E-Book, Deutsch, Band 2, 456 Seiten
Reihe: Kometen der Moderne
Loerke / Heimböckel / Zittel Der Oger
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-946595-14-4
Verlag: C.W. Leske Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, Band 2, 456 Seiten
Reihe: Kometen der Moderne
ISBN: 978-3-946595-14-4
Verlag: C.W. Leske Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Oskar Loerke, 1884-1941, wird stets als Begründer der modernen Naturlyrik gewürdigt, der maßgeblich Autorinnen und Autoren wie Karl Krolow, Günter Eich, Wilhelm Lehmann, Christoph Meckel oder Elisabeth Langgässer beeinflusste. Als einer der Ersten erhielt er 1913 den später bedeutendsten deutschen Literaturpreis der Weimarer Republik, den Kleist-Preis, mit dem ungewöhnliche neue Begabungen gefördert wurden. Aber auch dank seiner mehr als zwanzig Jahre währenden Arbeit als Lektor für den Verlag S. Fischer sowie durch zahlreiche Essays und Kritiken ist er als wichtiger Akteur im Literaturbetrieb seiner Zeit noch heute bekannt. Vollkommen vergessen ist jedoch seine Prosa, obwohl Loerke damals auch als Erzähler Erfolg hatte. Der Oger ist Loerkes wichtigstes episches Werk, er hat über zehn Jahre daran gefeilt. Auch für die Entwicklung des deutschsprachigen Romans, insbesondere mit Blick auf das Erzählwerk des von Loerke geförderten Hans Henny Jahnn, ist die Bedeutung des Oger nicht zu überschätzen; es ist eines der zentralen Werke des sogenannten Magischen Realismus in Deutschland.
Autoren/Hrsg.
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1
Die Spinne oben in der Fensterecke eines **havener Gasthauszimmers war nicht Mohammeds Spinne: sie hatte ihr großes Radnetz nicht vor den Flüchtling gespannt, der tief unter ihr im Bette lag, wie ihre tausendjährige Schwester einst vor die Höhle des verfolgten Propheten. Der Panzer eines ihrer erstochenen und ausgesogenen Spinnen-Liebhaber hing jämmerlich verkrümmt und unbeachtet unter ihren eckigen Greisenbeinen, – was kümmerte sie der tote Menschenmann! Eifersüchtig hütete sie ihr Haus; die Nacht drohte es in ihrem Meere der Finsternis zu ersäufen, wenn die fahle Mondhelle losch. Aber das trübe Licht sparte sich immer wieder heran, und als es an der Wand erstarrte, zupfte sie an zwei Speichenfäden, wie um zu erproben, ob sie in der metallenen Kühle nicht erfrören und zerbrächen. Vielleicht auch hatte ein Hauch, den die bewegte Julinacht durch die Fensterfugen gegen ihr Nest preßte, ihr überfeines Tastgefühl erregt.
Schattenschwaden rauchten aus dem Kastanienlaube draußen über die braune Tapete. In umrührenden Ruderbewegungen drängten sie immer abwärts, ohne einen Weg aus ihrer Verschlungenheit zu finden, bis es aussah, als ermatteten sie, während die Hunderte von großgehenkelten Urnen im Tapetenmuster zum Zischen des Windes eine leise Himmelfahrt begannen. Der Staub vertrockneter Herzen mochte über die Wolken hinaufgetragen werden vor die Füße des Weltenrichters: so hatte der Tote noch vor einer Stunde beim Anschaun des Treibens gedacht.
Nun lag er wie ein rücklings Überfallener und Erschlagener da, der sich in seiner letzten Verzweiflung ins Lager verbissen hätte. Er war völlig nackt, sein Nachthemd und das Deckbett lagen auf dem Boden. Auf das Gesicht geworfen, so daß die zerknüllten Kissen den Kopf fast überschwemmten, die Beine steif ausgestreckt, die Arme in die Höhe geworfen, die Hände zu Fäusten geschlossen, schien er ausgeseufzt zu haben.
Plötzlich aber schüttelte ein Schluchzen den Körper des Toten, und die Schulterblätter hoben sich in langen, zitternden Atemzügen. Mit den Ellenbogen stieß er sich hart auf, blieb ein Weilchen auf den Knien sitzen, eine lange, schmächtige Gestalt, und lehnte dann müde seine Glieder gegen die Wand. Er hatte das Gesicht eines etwa Fünfundzwanzigjährigen. Die sanften sandgrauen Haare wollten mit der großen Nase und dem gewaltig vorspringenden Kinn nicht übereinstimmen und löschten den hohen Schädel fast aus. Züge des Grames schienen sich wie harte Seile zwischen den Knochen zu spannen. Schwärzliche Augen, vertieft vom Brande eines Kummers, richteten sich auf die Urnen an der gegenüberliegenden Mauer. Noch wurden sie von der Schattenwolke umspült, schwebten aber nicht mehr zu der Höhe.
»Martin, du Komödiant!« redete ihn die Stimme seines Vaters an, und wie aus großer Ferne: »Warum schlägst du mich?«
»Vater, wo bist du?« fragte es aus Martin Wendenich zurück.
Ein naher Atem blies ihm das Gesicht rot an. Nur wie Würmer, die aus dem Inneren heraushingen, blieben die Henkel an den Urnen sichtbar.
»Du Komödiant!« wiederholte die Stimme wehvoll. »Deine Hand hast du gegen mich erhoben. Mit dem Stuhle hast du auf meinen Kopf geschlagen. Wo sind deine Tränen darüber? Ich habe hier bei dir gestanden und deine Reue belauscht. Wo ist sie? Mit der Gebärde der Verzweiflung hast du die Verzweiflung rufen wollen, mit der Gebärde des Todes den Tod. Aber du bist zu hart. Deine heuchlerischen Augen sind trocken geblieben, und dein Blut jagt weiter. Was habe ich dir getan, daß du mich erschlagen hast?«
»Ich habe dich nicht erschlagen. Ich habe nicht einmal dich berührt.«
»Dennoch bin ich an deinem Haß gestorben. Du Steinherziger! Der Vater fragt wie ein Sünder dich, seinen Richter: wo ist meine Schuld?«
»Du lügst! Nicht dein Geist spricht mit deiner Stimme. Dein Geist ist untergegangen in der entsetzlichsten Krankheit, die je einen Menschen gegeißelt hat. Wie käme ihm die Klarheit, die mich aus dir anstrahlt?«
»Aus der Unschuld. Du begreifst sie nicht. Darum mußt du im Dunkel bleiben, und ich bin ins Licht gegangen.«
»Du lügst! Du lügst! Du lebst, wie ich dich verließ.«
»Sieh her, Sohn.«
Entsetzt bohrten sich Martins Augen in die Zimmerecke neben der Tür. Purpurne Blindheit dünstete sein kochendes Blut aus, die in gespenstischen Beeten vor ihm schwebte und wuchs und seinen Blick hinderte. War das hinter den Beeten das zusammengerungene Handtuch auf seiner Stange? War es nicht in großer Ferne ein Gehängter an seinem Galgen? Der Gehängte hatte das Antlitz seines Vaters, der Leib war nackt, die Füße leicht übereinandergelegt. Seine Lippen bewegten sich unablässig und brachten lange Zeit keinen Laut hervor.
Der Anblick dieses Gesichts hatte Martin in ein geistiges Fieber ganz jenseits von aller Freiwilligkeit gerissen. Er gab den lange gekämpften Kampf seiner Seele der Magie und Leidenschaft des Grauens preis.
Der Gehängte sprach weiter mit einem litaneienhaften Gesange:
»Du siehst mich nackt, wie du selber nackt bist, mein Blut und Fleisch. Wo ist meine Schuld?«
»Du hast nach mir gespien.«
»Ich bin krank.«
»Ja, du bist krank. Aber deine Krankheit ist eine anstekkende Pest. Sie hat dich verdorben, und nun mordet sie deine Kinder. Ich klage dich an.«
»Oh, hab Geduld.«
»Jahre und Jahre haben ich und meine Geschwister den Pesthauch eingeatmet. Wo sahst du Freude an uns? Wann regte sich unsre mit uns geborene Freiheit? Wir waren deine Kettensklaven und schlichen um dich in jahrzehntelangem Mitleid, in unaufhörlicher Rücksicht, in schlafloser Angst vor deinem Geschrei. Du hast die Mutter gebeugt und ihre Güte mit Galle bitter gemacht. In unserem Hause hat sich eine Beklemmung eingenistet wie von Kampferduft und Kienöl. Die Giftatmosphäre ist so schwer, daß man sie aus den Gardinen schütteln kann und unter dem Sofa aus der hintersten Ecke hervorfegen. Sie ist aus deinem zerstörten Körper ausgewandert, dringt uns in die Poren und wächst in jedem einzelnen von uns, – du hast uns gezeugt, dessen klage ich dich an.«
»Fürchtest du dich nicht? Oh, so hab Geduld!«
»Geduld hatten sie alle, deine Kinder. In sich gekehrt haben sie ihren Haß gegen dich, der du ihr Leben verkrüppeltest. Weil du littest, fraßen sie ihren Zorn in sich.«
»Verließen sie mich nicht alle, und nun auch du? Und ich folge dir demütig?«
»Nicht sie verließen dich. Du vertriebst sie. Und deine Demut ist Verfolgung.«
»Wehrlos schwebe ich unter dem Himmel und friere, gewürgt, wie mich immer mein Krampf würgte.«
»Uns machst du wehrlos, weil wir dich ewig, ewig in deiner Schwäche sehen sollen. Unsre Flucht aus deinem Vaterhaus, dieser Hölle, klagt dich an. Warum sind die zwei Schwestern davongelaufen und versehen peinlich niedrigen Dienst? Und mein älterer Bruder? Was jagte ihn von den Schulen? Wer jagte ihn in der Beschwer des dürftigsten Seemanns zweimal um den Erdball? Warum irrt er nun als Fischfänger in der Nordsee? – Wohl unsrer kleinen toten Schwester Elise!«
»Nun endlich fließen deine Tränen, Martin.«
»Ich habe sie sehr lieb gehabt. Und ihretwegen ja erhob ich die Hand gegen dich. Das ist meine Roheit, daß ich sie rächen wollte.«
»Rächen an mir? Sie, die freiwillig starb? – Du willst mich richten? Steinherziger Schächer!«
»Ein Kind verläßt nicht freiwillig die Welt, wenn seine Seele nicht unerträglich krank und bis zum Wahne verdüstert ist. Elise ertrug es nicht wie wir andern.«
Wieder bewegte der Geist am Galgen lange die Lippen, ohne ein Wort zu finden. Dann brach ein Blutstrom aus seinem Munde.
Erzitternd schloß Martin die Augen. Er vernahm die beiden Stimmen nicht mehr. Auch die seine hatte nicht ihm gehört. Aber Trotz und Qual waren zum ersten Male ein wenig eingeschläfert durch ihr Spiel.
An Elises Leiche war der endlos lang verhaltene Streit mit dem Vater ausgebrochen. Martin hatte ihn in seinem Schmerze maßlos beschuldigt und hätte ihn geschlagen, vielleicht erwürgt, wenn er nicht von seinen beiden zum Begräbnis gekommenen Schwestern festgehalten worden wäre. Der Vater wurde von der Mutter gebändigt und hatte nur matt nach ihm gespien. Wären die Angehörigen nicht zwischen sie getreten, so hätten sie sich geprügelt wie Lumpen. Scham und lastende, wortkarge Dumpfheit überwältigte Martin bald, machte ihn schwach, weich, ja zärtlich. Dennoch hatte der entsetzliche Vorfall den Abschied erzwungen....