E-Book, Deutsch, 396 Seiten
Lötscher / Naas / Roos Kompetenzorientiert beurteilen (E-Book)
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-0355-1897-9
Verlag: hep verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)
E-Book, Deutsch, 396 Seiten
ISBN: 978-3-0355-1897-9
Verlag: hep verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)
Dieses E-Book enthält komplexe Grafiken und Tabellen, welche nur auf E-Readern gut lesbar sind, auf denen sich Bilder vergrössern lassen.
Kompetenzorientierter Unterricht erfordert eine Weiterentwicklung der Beurteilung. In diesem Buch werden neue Konzepte und Vorgehensweisen vorgestellt, die Lehrpersonen der Volksschule als Orientierungshilfe bei der kompetenzorientierten Beurteilung dienen können. Dabei spielen Diagnosen sowohl für die fördernde als auch für die abschließende Beurteilung eine zentrale Rolle. Auf einen (allgemein-)didaktischen und lernpsychologischen Grundlagentext folgen neun fachdidaktische Beiträge mit anschaulichen Unterrichtsbeispielen aus allen drei Zyklen.
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Beitrag 2
Mathematik (1. Zyklus)
Lernprozesse zum Plusrechnen beginnen spätestens in der Vorschulzeit, wenn Kinder eigenen Motiven nachgehen, eigenproduktiv und kooperativ tätig sind, ihr subjektives Verstehen prüfen und Fertigkeiten verfeinern. Entsprechend wirksam sind reichhaltige und natürlich differenzierende Lernangebote sowie spezifische Lernanlässe zu mentalen Vorstellungen, prozeduralen Sicherheiten und Routinen, auch über die Schwelle des Schuleintritts hinaus. Die unterschiedlichen didaktischen Absichten bedürfen einer Verzahnung mit Beurteilungen, die sich an lernrelevanten Kriterien und nächsten Lernschritten orientieren und die summative Bewertungsmöglichkeiten bieten. Der folgende Beitrag gibt Beispiele zu formativen Beurteilungsanlässen mit reichhaltigen Aufgaben beziehungsweise Eigenproduktionen und solche zur Beurteilung spezifischer Kompetenzen. Beurteilungsanlässe zum Plusrechnen im 1. Zyklus
Kurt Hess 1 Ansprüche ans Lernen und Beurteilen im 1. Zyklus
Bereits weit vor der Vergabe erster Schulnoten wird mathematisches Verständnis erworben, gefördert und beurteilt. In diesem ersten Kapitel des Beitrags wird die Bedeutung von frühem mathematischem Lernen und einer kompetenzorientierten Beurteilung hervorgehoben, weil diese den späteren Schulerfolg wesentlich beeinflussen. Das zweite Kapitel beleuchtet frühe Kompetenzen zum Plusrechnen, die im dritten Kapitel mit Lern- und Beurteilungsanlässen zu reichhaltigen Aufgaben und im vierten Kapitel zu spezifischen Anforderungen gerahmt werden. 1.1 Bedeutung und Ausrichtung früher Spiel- und Lernanlässe Spiel- und Lernanlässe müssen früh angesetzt werden, wenn damit die Bildungschancen aller Kinder optimiert werden sollen. Insbesondere Vorschulkinder mit schwierigen Lernbedingungen sollten dringend jene Voraussetzungen erwerben, die über den Erfolg des schulischen Weiterlernens entscheiden. Entsprechende Studien weisen eindrücklich darauf hin, dass sich bereits am Ende des Kindergartens spätere Schwierigkeiten im Sinne einer Dyskalkulie vorhersagen lassen (siehe Abschnitt 2.1; vgl. auch Krajewski 2003; Krajewski u. Schneider 2006). Wirksame Spiel- und Lernangebote ermöglichen allen Kindern einen Einstieg in zentrale Kompetenzbereiche und bieten individuelle Herausforderungen (siehe Abschnitt 3.1). Allerdings greifen vorschulische Lernanlässe zu kurz, wenn sie ausschließlich fachspezifisch ausgerichtet sind. Es braucht Angebote, die sich (auch) an entwicklungsorientierten Zugängen orientieren (siehe Beitrag 1, Abschnitt 4; vgl. auch D-EDK 2016, 44–48; Hess 2017). Beim einen Kind stehen aktuell vielleicht eher Lernanlässe zur Körperwahrnehmung oder zur Feinmotorik an, weil fachlich ausgewiesene Kompetenzen noch zu weit entfernt liegen. Ein anderes Kind muss zuerst lernen, Primärbedürfnisse aufzuschieben und Frustrationstoleranzen zu entwickeln, bis es sich auf Aufträge einlassen kann. Auch solche basalen Lernabsichten strahlen wesentlich auf fachbezogene Kompetenzen ab, auch wenn sie etwas weiter weg von fachlich-curricularen Vorgaben sind (siehe Abbildung 1; vgl. auch Hess 2017; Hess 2019, 22). Abbildung 1 Entwicklungsorientierte und fachliche Perspektive (nach Hess 2019, 22) Die überaus heterogenen Lernvoraussetzungen bis Ende des Kindergartens lassen sich weder mit beflissenem Vermitteln noch mit bloßen Trainings reduzieren oder in eine einheitliche Zone bestimmter Anforderungen bringen (vgl. Schipper 2002; Stamm 2005; Hess 2016, 2019). Wirksame Ansätze verweisen eher auf reichhaltige Spiel- und Lernangebote mit natürlich differenzierenden[1] Freiräumen, damit Kinder eigenen Motiven nachgehen, Erfahrungen austauschen, Entwicklungsfortschritte machen und dabei auch noch fachliche Ziele erreichen können. Selbst ein solch professioneller Umgang mit Heterogenität führt aber nicht dazu, dass alle Kinder die fachlichen Erwartungen erfüllen. Der frühe Umgang mit Heterogenität meint eben die Erhöhung der Bildungschancen aller Kinder und nicht die Minimierung von Unterschieden. Für das schulisch weiterführende Lernen wäre es sinnvoll, sich über bemerkte Auffälligkeiten in Übergabegesprächen auszutauschen, damit die Lernprozesse auch nach dem Schuleintritt kontinuierliche Fortsetzungen finden (Hess 2011, 23; Hess 2015, 2019). 1.2 Relevante Kompetenzen frühzeitig beurteilen Zu einem sorgfältigen Kompetenzaufbau gehören Einsichten, Vorstellungen, Routinen, Anwendungen und Motivationen, es selbst zu tun, also nicht nur «theoretisch» zu können. Daraus lässt sich unschwer ableiten, dass verschieden ausgerichtete Lernangebote und je dazu passende Beurteilungsformen gefragt sind beziehungsweise «gemeinsam gedacht» werden sollten (Wälti 2018, 6). Kompetenzorientierung heißt auch, dass Kinder genügend Zeit erhalten, um Erfahrungen zu sammeln und «irgendwie Bekanntes, aber noch nicht so Vertrautes» zu klären und sich anzueignen. Dies gelingt, wenn entscheidende Voraussetzungen frühzeitig abgeklärt werden (siehe Kapitel 2), damit sich die Kinder die Zeit nehmen können, die sie brauchen. Denn «verstehen» oder «sich etwas vorstellen können» bedingen wiederkehrende Auseinandersetzungen und lassen sich nicht per Knopfdruck auslösen. Leider werden diagnostische Fragen oft erst dann gestellt, wenn die Kompetenzen bereits verfügbar sein sollten. Also frei nach der Metapher eines Skirennläufers, der seine Fitness oder seine technischen Fertigkeiten erst zu Beginn der Wintersaison diagnostiziert und dabei bemerkt, dass ihm nun die Zeit für einen gezielten Trainingsaufbau fehlt (Hess 2016, 229). 1.3 Mara tut es nicht, obwohl sie es könnte Einmalige Beurteilungen sind insbesondere im 1. Zyklus wenig verlässlich. Dies liegt daran, dass Kinder nicht immer zeigen, zeigen wollen, zeigen können oder zeigen müssen, was sie potenziell könnten. Es ist dennoch sinnvoll, Leistungen entlang fachlich relevanter Kriterien zu beurteilen, weil sich Kompetenzen weniger über die Anzahl richtiger Lösungen als über Anwendungen inner- oder außerhalb der Mathematik ermitteln lassen (siehe Abschnitte 3.2, 3.4). Aus aktiv-teilnehmenden Beobachtungen sollte hervorgehen, inwiefern momentane Leistungen (Performanzen) den eigentlichen Kompetenzen entsprechen (siehe Beitrag 1, Abschnitt 5). Mara könnte zum Beispiel 1 + 27 durch Tauschen der Summanden lösen, tut dies aber nicht. Stattdessen zählt sie die 27 ab. Weshalb sie die Summanden nicht tauscht beziehungsweise warum Kinder ihr eigentliches Potenzial nicht nutzen, kann viele Gründe haben: Vielleicht fordert eine Aufgabe nur bestimmte Kompetenzen heraus, oder ein Kind wie Mara vertraut ausschließlich ihren bewährten Zählstrategien. Dies kann unter anderem mit emotionalen Befindlichkeiten, übersteigertem Ehrgeiz, fehlendem Anreiz oder mit Misserfolgsangst zu tun haben (vgl. Gaidoschik 2010; Krajewski 2003; Stern 1998, 66; Hess 2016, 184–189). Zudem fordern manche Aufgaben auch hinsichtlich Kreativität, Selbstvertrauen und Frustrationstoleranz heraus, sodass fachliche Kompetenzen manchmal nur bescheiden sichtbar werden. 2 Welche Kompetenzen erfordert das Plusrechnen?
Der Lehrplan 21 weist den Kompetenzaufbau zum Plusrechnen – ausgehend von Aspekten des Zählens und des Mengenverständnisses bis hin zur Nutzung operativer Beziehungen – mit zahlreichen Kompetenzbeschreibungen aus. Differenzierte Beurteilungen und davon abgeleitete nächste Lernschritte setzen entsprechende fachdidaktische Hintergründe voraus. 2.1 Zähl- und Mengenkonzepte als Weichenstellung Mehr oder weniger verfügbare Zähl- und Mengenkonzepte stellen bereits am Ende des Kindergartens eigentliche Weichen in Richtung Dyskalkulie oder Lernerfolg. Damit Lernstände frühzeitig diagnostiziert und Fördermaßnahmen eingeleitet werden können, ist ein differenziertes Wissen über relevante Prinzipien, Strategien und Fehlvorstellungen notwendig (Hess 2016, 2019). 2.1.1 Was steckt hinter dem Zählen? Kinder wollen und sollen ihr Zählverständnis und ihre Zählfertigkeiten ab Beginn des Kindergartens erweitern, festigen, verinnerlichen und flexibilisieren. Dies setzt unterschiedliche Lernanlässe voraus, wobei die einen zu Einsichten und andere zu Routinen führen (siehe Kapitel 3 und 4). Die meisten vierjährigen Kinder bestimmen Anzahlen, indem sie jedem Element genau eine Zahl in der korrekten Reihenfolge zuordnen (1-zu-1-Korrespondenz) und die letzte Zahl als Anzahl angeben (Kardinalzahl). Etwas später verstehen sie das Abstraktionsprinzip – zum Beispiel 5 Mücken und 5 Elefanten sind gleich viele, weil jedes Element genau 1 zählt – und die Invarianz, nach der eine Anzahl gleich groß bleibt, wenn lediglich die Anordnung der Elemente ändert (Gelman u. Gallistel 1978). Neben den genannten Kompetenzen zum Abzählen ist ein flexibles verbales Zählen anzustreben (Fuson 1988), also von jeder Zahl aus vorwärts und rückwärts, später auch in verschieden großen...