Loos | Hinter dem Mond | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 240 Seiten

Loos Hinter dem Mond


1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-7152-7514-7
Verlag: Atlantis Literatur
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 240 Seiten

ISBN: 978-3-7152-7514-7
Verlag: Atlantis Literatur
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Nach dem frühen Tod der Eltern hat Susanna es sich zur Aufgabe gemacht, zu sehen, »ob die Dinge richtig vor sich gehen«. Mit ihren zwei jüngeren Geschwistern lebt sie nun beim Großvater und seiner neuen Frau. Das großzügige Haus am Fluss dient auch als Treffpunkt ihrer religiösen Glaubensgemeinschaft, am Sonntag führt man moralisch erbauende Theaterspiele auf. Die Kinder aber werden stiefmütterlich behandelt, ja - um »die Sünden ihrer Eltern zu sühnen« - sogar um ihr Erbe gebracht. Susanna, die beobachtet, wie das schwangere Dienstmädchen aus dem Haus gejagt, die kleine Schwester abgeschoben, der aufsässige Bruder Filok ins Waisenhaus gesteckt wird, weiß bald, »dass alles ganz anders ist, als es aussieht«. Als sie später gegen ihren Willen mit einem deutschen Pastor verheiratet wird, muss sie die heimliche Liebe im Jura verlassen und an der Seite dieses fremden Manns in Brasilien eine Existenz aufbauen.Cécile Ines Loos erzählt faszinierend unverstellt von einem Leben voller Schicksalsschläge in einer Atmosphäre der Verlogenheit und Bigotterie. Die Protagonistin besitzt die Gabe, jenseits der Alltagswelt, hinter dem Mond sozusagen, wundersame Dinge zu erblicken und in poetischer Sprache einzufangen. Ein Roman, der in seiner Unmittelbarkeit und seinem Bilderreichtum auch 80 Jahre nach dem ersten Erscheinen ein großes Leseerlebnis verspricht.

Cécile Ines Loos, 1883 in Basel geboren, hat als Kind ihre Eltern verloren. Nach einer kurzen glücklichen Zeit bei einer Burgdorfer Pflegefamilie machte sie ab 1893 in einem Berner Waisenhaus bedrückende Erfahrungen. Sie diplomierte als Kindergärtnerin, arbeitete als Gouvernante und Magd, später als Hilfsarbeiterin in Basler Bibliotheken und lebte - als Abkömmling der vermögenden Basler Familie Burckhardt - die meiste Zeit ihres Lebens am Rande des Existenzminimums. Mitte der fünfziger Jahre konnte sie dank privater Geldsammlungen im Basler Bürgerspital aufgenommen werden, wo sie 1959 starb. Mit zwei Frauenromanen bei der DVA, 1929 und 1931, feierte sie in Deutschland große Erfolge. Hinter dem Mond erschien erstmals 1942 im Zürcher Atlantis Verlag.
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1


Ich weiß nicht, welcher Umstand meinen Großvater zur Bekanntschaft des Engels geführt hatte. Dieser war ein gewisser Herr Muth, der zu einer Sekte gehörte, deren Begründer in Schottland lebten. Auf jeden Fall wurden wir bald nach dem Tod unserer Eltern auf das kleine Gütchen des Herrn Muth gebracht im Dörfchen Cuny, versteckt in den Wäldern des Berner Jura. Mein Großvater leitete selber die Expedition. Diese bestand aus unserer früheren Kindermagd Eliza, meiner kleinen Schwester Michaela und meinem älteren Bruder Filok. Die junge Frau des Großvaters hatte uns in der Stadt schwarze Filzhüte gekauft, dazu trugen wir weiße Leinenkragen über den Kleidern und große schwarze Schleifen. Auch besaßen Filok und ich bereits Mäntel, während Michaela, in einen blauen Wollumhang gehüllt, beinahe unsichtbar in Elizas Armen schlummerte. Zuerst ging die Fahrt ganz gewöhnlich aus der Stadt hinaus, wo wir aufgewachsen waren, durch Dörfer und Orte, die mir nicht unbekannt vorkamen. Plötzlich sagte der Großvater zu uns:

»So, Kinder, jetzt fahren wir in das Land der Pferde.« Ich erschrak so, als hätte jemand auf mich geschossen, denn ich hatte bisher noch nichts gehört von Tieren, die Länder besitzen; der Gedanke an ein Land der Pferde durchfuhr mich mit einem Schauer, denn ich stellte mir leibhaftig vor, dass Pferde auf eine sonderbare Weise die Besitzer eines Landes sein könnten. Filok war schnell im Bild. Er sagte:

»Ich habe zwar noch nie Pferde wild herumlaufen sehen, aber ich kann mir gut vorstellen, dass es solche Orte gibt.« Dann erkundigte er sich des Weiteren, wie viel Pferde da etwa herumliefen und ob man zu ihnen auf die Weide gehen dürfe. Filok und ich wissen nie dasselbe. Er weiß immer das, was ich nicht verstehe, und ich bin froh, einen so großen und klugen Bruder zu haben. Er nimmt mir alle Schrecknisse weg. Der Großvater dagegen blieb einsilbig und schaute zum Fenster hinaus. Sein Kinn mit dem weißen Kranzbart lag auf den Händen und diese in Gebetsform auf den Stockgriff gestützt. Was Filok sagt, freut ihn weniger als das, was ich sage. Der Großvater will keine wilde Jugend um sich haben. Er sagt, wir sollen gesittet sein, namentlich nach dem Tod der Eltern. Er hat auch überall den Ehrenplatz. Beim Essen sitzt er oben am Tischende und in der Eisenbahn am Fenster. Ihm gegenüber sitzt Eliza mit dem Kind, ebenfalls am Fenster, weil auch Eliza eine Ehrenperson ist. In der gleichen Reihe neben ihr sitzen Filok und ich, und wir dürfen erst am Fenster sitzen, wenn auch wir Ehrenpersonen geworden sind. Ich verstehe das alles sehr gut, aber Filok versteht es nicht. Zuweilen wirft er dem Großvater Fragen an den Kopf wie Schneebälle. Filok sagt immer zu allem:

»Weshalb und warum?« Und wenn man ihm etwas erklärt hat, so antwortet er: »Das ist übrigens alles ganz einfach.« Aber das Land der Pferde bleibt mir trotzdem fremd. Ich stelle mir vor, wie das sein müsste, wenn plötzlich ein hohes, langgesichtiges Tier mit übergroßen glänzenden Augen über uns herrschte. Dieses Tier käme dann ganz langsam auf uns zu und sagte: »Von nun an gehört ihr in mein Reich.« Vorsichtig und so gut ich kann, versuche ich von meinem Platz aus nach Pferden Umschau zu halten, um mich ein wenig vertraut zu machen mit dem Tier, das uns künftig beherrscht.

Aber immer wieder sehe ich sie vor Wagen gespannt und dem Menschen untertan, und ich kann mir nicht vorstellen, wie sie frei, ohne Harnisch und Peitsche, auf uns zukommen.

Bei einer größeren Station müssen wir plötzlich aussteigen und den Zug wechseln. Michaela sieht mit halb geschlossenen Lidern gnädig auf mich herunter, während Filok und ich die Koffer schleppen. Der Großvater schreitet am Stock in seinem großen, offenen Mantel voraus und trägt nichts in den Händen. Es wäre auch eine Schande gewesen, wenn Kinder ihren Großvater etwas hätten tragen lassen. Im neuen Zug setzen wir uns wieder in der gleichen Reihenfolge hin. Der Großvater am Fensterplatz und Eliza ihm gegenüber. Wir fahren nun in ein anderes Land, wo es nicht mehr Städte gibt und Dörfer, sondern meist nur Wälder. Ich fühle, dass wir den Pferden näher kommen, aber immer noch weiß ich nicht, wo sie sind. Ich warte auf sie mit einer bangen und herrlichen Furcht. Irgendwie bin ich überzeugt, dass sie dem Großvater gleichen. Filok ist anders als wir alle. Er hat sehr dunkle Augen und glatte, rote Lippen ohne ein Fältchen darauf. Je länger man ihn anschaut, desto dunkler werden die Augen. Sie werden so dunkel wie ein Tor, und dann verlöscht er sie plötzlich. Er kann seine Augen nach innen drehen, und man sieht sie nicht mehr von außen. Er hat das auch schon in der Andacht gemacht, wenn er neben Eliza sitzt und Onkel Gustav Harmonium spielt. Er dreht dann die Augen nach innen, und plötzlich sitzt überhaupt kein Filok mehr da. Aber wenn der Großvater ihn anschaut, so dreht er die Augen wieder zurück. Dennoch kann er nie lange stillsitzen. Da wir nun ein eigenes Wagenabteil haben, findet Filok, wir seien zu Hause. Ich dagegen weiß immer noch, dass wir in der Eisenbahn sitzen, und die Kinder sollen an Ort und Stelle bleiben, solange Ehrenpersonen bei ihnen sind. Filok macht die Tür zum Nebenabteil auf, dann schlägt er sie wieder zu. Er will herausbekommen, wie das Schloss einspringt. Nach einer Weile sagt der Großvater: »Filok, es wird nun bald die Tür zufallen und dir die Hand zerschmettern.« Ich weiß sofort, dass der Großvater unzufrieden ist. Aber Filok weiß es nicht, denn er ist beschäftigt. Er steckt nun ein Papierstück in das Schloss und wirft die Tür abermals zu. Der Großvater sagt: »Filok, es wird nun bald die Tür zufallen und dir den Kopf zerschmettern.« Filok nimmt das Papierstück weg und hält es gegen das Licht. Er weiß jetzt, wo der Hammer getroffen hat, und ist befriedigt. Aus Versehen hat er nichts mehr vor und setzt sich ruhig an seinen Platz. Ich bin immer froh, wenn Filok aus Versehen gehorcht. Früher, wie Papa noch lebte, war es anders. Papa wusste, dass Filok beschäftigt ist, aber der Großvater weiß das nicht, und ich habe immer Angst, dass es einmal ein Unglück gibt zwischen Filok und dem Großvater, weil dann beide nicht mehr ausweichen können. Aber vielleicht weiß ich bis dahin eine Hilfe. Unterdessen warte ich auf das Tier, das uns sagen wird: »Nun gehört ihr in unser Reich.«

Wir müssen noch einmal umsteigen, in Deroupe. Der Großvater hat gesagt, wir könnten nicht vor dem Abend ankommen. Der neue Zug besteht nur noch aus einem einzigen Wagen mit einer Lokomotive. Eliza hat ihren schwarzen Fransenschal ganz um Michaela gewickelt, sodass sie nur noch aussieht wie ein Stoffbündel ohne Kopf und Fuß. Der Wagen, in den wir einsteigen, ist ganz dunkel, und in der Ecke sitzt bereits der Großvater. Er sieht aus wie ein Prophet, und hinter ihm steht ein hoher Ahne, der das Teufelsland züchtigt. Es ist überall still, und ich weiß nicht, ob wir überhaupt wegfahren. Endlich höre ich in der Maschine ein Geräusch. Die Tür geht auf, und ich sehe, wie ein Mann Kohlen in einen feurigen Kessel hineinwirft. Das gibt einen solchen Schein, dass auch die Fenster im Stationsgebäude brennen. Dann kommt ein anderer Mann in unseren Wagen und zündet mit einem Streichholz die Lampe an. Filok hat seine Hände in die Manteltaschen gesteckt und flüchtet sich fröstelnd in den Schlaf. Nun geht der Zug vorwärts, und neben den Schienen steht ein hoher Berg, auf dem die Pferde warten. Eigenartige, wuchtige und große Bäume steigen langsam mit uns die Treppen hinan. Jedes Mal, wenn die Maschine über die Schwellen fährt, gibt es einen kleinen, zögernden Ruck. Die Bäume tragen graue, schwere Wolkensäcke auf ihren Schultern, die gefüllt scheinen mit Rosshaar. Ich bin froh, dass Filok schläft und ich ungestört an die Engel und an die Pferde denken kann. Auch Eliza ist eingeschlafen, und nur der Großvater und ich wachen im Zug. Vielleicht, wenn Papa oder Mama noch da wären, würde auch ich einschlafen und könnte unbesorgt sein. Aber nun bin ich die Älteste von allen, die wach ist, und muss sehen, dass die Dinge richtig vor sich gehen. Auch den Propheten kann man nicht ganz trauen, denn sie züchtigen uns, und ich muss mit meinen Augen über sie wachen, damit kein Unheil geschieht. Bis jetzt geht alles recht zu, und wenn ich nicht nachlasse mit Aufpassen, so können wir die ganze Reise gut bestehen. Langsam, mit dem Zug, steigen die Bäume in die Nacht, und ich sehe ihre Wipfel nicht mehr. Endlich schläft sogar der Großvater. Ich glaube, die Gefahr ist vorüber. Ein Wind kommt und ein Wind geht und singt leise in den Blättern. Plötzlich sehe ich sogar den Mond. Er steht auf einer Bergzacke und begleitet uns Schritt für Schritt in den Himmel.

Es wäre alles gut gegangen, und ich wäre fast in den Himmel gekommen, wenn nicht dennoch ein Unglück losgebrochen wäre. Auf einmal merke ich, dass der Zug gar nicht mehr vorwärtsfährt, sondern mit entsetzlicher Schnelle abwärtssaust. Die Mäuerchen, die uns bisher begleiteten, fliehen an den Fenstern vorbei, und die Bäume mit den Wolkensäcken rasen herunter. Entsetzt schaue ich mich um, und ich weiß nicht, ob ich Eliza zuerst wecken soll oder den Großvater oder Filok. Allein, wenn ich jemand wecke, gibt es ein noch viel größeres Unglück, sodass wir alle untergehen. Der Zug indessen saust weiter wie ein Ball über die Treppen, unaufhörlich, und ich weiß gar nicht, wo wir noch landen werden. Durch das Fenster sehe ich jetzt eine Brücke, und ich entsinne mich zugleich, dass sie vorher auf der anderen Seite war, als wir noch vorwärts reisten. Aber nun geht es so rasend bergab, dass ich keine Zeit mehr finde, etwas anderes zu denken, denn wenn ich nicht alle meine Sinne...


Loos, Cécile Ines
Cécile Ines Loos, 1883 in Basel geboren, hat als Kind ihre Eltern verloren. Nach einer kurzen glücklichen Zeit bei einer Burgdorfer Pflegefamilie machte sie ab 1893 in einem Berner Waisenhaus bedrückende Erfahrungen. Sie diplomierte als Kindergärtnerin, arbeitete als Gouvernante und Magd, später als Hilfsarbeiterin in Basler Bibliotheken und lebte – als Abkömmling der vermögenden Basler Familie Burckhardt – die meiste Zeit ihres Lebens am Rande des Existenzminimums. Mitte der fünfziger Jahre konnte sie dank privater Geldsammlungen im Basler Bürgerspital aufgenommen werden, wo sie 1959 starb. Mit zwei Frauenromanen bei der DVA, 1929 und 1931, feierte sie in Deutschland große Erfolge. Hinter dem Mond erschien erstmals 1942 im Zürcher Atlantis Verlag.

Burckhardt, Renata
RENATA BURCKHARDT, geboren 1979, schreibt Theaterstücke, Prosa, Essays. Wie die Mutter von Cécile Ines Loos, die eine geborene Burckhardt war, stammt sie aus der bekannten Basler Patrizierfamilie.



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