E-Book, Deutsch, 640 Seiten
Longerich Unwillige Volksgenossen
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-641-31366-1
Verlag: Siedler
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Wie die Deutschen zum NS-Regime standen. Eine Stimmungsgeschichte
E-Book, Deutsch, 640 Seiten
ISBN: 978-3-641-31366-1
Verlag: Siedler
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Waren die Deutschen nach 1933 ein Volk von Jublern und Ja-Sagern? Die Mehrheit der Deutschen sei nach 1933 von einer rauschhaften nationalen Aufbruchstimmung ergriffen worden und habe sich überraschend schnell den neuen Machthabern angeschlossen, so lautet das gängige Urteil über die Zeit der Nazi-Diktatur. Es hält sich hartnäckig und prägt bis heute unsere Vorstellung von der »Machtergreifung« und ihren Folgen.
Dieses Bild einer »Zustimmungsdiktatur« stellt Peter Longerich, einer der renommiertesten Historiker des Nationalsozialismus und Autor zahlreicher Bestseller, in seinem neuen Buch infrage. Auf der Basis von vielen tausend zeitgenössischen Berichten von verschiedenen Dienststellen der NS-Diktatur und jenen des sozialistischen Exils, die bisher in ihrer Gesamtheit noch nicht ausgewertet wurden, legt Longerich die erste Gesamtdarstellung der Volksstimmung im Dritten Reich vor. Sie zeigt, dass die Unzufriedenheit mit dem Regime in der Bevölkerung viel größer war als bisher angenommen. In sämtlichen Bevölkerungsgruppen, von den Bauern über die Arbeiterschaft bis zur bürgerlichen Mitte, war sie weit verbreitet – die »Volksgemeinschaft« erweist sich somit vor allem als ein Mythos der NS-Propaganda. Ein augenöffnendes Buch, das unseren Blick auf die Grundlagen und den Machtcharakter des NS-Regimes verändern wird.
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KAPITEL 1
»MACHTERGREIFUNG«: DIE GLEICHSCHALTUNG DER »ÖFFENTLICHKEIT« DURCH DIE NATIONALSOZIALISTEN
»Es ist erreicht. Das deutsche Volk ist einig. Nun können wir der Welt gegenübertreten. Das deutsche Wunder. Man schweigt in Demut still.« Mit dieser Tagebucheintragung vom 13. November 1933 feierte Propagandaminister Joseph Goebbels den triumphalen Sieg der Nationalsozialisten bei der Volksabstimmung über den bereits erfolgten Austritt aus dem Völkerbund, die drei Tage zuvor stattgefunden hatte und der Regierung 95,1 Prozent Zustimmung bei einer sehr hohen Wahlbeteiligung eingebracht hatte; bei der gleichzeitig stattfindenden Reichstagswahl hatte die von der NSDAP zusammengestellte Einheitsliste, der einzige zugelassene Wahlvorschlag, immerhin 92,1 Prozent eingefahren.
Obwohl diese beiden Ergebnisse unter erheblichem Druck und mithilfe von Manipulationen zustande gekommen waren, scheint sich in ihnen doch nach heute noch weit verbreiteter Auffassung tatsächlich ein Stimmungsumschwung zugunsten der neuen Regierung widerzuspiegeln. Viele zeitgenössische Berichte und Erinnerungen aus dem Jahr 1933 vermitteln das Bild eines fundamentalen politischen Umschwungs – viele Menschen seien von einer rauschhaften nationalen Aufbruchstimmung ergriffen worden und hätten sich überraschend schnell den neuen Machthabern angeschlossen.[1] Dieses eindrucksvolle Bild einer nationalen Wiedergeburt hat sich als außerordentlich wirkungsmächtig erwiesen; es ist in zahlreiche historische Darstellungen eingegangen und prägt bis heute unsere Vorstellung von der damaligen »Machtergreifung«. Nach dieser Auffassung war es den neuen Machthabern weniger als zehn Monate nach der Regierungsübernahme durch Hitler gelungen, die große Mehrheit der deutschen Bevölkerung hinter sich zu versammeln und die euphorische Atmosphäre eines fundamentalen politischen Neuanfangs zu erzeugen.[2]
Ebendiese Auffassung soll im vorliegenden Buch einer kritischen Überprüfung unterzogen werden. Dabei muss man sich vor Augen halten, dass es den Nationalsozialisten im Zuge der »Machtergreifung« und der Gleichschaltung sehr schnell gelang, die deutsche »Öffentlichkeit« unter ihre Kontrolle zu bringen: nicht nur, indem sie oppositionelle Stimmen zum Schweigen brachten und die Medien als Träger der öffentlichen Meinung vereinnahmten, sondern auch, indem sie den öffentlichen Raum in massiver Weise mit Beschlag belegten – durch Plakate, Beflaggung, Aufmärsche, Feiern, Lautsprecherübertragungen usw. – und den öffentlich vor sich gehenden Meinungsaustausch der Menschen in erheblichem Umfang kontrollierten und in ihrem Sinne prägten. Sie waren in der Lage, kollektive Stimmungen zu erzeugen, und besaßen (zumindestens innerhalb Deutschlands) das Monopol, diese Stimmungen nach ihrem Gutdünken zu dokumentieren und propagandistisch aufzubereiten. Mit dieser vielgestaltigen Beherrschung der Öffentlichkeit prägen sie sogar noch unser heutiges Bild der Wirklichkeit des »Dritten Reiches«.
Der Prozess der Vereinnahmung der Öffentlichkeit im Zuge der »Machtergreifung« soll in diesem ersten Kapitel insbesondere anhand der damaligen internen Berichterstattung des Regimes über die Stimmung im Volk kritisch betrachtet werden. Zwar ist die Stimmung im »Dritten Reich« ausgerechnet für das Jahr 1933 am schlechtesten dokumentiert: Eine regelmäßige Berichterstattung durch die Regierungspräsidenten existierte nur in Bayern, daneben finden sich verstreut einige amtliche Berichte aus anderen Regionen; und die Sozialisten nahmen ihre Berichterstattung aus dem Exil erst Ende des Jahres auf. Dennoch reicht das vorhandene Material aus, um zumindest erhebliche Zweifel an der angeblichen großen politischen Trendwende zugunsten des Nationalsozialismus zu begründen, erst recht, wenn man die Berichterstattung mit der realhistorischen Entwicklung abgleicht und auf dieser Basis die Plausibilität eines fundamentalen Stimmungsumschwungs hinterfragt. Den Endpunkt dieses Kapitels soll die Volksabstimmung vom 10. November 1933 bilden, und es wird die Frage zu stellen sein, ob es die Nationalsozialisten tatsächlich zustande brachten, innerhalb eines Jahres (die letzten freien Wahlen fanden im November 1932 statt) ihren Anhang im Volk annähernd zu verdreifachen.
FEBRUAR 1933: EINE ZUNEHMEND KONTROLLIERTE ÖFFENTLICHKEIT
Den Nationalsozialisten gelang es nach dem 30. Januar in nur sechs Monaten, eine Diktatur zu errichten und das gesamte Land weitgehend unter ihre Kontrolle zu bringen.[3] Innerhalb des stufenförmigen Prozesses dieser »Machtergreifung« waren die schrittweise Übernahme der Kontrolle über die öffentliche Meinung und die Ausrichtung der gesamten öffentlichen Sphäre auf nationalsozialistische Maximen von zentraler Bedeutung.
Der erste entscheidende Schritt zur Ausdehnung seiner Machtstellung gelang Hitler bereits gleich zu Beginn seiner Kanzlerschaft: Er konnte sich mit der Forderung nach Neuwahlen durchsetzen. Bei einem Wahlsieg seiner Partei, so sein Kalkül, würde er nicht länger von den Notverordnungen des Reichspräsidenten Hindenburg abhängig sein, und die parlamentslose Zeit bis zu den Neuwahlen am 5. März 1933,[4] während der das Vetorecht des Reichstags gegen Notverordnungen außer Kraft gesetzt war, konnte dafür genutzt werden, die Machtposition der Regierung auszubauen und so bereits den Wahlkampf zu dominieren.[5]
Diesen ersten Ausbau ihrer Machtstellung vollzog die neue Regierung im Wesentlichen durch eine Kombination von drei Maßnahmebündeln:
- Zum einen nutzte sie das Notverordnungsrecht des Reichspräsidenten extensiv aus: Mit der Notverordnung zum Schutze des deutschen Volkes vom 4. Februar wurden insbesondere Versammlungs- und Pressefreiheit erheblich eingeschränkt und die Polizeihaft für Personen eingeführt, die im bloßen Verdacht hoch- oder landesverräterischer Taten standen.[6] Zwei Tage später folgte eine weitere Notverordnung, die der durch Reichskanzler Franz von Papen im Juli 1932 weitgehend entmachteten verfassungsmäßigen preußischen Regierung willkürlich ihre letzten Rechte entzog und die Handhabe schuf, auch den preußischen Landtag noch am gleichen Tag aufzulösen.[7]
- Damit war, zweitens, die – wenn auch fragliche – rechtliche Basis geschaffen, auf der nun vor allem der neue kommissarische preußische Innenminister Hermann Göring rücksichtslos gegen die Gegner der Nationalsozialisten vorgehen konnte; die übrigen bereits nationalsozialistisch regierten Länder[8] schlossen sich dieser Linie an. Von Anfang an betrachtete Göring insbesondere die preußische Polizei als ein Instrument, das ohne jede rechtsstaatliche Beschränkung gegen die Gegner der neuen Regierung eingesetzt werden sollte. Schon nach wenigen Tagen begann er damit, systematisch hohe Polizeibeamte, vorwiegend solche, die der SPD und der linksliberalen Deutschen Demokratischen Partei (DDP) nahegestanden hatten, aus ihren Ämtern zu entfernen.[9] Am 17. Februar ordnete er in einem Erlass zudem an, gegen »kommunistische Terrorakte und Überfälle« hätten seine Polizeibeamten, »wenn nötig, rücksichtslos von der Waffe Gebrauch zu machen«,[10] und am 22. Februar berief Göring für das Land Preußen eine bewaffnete Hilfspolizei in Stärke von 50 000 Mann ein, die sich aus Angehörigen von SA, SS und Stahlhelm zusammensetzte.
- Mit solchen Maßnahmen verstärkte er schließlich einen dritten Faktor, auf den die Nationalsozialisten beim Ausbau ihrer Machtstellung setzten: die gewaltsame Beherrschung des öffentlichen Raumes durch über 400 000 Angehörige der SA und weitere Hunderttausende von Parteiaktivisten.
Alles in allem konnten die Nationalsozialisten so bereits im Februar 1933 die Gewichte erheblich zu ihren Gunsten verschieben und den Wahlkampf nahezu vollkommen dominieren. Intern gab Hitler als Leitparole den »Angriff gegen den Marxismus«[11] aus, nach außen hin stellte er sich jedoch in der ganz auf seine Person abgestellten Kampagne als christlich und national gesinnter, um die Erhaltung des eigenen Volkes kämpfender Staatsmann dar.[12] Die Wahlkampagne bildete so die erste Etappe auf dem Weg zur Eroberung und völligen Beherrschung der deutschen Öffentlichkeit.[13]
Ein zentrales Element war dabei die zügige Indienstnahme des Rundfunks durch die Nationalsozialisten. Schon am Abend des 30. Januar erhielten Göring und Goebbels Gelegenheit, im Rahmen einer Radioreportage über den abendlichen Fackelzug aus Anlass der »Machtergreifung« ihre Kommentare abzugeben,[14] und am 1. Februar strahlte man einen Aufruf der Reichsregierung aus, den Hitler persönlich verlas.[15] Am 5. Februar übertrug der Rundfunk aus dem Berliner Dom und vom Invalidenfriedhof die zu einem Staatsbegräbnis ausgestalteten Trauerfeierlichkeiten für den Polizei-Wachtmeister Zauritz und den SA-Sturmführer Maikowski, die beide als angebliche Opfer kommunistischen Terrors am 30. Januar im Anschluss an den abendlichen Fackelzug erschossen worden waren; die Übertragung über alle deutschen Sender schloss Grabreden von Goebbels und Göring...




