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E-Book, Deutsch, Band 9, 288 Seiten
Reihe: Die 4 vom See
Lombardi / Binder Der unbekannte Junge und das Vermächtnis der Ehrlichkeit
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-417-27127-0
Verlag: R. Brockhaus
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, Band 9, 288 Seiten
Reihe: Die 4 vom See
ISBN: 978-3-417-27127-0
Verlag: R. Brockhaus
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Alexander Lombardi arbeitet im Leitungsteam des christlichen Kinder- und Jugendwerks 'Wort des Lebens e.V.' am Starnberger See. Er schreibt und produziert Musicals und leitet Freizeiten für Kinder und Jugendliche, womit er jedes Jahr ca. 28.000 Menschen erreicht.
Autoren/Hrsg.
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Kapitel 5
Verwandtenbesuch
»Das müsste er sein«, sagte Antonias Mutter, als sie aus dem Küchenfenster schaute. Von dort aus hatte man einen guten Überblick über den Parkplatz der Seeburg.
»Onkel Thomas?«, rief Sina, Antonias kleine Schwester, und rannte zu ihr, gefolgt von ihrem Bruder Luca.
Die Zwillinge waren aufgeregt. Sie wollten unbedingt ihren Onkel kennenlernen, denn sie waren ihm noch nie begegnet. Irgendwann war der Kontakt zu dem älteren Bruder ihres Vaters abgerissen. Antonia wusste von Thomas nur, dass er als Fotograf in der Welt herumreiste. Das letzte Mal, als sie ihn gesehen hatte, war sie fünf Jahre alt gewesen. Das war bei irgendeiner Ausstellung in München gewesen.
Neugierig ging sie zum Fenster und sah ebenfalls hinaus. Auf dem Parkplatz parkte ein alter VW-Bus. Bin gespannt, wie er aussieht, dachte sie. Ihre Erinnerungen an Thomas waren verschwommen, ein Lächeln, eine tiefe Stimme, nur Details. Sie erinnerte sich an ein Fotoalbum, das ihre Mutter einmal hervorgeholt hatte. Darin waren Bilder von Thomas gewesen, wie er mit einer Kamera in der Hand vor exotischen Kulissen posierte.
Sina und Luca drängten sich an der Scheibe, ihre kleinen Gesichter voller Erwartung. Der Motor des VW-Busses ging aus, die Tür öffnete sich und ein Mann stieg aus. Sein graues, leicht zerzaustes Haar schimmerte im Sonnenlicht. Er zog seine verspiegelte Sonnenbrille ab. Sein freundliches Gesicht war rund um die Augen von Lachfalten gezeichnet. Er sah Andreas auf eine seltsame Art ähnlich, auch wenn er viel lässiger wirkte.
Mit einer geschmeidigen Bewegung holte Thomas einen großen, abgenutzten Reisekoffer aus dem Kofferraum. Dieser war übersät mit bunten Aufklebern. Als er sich umdrehte und an der Fassade der Seeburg hinaufsah, bemerkte er die Kinder am Fenster. Er lachte und winkte ihnen zu. In diesem Moment erschien auch schon Andreas auf dem Parkplatz. Die beiden Brüder drückten sich herzlich.
Kurz darauf traten sie in die Küche. »Thomas, es ist so schön, dich wiederzusehen!«, rief Gitti und umarmte ihren Schwager. »Danke, dass du uns in dieser schwierigen Zeit beistehst.«
»Das ist doch selbstverständlich. Wenn ich helfen kann, tu ich das. Außerdem war die Seeburg ja auch mein Zuhause. Auch wenn ich selten hier bin – der Gedanke, dass unsere Familie sie verlieren könnte, ist bitter.«
»Hallo Onkel Thomas«, rief Luca und hüpfte von einem Bein auf das andere, »ich hab dir ein Bild gemalt.« Er streckte Thomas ein Blatt Papier entgegen.
Seine Schwester wollte nicht zurückbleiben. »Und das ist von mir!«, rief sie und hielt ebenfalls ein Bild hoch.
Thomas lachte herzlich und nahm beide Bilder entgegen. »Vielen Dank euch. Das habt ihr ganz toll gemacht!«
»Onkel Thomas, willst du unser Zimmer sehen?«, fragte Sina und griff die Hand ihres Onkels.
»Jetzt mal langsam«, unterbrach Gitti sie. »Lasst ihn doch erst einmal hereinkommen.«
»Und du bist Antonia?«, fragte Thomas und sah Antonia an.
Sie nickte und sagte: »Hallo Onkel Thomas, cool, dass du da bist. Von wo kommst du gerade?«
»Ich war die letzten drei Wochen in Thailand.«
»Wow, cool, hast du dort fotografiert?«, wollte sie wissen.
»Ja, die Werbekampagne für ein großes Unternehmen.«
»Wisst ihr was?«, mischte sich Gitti ein. »Wie wäre es, wenn wir alles Weitere beim Essen besprechen?«
»Klingt gut!«, antwortete Thomas.
Sina und Luca bestanden darauf, dass ihr Onkel zwischen ihnen saß. Antonia setzte sich ihm gegenüber.
»Lasst uns beten«, sagte Andreas. Alle nahmen sich an der Hand. Während Antonias Vater betete, öffnete sie kurz neugierig die Augen. Sie sah, dass ihr Onkel sich etwas unbehaglich umschaute, als sei ihm dieses Ritual fremd.
Während des Abendessens erzählte Onkel Thomas von seinen Weltreisen und vielen aufregenden Abenteuern. Er schien nichts lieber zu tun, als ihnen Fotos aus den entferntesten Winkeln zu zeigen. Er lachte viel, sprach aufmerksam und geduldig mit Sina und beantwortete Antonia jede Frage. Sie fand ihn einfach klasse.
Ihre Eltern Andreas und Gitti hielten sich bei der munteren Unterhaltung etwas zurück. Es war für Antonia nicht zu übersehen, dass irgendetwas zwischen den beiden Brüdern stand.
Als Antonia an diesem Abend im Bett lag, ließen sie die Geschehnisse des Tages nicht einschlafen. Was ist nur mit Jaron los?, dachte sie. Ich hatte gedacht, er mag mich. Und dann wirft er sich Isabelle in die Arme? Ausgerechnet Isabelle?
Seine Kette hing wieder um ihren Hals. Sie nahm den Anhänger zwischen die Finger und befühlte die Figur des Kletterers, wie sie es oft tat, wenn sie an Jaron dachte. Diesmal aber brachte ihr das keine Ruhe. Sie stand auf und trat ans Fenster, von dem sie einen wunderbaren Blick über den See hatte. Der Himmel war sternenklar, das Wasser völlig ruhig. So still, dass Antonia die Spiegelungen der Sterne auf der Oberfläche sehen konnte. Es ist fast magisch, dachte sie und seufzte. Ich liebe diesen Ort.
In diesem Moment durchfuhr sie die Erkenntnis, dass sie vielleicht bald nicht mehr an diesem Fenster würde stehen können, wenn sie nicht schlafen konnte. Der Gedanke tat weh. »Bitte, lieber Jesus, hilf, dass wir hierbleiben können«, flüsterte sie eindringlich.
Es klopfte an ihrer Zimmertür.
Antonia fuhr herum und rief: »Ja?«
Die Tür ging auf. Ihr Vater stand im Türrahmen. »Du bist ja noch gar nicht im Bett«, sagte er sanft.
»Ich kann nicht schlafen«, antwortete sie.
Ihr Vater kam zu ihr und legte den Arm um sie. Sie lehnte ihren Kopf an seine Schulter. Für eine Weile standen beide stumm da und sahen auf den See hinaus.
»Es ist schön hier«, sagte Andreas leise.
Antonia nickte.
»Lässt dich der Gedanke daran, dass wir die Seeburg verlassen müssen, nicht schlafen?«, fragte ihr Vater.
Wieder nickte sie.
»Ich kann dich verstehen. Mir macht das auch Angst.«
Antonia wollte nicht weiter darüber reden. Zu viel ging ihr durch den Kopf. Sie antwortete nicht, sondern wechselte lieber das Thema. »Onkel Thomas ist nett«, sagte sie.
»Ja, das ist er.«
»Warum kommt er nicht öfters zu Besuch?«, wollte sie wissen.
»Ich weiß es auch nicht genau. Er hat die Seeburg verlassen, als ich elf Jahre alt war. Er hat in Hamburg studiert und war ab da nur noch selten zu Hause.«
»Er ist nach Amerika gezogen, oder?«
»Ja, er hat einige Jahre dort gearbeitet. Irgendwann ist unser Kontakt abgebrochen. Er hat dort geheiratet, aber seine Frau habe ich nie kennengelernt.«
»Er ist verheiratet?«
»Er war«, korrigierte Andreas. »Jetzt ist er schon einige Jahre wieder alleine.« Er seufzte. »Ich kann nur vermuten, dass Thomas die Seeburg immer mit dem Tod unseres Opas in Verbindung gebracht hat. Dass die Erinnerungen zu schmerzhaft waren und er deshalb so schnell weggezogen ist wie möglich. Thomas hat Opa Theodor sehr geliebt.«
»Wie ist Uropa Theodor noch mal gestorben?«, fragte Antonia.
»Als Mama und Papa die Seeburg übernommen haben, hat unser Opa bei der Renovierung mitgeholfen. Leider ist er dabei von einer Leiter gefallen und gestorben.«
»Boah, das ist voll schrecklich.« Antonia schauderte. »Weiß man, warum das passiert ist?«
Andreas zuckte mit den Achseln. »Er ist wahrscheinlich einfach ausgerutscht. Aber eindeutig geklärt wurde das nie. Mein Vater hat immer behauptet, dass es kein Unfall gewesen sein könne. Opa sei dafür zu vorsichtig gewesen.«
»Was meinte er damit?«
»Papa war überzeugt, dass die Leiter manipuliert war.«
»Hat die Polizei das nicht überprüft?« Antonias Interesse war geweckt.
»Das kann ich dir nicht sagen. Als es passiert ist, war ich noch ein Baby. Später haben Mama und Papa wenig darüber geredet«, antwortete ihr Vater. »Ich habe nur gemerkt, dass Thomas nicht viel mit mir zu tun haben wollte. Mama hat mir erklärt, dass er nach dem Tod von Opa verändert war. Er zog sich immer mehr zurück und redete kaum mit jemandem.«
Es fiel Antonia schwer, das nachzuvollziehen. Sie konnte sich nicht vorstellen, wie es sein konnte, dass sich Geschwister nicht nahestanden. Auch wenn Sina und Luca nervten, sie würde sie immer lieb haben.
»Ist dann Onkel Thomas jetzt nur hier, um sich von der Seeburg zu verabschieden?«, wollte sie wissen.
Ihr Vater schwieg einen Moment. »Vielleicht. Und wir müssen noch ein paar Dinge regeln«, sagte er schließlich und seufzte.
»Was müsst ihr regeln?«
»Schatz, das ist kompliziert.«
»Habt ihr denn eine Idee, ob wir die Seeburg doch behalten können?«, fragte Antonia.
»Ich fürchte, das wird schwierig.«
»Aber dieser Dr. Trenner von gestern hat doch gesagt, dass er uns helfen will. Er klang, als wüsste er, was zu tun ist. «
»Ich wäre mir da nicht so sicher.« Andreas ließ sie los. »Und ich glaube auch nicht, dass jetzt eine gute Zeit ist, um darüber zu reden.«
»Und wann ist dann Zeit!?«, polterte Antonia.
Ihr Vater sah sie streng an. »Lass es gut sein, Antonia. Du weißt genau, dass ich die Seeburg auch nicht verlieren will.«
»Aber warum tust du dann nichts?« Antonia ging zurück zu ihrem Bett und setzte sich. Die ganze Wut war wieder da und der Schmerz. Ihr Vater setzte sich neben sie.
»Bitte vertrau mir, Antonia. Deine Mutter und ich tun, was wir können. Wenn uns dieser Anwalt helfen kann, gut. Wenn nicht, finden wir einen anderen Weg.« Er legte den Arm um ihre Schultern. »Mir ist aber vor allem wichtig, dass wir zusammenhalten. Dass wir uns nicht gegenseitig beschuldigen. Jeder...