in die Länge und simulierte eine verstörende Mischung aus Wut und Resignation. „Es mag Ihnen sonderbar vorkommen oder nicht, aber finden Sie sich einfach damit ab, dass es diesen Raum gibt. Deshalb sind Sie nicht gerufen worden.“ „Nun gut.“ Paul betrachtete die Gläser. „Schön. Heute Morgen wollte also dieser Professor Ernestin ein Gesicht … mopsen … und es war keines da, richtig?“ „Wir bewahren hier ein halbes Dutzend Gesichter auf. Es kommt schon mal vor, dass sich ein Kollege ein Gesicht mopst und vergisst, das auf dem entsprechenden Formular zu quittieren. Aber heute Morgen waren alle sechs Gesichter verschwunden.“ „Da hat das Krankenhaus also sozusagen sein Gesicht verloren“, sagte Paul. „Haben Sie sich erkundigt, ob eventuell jemand anderes die Gesichter gemopst hat?“ „Natürlich. Aber ich versichere Ihnen, niemand …“ Ein heiseres Röcheln erklang aus der linken Ecke des Raumes. Paul zuckte zusammen und drehte sich in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war. Neben einem Regal, auf dem sich ungefähr zwei Dutzend Gläser aufeinandertürmten, saß, halb durch einen blauen Plastiksack verdeckt, ein alter Mann, dessen Augen aus ihren Höhlen quollen, sodass Paul einen schlimmen Moment lang befürchtete, sie würden gleich herausspringen und über seine bebenden, unrasierten Wangen kullern. Die weißen Haare des Mannes waren an den Schädel geklatscht, die Hände hielt er wie zum Gebet über ein rot kariertes Hemd verschränkt. „Bernhard?“, stieß Perlmann hervor. „Bernhard, was …?“ Patrick trat einen Schritt vor. „Wer ist das?“ „Das … das ist Bernhard Kopper, unser technischer Hausmeister, aber …“ „War er heute Morgen schon hier?“ „Ich habe ihn jedenfalls nicht gesehen.“ „Was ist denn mit ihm passiert? Er sieht ja total verängstigt aus.“ Paul ging vor Bernhard, der sich hinter dem blauen Sack zu verstecken versuchte, in die Hocke. „Bernhard“, sagte er, so sanft es ihm in seiner Verwirrung möglich war....