E-Book, Deutsch, 224 Seiten
Loewit 7 Milliarden für nichts
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-99001-396-0
Verlag: edition a
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)
Ein Landarzt rechnet mit dem Gesundheitssystem ab
E-Book, Deutsch, 224 Seiten
ISBN: 978-3-99001-396-0
Verlag: edition a
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)
Dr. Günther Loewit ist seit 33 Jahren Landarzt. Schonungslos schildert er, wie die Politik das Gesundheitssystem kaputt macht, wie Gesundheit zur Ware und Patienten zu Kunden verkommen und wie dabei auch noch Milliarden an Steuergeldern verschwendet werden. Loewit beschreibt in diesem Buch, was viele Menschen bereits ahnen, in seiner vollen Tragweite aber nicht für möglich halten würden.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Hubschrauber
Wie wir täglich tausende Euro an Steuergeldern für völlig sinnlose Rettungseinsätze verschwenden
Juli 2011, sechs Uhr. Ein angenehmer Hochsommermorgen. Blauer Himmel. Die Sonne steigt gerade über den flachen Horizont im Osten. Ein Storch, den Schnabel schwer mit Grasbüscheln beladen, fliegt tief über die Hauptstraße zu seinem Nest. Sonst schläft der Ort noch. Erste Sonnenstrahlen treffen auf den Asphalt. Ein angenehmer Lufthauch erzeugt ein Gefühl von Kühle. Vogelgezwitscher. Von weit entfernt kann man das Brummen eines Mähdreschers hören. Ein beinahe kitschiges Bild. Ich höre auch ein anderes Geräusch, ein dumpfes Grollen, das langsam näherkommt. Noch kann ich es nicht richtig einschätzen. Ohnehin bin ich mit den Gedanken ganz woanders. Ich bin zu Fuß unterwegs zu meiner neuen Ordination. Ein Luxus, den ich mir erst seit ein paar Tagen leisten kann. Denn seit dem 1. Juli bin ich Wahlarzt. 25 Jahre meines Lebens war ich Kassenarzt und damit stets auf Abruf erreichbar. Telefon, Notarztausrüstung und Auto immer in meiner unmittelbaren Nähe. Tag und Nacht. An vier, manchmal auch an sieben Tagen in der Woche. Einen Spaziergang konnte ich mir nur an freien Wochenenden erlauben, im Urlaub, oder wenn ich mir eine Vertretung leistete. 25 Jahre stand ich unter ständiger Anspannung. Während ich über die neu gewonnene Freiheit nachdenke, wird mir allmählich bewusst, dass aus dem fernen Grollen ein Knattern geworden ist. Plötzlich ordnet meine Wahrnehmung das Geräusch klar zu. Ein Hubschrauber ist im Anflug. Das Kreischen der Turbine zerstört die morgendliche Idylle. Während meiner Zeit als Kassenarzt gab es keinen Hubschrauberanflug im Ort ohne mein Mitwissen. Der Grund dafür ist einfach. Normalerweise habe ich den fliegenden Notarzt selbst angefordert. Zumindest wäre ich über einen Einsatz informiert worden. Andere Hubschrauber verirren sich kaum in meinen entlegenen Landarztsprengel. Ich muss mich erst an die neue Situation gewöhnen, nicht mehr für alles rund um die Gesundheit der Bevölkerung verantwortlich zu sein. Somit kann es auch einen Rettungshubschrauber geben, ohne mein Wissen und ohne mein Wollen. Meine Neugierde ist aber geweckt. Inzwischen kann ich den gelben Hubschrauber mit der schwarzen Aufschrift klar am Himmel erkennen. Er fliegt tief, die Kanzel vornüber, das Heck hochgestellt. Bedrohlich hängt er schräg in der Luft. Er dreht sich. Wie immer, wenn der Pilot einen geeigneten Landeplatz sucht. Ich biege von der Hauptstraße in eine Seitengasse ein und sehe vier oder fünf Menschen, die sich um einen liegenden Mann geschart haben. Einer von ihnen erkennt mich und ruft aufgeregt in den ruhigen Morgen. »Herr Doktor, kommen’s schnell zu uns her. Da liegt der Vikerl, alles is’ voller Blut.« Natürlich bin ich immer noch »der Doktor«. Jeder der fünf ringsum stehenden Männer kennt mich seit 25 Jahren. Genauso gut kennen Sie alle den Viktor Stettner, Mitte vierzig, Alkoholiker seit der späten Jugend. Jeden Abend betrunken. Die Menschen im Ort kennen die Geschichten über seine unzähligen Mopedunfälle. Seine Knochenbrüche. Jeder kennt seinen torkelnden Gang. Sein gesprächiges Lallen, wenn er getrunken hat. Und sein nüchternes Schweigen. Jeder weiß, wie er im Winter einmal fast erfroren wäre, weil er zu später Stunde am Heimweg vom Wirtshaus vierzig Meter vor seiner Haustür bei vier Grad Celsius auf der Straße liegen geblieben und eingeschlafen ist. Damals hat ihm der Zeitungsausträger um drei Uhr früh das Leben gerettet. Kinder zeigen mit den Fingern auf ihn. Und weichen seinetwegen auf die andere Straßenseite aus, wenn er spuckt und schreit. So gut wie jeder hat schon einmal beobachtet, wie ihn sein Vater, selbst im Trinken geübt, in einem Schubkarren spätabends von irgendwo nach Hause führt. Wie eine Fuhre Schotter. Ich höre, dass der Hubschrauber am nahen Sportplatz gelandet sein muss, weil das Fauchen der Turbine abschwillt. Das Knattern der Rotorblätter hat aufgehört. Ich beschleunige meinen Schritt und komme der aufgeregten Gruppe näher. Ein untersetzter Pensionist wird grob zur Seite gestoßen. »Lass den Doktor her.« Ich sehe, dass Vikerl wieder einmal stockbetrunken gestolpert sein muss und an Ort und Stelle liegen geblieben ist. Ein typischer Geruch steigt in meine Nase. Seit dreißig Jahren kenne ich diese Mischung von verschwitztem Gewand, Zigarettenrauch, Alkohol, Adrenalin und Blut nur allzu gut. An seiner Schläfe sehe ich den Puls klopfen. Konstant und regelmäßig. Ich entdecke eine circa drei Zentimeter lange, leicht klaffende Wunde an seiner Stirn. Über dem rechten Auge. Sie blutet nicht mehr. Also liegt Vikerl schon eine Weile hier. Er atmet ruhig. Ich versuche, ihn anzusprechen und frage mit lauter Stimme: »Herr Stettner… Kennen Sie mich? Hören Sie mich?« Zuerst geschieht nichts. Ich wiederhole den zweiten Teil meiner Frage noch lauter: »Hören Sie mich?« Jetzt geht ein Zucken durch den gekrümmten Körper. Herr Stettner bewegt den Kopf, streckt die angewinkelten Beine mit einer ruckartigen Bewegung gerade und versucht, das Gesicht in meine Richtung zu drehen. Die Augen bleiben halb geschlossen. Dann lallt er schwer verständlich: »Geh, Doktor, lass mi in Ruah, es is’ eh nix.« Ich kenne den Satz. Nicht nur von ihm. Nächtliche »Alkoholleichen« säumen den Lebensweg eines jeden Landarztes. Ich knie mich zu ihm hinunter. Nach einer ersten groben Untersuchung muss ich dem Patienten auch recht geben. Außer der kleinen Rissquetschwunde ist nichts passiert. Der Blutverlust hat sich in Grenzen gehalten. Aber Blut schaut immer grässlich aus. Für Laien auch in kleinen Mengen am Asphalt. Inzwischen dämmert mir, was es mit dem Hubschrauber auf sich haben könnte. »Hat jemand von Ihnen den Hubschrauber gerufen?«, frage ich neben dem Patienten kniend in die frühmorgendliche Runde. Mit einer Hand fühle ich seinen Puls, mit der anderen ziehe ich seine Unterlider nach unten, um zu sehen, wie das einfallende Morgenlicht seine Pupillen ordnungs- und erwartungsgemäß verengt. Einer der umstehenden Männer gibt mit leicht vorwurfsvollem Ton die Antwort: »Na ja, Herr Doktor, Sie sind ja seit diesem Monat nicht mehr zuständig für uns, und da habe ich mir gedacht, ich rufe den Notarzt.« Ich erkenne sofort die Stimme eines immer überengagierten Feuerwehrmannes. Ohne meinen Kopf zu heben, frage ich ihn: »Und, was haben Sie gesagt?« Dann höre ich von oben die fatalen Worte: »Na, dass wir einen Bewusstlosen auf der Straße liegen haben, und eben, dass alles voller Blut ist, und dass ich glaub’, dass es ein Schädelhirntrauma sein könnte.« Ohne den Gedanken auszusprechen, denke ich mir: Ja, das sind die richtigen Zauberworte. Inzwischen höre ich auch das Folgetonhorn eines Rettungstransportwagens. Parallel zur Alarmierung eines Hubschraubers wird von der Leitstelle stets auch die örtliche Rettung zur Hilfe vor Ort mitinformiert. Ich knie immer noch am Boden, fühle mit der rechten Hand immer noch den Puls von Herrn Stettner. Meine Linke berührt seinen Kopf. Ich streichle ihn, weil ich spüre, wie das den Vikerl beruhigt. Während die Umstehenden der Meinung sind, ich würde erste Hilfe leisten, habe ich mich innerlich schon längst absentiert. Verstecke mich auf meinen Knien inmitten der immer größer werdenden Menschentraube. Den Kopf halte ich bewusst gesenkt. Ich will nicht gesehen werden. Wie ein Kind, das sich hinter den vorgehaltenen Händen versteckt und glaubt, nicht da zu sein. Die Gedanken gleiten ab. Ich bin nicht mehr Arzt. Denn der Vikerl braucht eigentlich keinen Arzt. Er bräuchte entweder seinen Vater mit dem Schubkarren, oder sonst jemanden, der ihn nach Hause bringt und in sein Bett legt. Oder eine Mutter, die ihn geliebt hätte. Noch besser, denke ich, neben dem Vikerl kniend, wäre gewesen, er hätte einen Vater gehabt, der ihm ein besseres Vorbild gewesen wäre. Und ja, das schießt mir auch noch durch den Kopf, vielleicht würde ich eine Naht in seine Wunde setzen. Eine. Mehr wäre sicherlich nicht notwendig. Ohne Lokalbetäubung. Weil der Vikerl eh schon nichts mehr spürt. Wegen des Alkohols. Und dann denke ich noch an meinen Vorgänger, der mit Sicherheit nur ein Pflaster über die Wunde geklebt hätte. Den Angehörigen hätte er dabei in seiner ruppigehrlichen Art gesagt: »So wie der Vikerl schon ausschaut, wird ihn die eine Narbe auch nicht hässlicher machen.« Die rot gekleideten Sanitäter laufen aufgeregt auf uns zu, als ginge es um Leben oder Tod. Mit rotweißen Tornistern und Rucksäcken beladen. Reflektorstreifen in Form des Kreuzes blitzen im Morgenlicht auf. Ein Sonnenstrahl fällt auf mein Gesicht. Dann höre ich: »Der Herr Doktor ist eh schon da.« Ich schweige. »Brauchen wir ein EKG?« Ich schaue auf, weil ich die vertraute Stimme eines Sanitäters höre, den ich seit zwanzig Jahren kenne. Wir haben uns immer gut verstanden und unzählige Einsätze zu jeder Tages- und Nachtzeit miteinander erlebt. Ich spüre, dass ich ein Grinsen nicht unterdrücken kann. Endlich erhebe ich mich und sage: »Nein, wir bräuchten überhaupt nichts. Es ist wieder einmal der Vikerl, und außer einer kleinen Rissquetschwunde auf der Stirn fehlt ihm überhaupt nichts. Er hat einfach zu viel Alkohol im Blut. Dagegen wird der Hubschrauber auch nicht helfen. Oder?« Jetzt lächelt auch der Rettungsmann. »Wahrscheinlich nicht«, sagt er und zwinkert mir zu, »aber Herr Doktor, ärgern Sie sich nicht, gehen Sie einfach, wir machen das schon.« Er fügt noch ein »Danke!« hinzu. Ich fühle mich...