Lohmann Marxismus
1. Auflage 2001
ISBN: 978-3-593-40012-9
Verlag: Campus
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 155 Seiten
Reihe: Campus Einführungen
ISBN: 978-3-593-40012-9
Verlag: Campus
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Hans-Martin Lohmann (1944-2014) studierte Germanistik, Philosophie und Politikwissenschaft. Von 1974 bis 1979 war er Wissenschaftslektor im Suhrkamp Verlag. Von 1979 bis 1986 arbeitete er als Redakteur der psychoanalytischen Fachzeitschrift 'Psyche', deren Chefredakteur er zwischen 1992 und 1997 war. Er schrieb für Tageszeitungen, Zeitschriften und Rundfunk und befasste sich vor allem mit den Themen Marxismus und Geschichte der Arbeiterbewegung sowie mit der Biographie und dem Werk Sigmund Freuds. Ab 2002 lebte er als freier Publizist in Frankfurt am Main.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
1;Inhalt;6
2;Siglen;8
3;Einleitung;10
3.1;Wichtige Vertreter des Marxismus;24
4;1 Theoretische Grundlegung des Marxismus;34
4.1;Karl Marx und die Kritik der politischen Ökonomie;34
4.2;Friedrich Engels und die Dialektik der Natur;52
5;2 Das Goldene Zeitalter des Marxismus;57
5.1;Die deutsche Sozialdemokratie – Kautsky, Bernstein, Luxemburg;60
5.2;Der europäische Sozialismus;71
6;3 Der Sowjetmarxismus;79
6.1;Marxismus in Russland – Plechanow und Lenin;80
6.2;Der Marxismus als Staatsmacht;86
6.3;Niedergang und Ende des Sowjetmarxismus;95
6.4;Der Sowjetmarxismus außerhalb der Sowjetunion;100
7;4 Marxismus in der Dritten Welt;105
8;5 Demokratischer Sozialismus;115
9;6 Intellektueller Marxismus;124
10;Am Beginn des 21. Jahrhunderts: Glanz und Elend des Marxismus;137
11;Literatur;144
12;Glossar;153
13;Zeittafel;154
|9|Einleitung
Von Max Weber stammt die Bemerkung, vom Denken des 20. Jahrhunderts verstehe nichts, wer Nietzsche und Marx ignoriere. Eric Voegelin zählt Marx, neben Nietzsche, Weber und Freud, zu den bahnbrechenden Geistern der neueren Moderne. Und so unterschiedliche Köpfe wie Eric Hobsbawm und Ernst Nolte sind sich in dem Urteil einig, dass dem 20. Jahrhundert das Prädikat »Zeitalter des Marxismus« gebühre. Hobsbawm lässt das abgelaufene Jahrhundert, das er das »kurze« nennt, mit dem Ersten Weltkrieg und der Oktoberrevolution beginnen und mit dem Kollaps der Sowjetunion enden.
Auch wenn es seit jenem Kollaps üblich geworden ist, den Marxismus als endgültig erledigt zu betrachten und damit zur kapitalistischen Tagesordnung überzugehen, machte man sich eines schweren intellektuellen Versäumnisses schuldig, wenn man die mit dem Marxismus verbundenen Fragen, die immerhin dafür gesorgt haben, dass die bis dahin weltweit dominante Wirtschaftsordnung des Kapitalismus zu eingreifenden Korrekturen der ihr eigentümlichen Logik des Wirtschaftens gezwungen wurde, einfach ad acta legen würde. Fragen werden nicht dadurch aus der Welt geschafft, dass unzureichende oder falsche Antworten auf sie gegeben wurden. Als Frage bleibt der Marxismus auch im 21. Jahrhundert präsent – freilich wird sie |10|auf einem neuen Niveau und in einer neuen, unverbrauchten Sprache formuliert werden müssen. Aber das steht auf einem anderen Blatt und ist nicht Gegenstand dieser Einführung.
Marxismus ist ein pauschaler und Allerweltsbegriff, und jeder versteht darunter etwas anderes. Wenn im Folgenden von Marxismus die Rede ist, so bediene ich mich damit einer ebenso vorläufigen wie konventionellen Sprechweise, die zwar eine Vielzahl von divergenten Phänomenen umfasst, aber doch auf eine einheitliche Epochensignatur zielt. Allen Marxismen zum Trotz, auch wenn sie sich untereinander zum Teil heftig befehdet haben, gibt es doch so etwas wie Marxismus als epochales Ereignis. Vor allem im letzten Kapitel dieses Buches soll versucht werden, das epochal Einheitliche auf den Begriff zu bringen.
Die Heraufkunft des Marxismus sowohl als theorie- und ideengeschichtliche Formation wie als real- und gesellschaftsgeschichtlich wirksames Faktum lässt sich noch am ehesten begreifen, wenn man sich selber auf den Boden basaler marxistischer Annahmen, das heißt auf den Boden dessen stellt, was seit Marx historischer Materialismus heißt. Bekanntlich geht der historische Materialismus davon aus, und das gilt auch für seine eigene Entstehung, dass Ideen, Gedanken und Theorien nicht allein im Kontext anderer kursierender Ideen, Gedanken und Theorien das Licht der Welt erblicken – sozusagen als Eingebungen des Geistes, so wie man lange Zeit die erste Philosophie der Griechen als »griechisches Wunder« bezeichnet hat –, sondern auch, und primär, im Kontakt und Austausch mit den Tatsachen des sozialen Lebens. Nach Marx drängt die Idee zur Wirklichkeit, nicht, wie in der Hegelschen Philosophie, die Wirklichkeit zur Idee.
Die Wirklichkeit, welche Marx und der aufkeimende Marxismus vorfanden, bestand gewiss auch in den Ideen der Französischen Revolution, im lebendigen Erbe des Deutschen Idealismus (Kant, Fichte, Schelling, Hegel), in den materialistisch |11|und religionskritisch eingefärbten Debatten der Linkshegelianer (Feuerbach, Ruge, Hess, Bauer), in den anarchoiden Ausbrüchen eines Max Stirner und, nicht zu vergessen, in den subversiven Hervorbringungen der zeitgenössischen Literatur, in denen sich, wie bei Büchner, Heine, Balzac, Baudelaire, George Sand und Dickens, ein teils scharfer gesellschaftskritischer Ton bemerkbar machte. Das alles zählte für den entstehenden Marxismus nicht wenig.
Aber etwas anderes zählte weit mehr, und dies erkannt und zum Ausgangspunkt seines Denkens gemacht zu haben, gehört zu den unbestreitbar großen Leistungen von Marx. Im historischen Rückblick wird deutlich, dass nur ein paar Jahrzehnte vor Marxens Geburt (1818) ein ganz neues Zeitalter begonnen hatte, wie es die Welt bis dahin nicht kannte. Nehmen wir als rundes Datum das Jahr 1750, mit dem der Sozialhistoriker Eric Hobsbawm seine moderne anheben lässt,1 so muss man feststellen: Damals begann die Epoche der totalen Ökonomie. Die von Marx und seinem Compagnon Friedrich Engels begrüßte »revolutionäre Rolle« der emporstrebenden Bourgeoisie, die Zerstörung aller »feudalen, patriarchalischen, idyllischen Verhältnisse«, der kurze Prozess, der dem »Idiotismus des Landlebens« (Marx/Engels 1848, S.464, 466) gemacht wurde, markieren den Beginn eines Zeitalters, in dem, weltgeschichtlich einmalig, die gesellschaftlichen Subjekte nur noch als Wirtschaftssubjekte – als Unternehmer und Grundbesitzer auf der einen, als Lohnarbeiter und landlose Bauern auf der anderen Seite – vorkommen, in dem alle außer- und nichtökonomischen Lebensäußerungen nur noch Marginalien des gesellschaftlichen Gesamtprozesses sind. Waren bis zu diesem Epochenbruch die wirtschaftlichen Tätigkeiten der Individuen, also ihr Kampf ums nackte Überleben, |12|eingebunden in umfassendere soziale Zusammenhänge, die auf grundlegende Vergemeinschaftung zielten, so schuf sich die neue bürgerliche Welt einen »Helden«, der von morgens bis abends, und oft genug über diese Zeit hinaus, mit nichts anderem beschäftigt ist als mit seinem privaten wirtschaftlichen Überleben – gegen alle anderen, die als Konkurrenten um den Anteil am Kuchen des ökonomischen Gesamtprodukts wahrgenommen werden. Der Marxismus war die stärkste und ausdrucksvollste Reaktion auf diesen Zivilisationsbruch, der, wie Marx nicht müde wurde zu betonen, mit äußerster Gewalt bewerkstelligt wurde. Die Rede vom »friedlichen« Kapitalismus, der Raub und Krieg durch Handel und Wandel ersetzt, war immer schon verlogen.
Marx und Engels waren nicht die ersten, die die Heraufkunft dieses neuen gesellschaftlichen Paradigmas, eines rein ökonomisch definierten Paradigmas des gesellschaftlichen Zusammenlebens, registrierten. Bevor sich der Marxismus unter diesem Namen etablierte und durchsetzte – im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts –, gab es eine Reihe von Vorläufern und Protestbewegungen, die sich mehr oder minder vehement gegen die katastrophalen Auswirkungen des sich entfaltenden freien Marktes auf die Masse der Bevölkerung wandten. Namentlich in den Ländern Westeuropas, in denen sich der Prozess der kapitalistischen Industrialisierung am frühesten und erfolgreichsten bemerkbar machte, vor allem in England, bildeten sich wenn auch eher kurzfristige Zusammenballungen und Zentren von Revolten und Verweigerungen auf Seiten der landflüchtigen verarmten Arbeiterpopulation.2 Zugleich meldeten sich besorgte Stimmen, etwa die Robert Owens (1771–1858), |13|zu Wort, die angesichts des Elends der für soziale Reformen und pädagogische Maßnahmen plädierten, um die schlimmsten Folgen der stürmischen marktwirtschaftlichen Ökonomisierung in sozial verträgliche Bahnen zu lenken. Es ist wohl alles andere als Zufall, dass die klassischen Werke der politischen Ökonomie, auf die Marx sich später beziehen sollte, in erster Linie aus der Feder englischer Autoren (Adam Smith, David Ricardo) stammen. In Frankreich, das in den zwanziger, dreißiger und vierziger Jahren eher einen Spekulanten- und Rentierkapitalismus hervorbrachte – in den Balzacschen Gesellschaftsromanen mit beißender Schärfe aufs Korn genommen –, traten Figuren wie Claude Henri Saint-Simon (1760–1825) und Charles Fourier (1772–1837) auf den Plan, die einen utopischen Sozialismus verkündeten, während Étienne Cabet (1788–1856) einen glücklichen Kommunismus und Auguste Blanqui (1805–1881) die bewaffnete Konspiration predigten. Eine bemerkenswerte Variante im Kontext des französischen Frühsozialismus vertrat die Schriftstellerin George Sand (1804–1876), die sich für einen Ökologismus stark machte.3 Dagegen ist vielleicht bezeichnend, dass in Deutschland die ersten sozialistisch und kommunistisch inspirierten Zirkel sich im akademischen Umfeld des zerfallenden Hegelianismus herausbildeten. Auch in den frühen Schriften von Marx finden sich kräftige Spuren der Prägung durch dieses Milieu. Aber Marx sollte die Eierschalen der Bewusstseinsphilosophie, deren Kritik sich auf die falschen Vorstellungen beschränkt, die sich die Menschen von der Welt machen, und daher immer wieder bei der Religionskritik landet, bald abwerfen.
|14|Ausgangspunkt des Marxismus – und darin unterscheidet er sich sowohl von den frühsozialistisch-utopischen Entwürfen einer besseren Welt als auch von allen hegelianisierenden Anstrengungen, die auf ein erneuertes Bewusstsein zielen – ist der wirkliche Mensch und seine Stellung in der Geschichte. Der Mensch ist nicht, was er sich über sich vorstellt, sondern was er isst. Nicht sein Denk- und Vorstellungsvermögen unterscheidet ihn...