E-Book, Deutsch, 368 Seiten
Löhr Das Erlkönig-Manöver
10001. Auflage 2010
ISBN: 978-3-492-95069-5
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Historischer Roman
E-Book, Deutsch, 368 Seiten
ISBN: 978-3-492-95069-5
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Robert Löhr, geboren 1973, ausgebildeter Journalist und Drehbuchautor, lebt in seiner Geburtsstadt Berlin. Neben zahlreichen Filmskripten und Theaterstücken verfasste er die Romane »Der Schachautomat«, »Das Erlkönig-Manöver« , »Das Hamlet-Komplott«, »Krieg der Sänger« und »Erika Mustermann«. Seine Bücher sind in 25 Sprachen übersetzt.
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1
OSSMANNSTEDT
»Sackerment!«, rief Goethe, als ihm hinterrücks eine verkorkte Flasche Burgunders so heftig über dem Schädel zerschmettert wurde, dass ihm der Schlag in alle Glieder ging. Er hatte nicht einmal mehr die Zeit gehabt, seinen Daumen aus dem Mund der Frau zu nehmen. Benommen lehnte er sich an den Tisch, um nicht in die Knie zu gehen, aber schon hatte der andere ihn am Kragen gepackt und herumgewirbelt, bereit, ihn mit einem Fausthieb niederzustrecken. Schiller hatte indes das Geweih samt Schädel und Trophäenbrett gegriffen und ließ es nun auf dem Rücken des Angreifers niedersausen. Als der Mann ohnmächtig zu Boden ging, knirschten die Scherben unter seinem Leib. Während Schiller das Geweih nicht aus der einen Hand gab, stützte er mit der anderen seinen Freund, bis der seine fünf Sinne wieder zurechtgesetzt hatte.
Abzüglich des Mannes, den Schillers Hieb überwältigt hatte, sahen sie sich vier ausgewachsenen Männern gegenüber, die nun vom reglosen Körper ihres Kameraden aufblickten – kräftigen Landmännern, die, würde es zu einem Faustkampf kommen, weder abgeneigt noch ungeübt schienen. Die Frau verließ den Platz auf der Bank, um das Gefecht aus sicherer Entfernung zu verfolgen, derweil der Wirt der Schenke hastig Krüge und Flaschen einsammelte, um ihnen das Schicksal des Burgunders zu ersparen.
Goethe hob beschwichtigend die Hände. »Messieurs, keine Hast und kein böses Blut. Ich bin durchaus willens, für die Unannehmlichkeiten aufzukommen.«
»Das werden Sie, Sie vermaledeiter Leichenfledderer«, sagte einer der Bauern und legte seine lederne Schürze ab. »Das bezahlen Sie teuer. Und zwar in ganz besondrer Münze.«
Die beiden Dichter traten gleichzeitig einen Schritt zurück, doch hinter ihnen war nur die Wand, und die Tür nach draußen befand sich hinter den vier Männern, die sich ihnen jetzt näherten. Schiller sah zu Goethe. Der zuckte mit den Achseln.
»Dem Manne kann geholfen werden«, sagte Schiller, schwang das Geweih über dem Kopf, traf den mutigsten ihrer Angreifer am Kiefer und holte ihn von den Beinen. Die drei anderen traten vor und entrissen Schiller den Tierschädel, um dann einen Hagel von Faustschlägen auf ihm niedergehen zu lassen. Ein Hieb ins Gesicht spaltete seine Lippe, einer in den Magen raubte ihm den Atem. Nun stürzte sich Goethe mit einem Sprung auf die Bauern und riss einen von ihnen mit sich zu Boden, wo sie kämpfend bald in die eine, bald in die andere Richtung rollten.
Schiller war indes wieder zu Luft gekommen und rannte, den Kopf eines Bauern in seine Armbeuge gezwungen, gegen einen Holzbalken, an dem sein Opfer schlafend niedersank. Dann eilte er zu Goethe – der, auf den Dielen liegend, von seinem Obermann schmerzhafte Knüffe einstecken musste –, und mit einem Fußtritt trennte er die beiden Kämpfer. Schließlich stürzte er einen Tisch, Platte voran, gegen die Männer, sodass Goethe und ihm genügend Zeit blieb, die rettende Tür zu erreichen und aus dem Wirtshaus zu fliehen – wobei sie alle Stühle in ihrem Weg umwarfen, um die Jagd der Verfolger zu behindern.
Kaum dass sie die Tür hinter sich zugeschlagen hatten, griff Goethe nach dem Spaten, mit dem der Wirt den Schnee vor dem Eingang beseitigt hatte, und steckte ihn so zwischen Türknauf und Rahmen, dass die rasenden Bauern sie von innen nicht zu öffnen vermochten. Nur ihre Flüche fanden dumpf den Weg nach draußen.
Schiller stützte sich mit den Händen auf seinen eigenen Knien ab und wartete, bis sich sein Atem wieder beruhigt hatte. Goethe hatte sich mit dem Rücken gegen die Wand gelehnt. Blut, Schweiß und Wein auf seinem Kopf dampften in der stillen Winterluft. »Ich fühle mir das innerste Gebein zerschmettert«, keuchte er, »und lebe, um es zu fühlen.« Er legte eine Hand auf seinen Scheitel und schmeckte danach von den Fingern. »Meinen Kopf hätte ich wohl geopfert, aber um den guten Wein ist es mir schade.«
Schiller richtete sich auf, und mit spitzen Fingern entfernte er zwei blutige Scherben aus Goethes Haar. »Wir haben unsre Mäntel in der Stube vergessen.«
»In der Tat. Und da wir gerade von der Stube sprechen: Warum ist es eigentlich so still da drinnen geworden?«
Es war deshalb in der Stube so still geworden, weil die drei Bauern den hinteren Ausgang genommen und das Wirtshaus nun umrundet hatten. Als ihre wütenden Fratzen hinter der Ecke erschienen, brachen die beiden Weimarer ihre Atempause ab und gaben erneut Fersengeld. Der Weg zur Straße war von den Bauern versperrt, also mussten sie das Dorf anders verlassen, zwischen den Häusern hindurch und über die Stoppelfelder. Der Schnee war schwer und tief, sodass Jäger wie Gejagte nur langsam vorankamen, wie auf einem Bogen Vogelleim, und in der mondlosen Dunkelheit mehr als einmal stürzten. Das Feld fiel bald ab, hörte schließlich ganz auf, Feld zu sein, und wurde Flussufer. Die beiden liefen hinunter bis zum Fluss, aber Schiller setzte keinen Fuß aufs Eis.
»Tod und Verdammnis!«, schimpfte er. »Die Ilm.«
»Wohlan, überqueren wir sie.«
»Von Herzen Dank, aber ich übergebe mich lieber dem Lumpenpack als den Fischen.«
»Es ist Februar. Gehen Sie nur, das Eis wird uns tragen.«
»Ihr Wort darauf?«
»Gehen Sie nur, ich gebe Ihnen mein Wort«, erwiderte Goethe.
»Der Himmel bewahre mich vor Ihrer Narrheit. – Alter vor Schönheit.«
Ohne zu zögern, setzte Goethe seinen Stiefel aufs Eis, und wiewohl es hohl unter seiner Sohle knackte, hielt die verschneite Eisfläche seinem Gewicht stand. Schiller säumte bis zuletzt, aber als ihre Jäger auf keine zehn Schritt herangekommen waren, folgte er Goethe. Auch die drei Bauern schickten sich an, den Ilmfluss zu überqueren. Sie sprangen erst dann wieder zurück ans sichere Ufer, als Schiller auf dem letzten Meter mit beiden Beinen einbrach und bis zu den Oberschenkeln in der Ilm versank. Er zeterte wie ein Besenbinder, bis ihn Goethe vom Eise befreit hatte.
»Sie gaben mir Ihr Ehrenwort, dass ich nicht einbreche!«
»Ich habe mich offensichtlich geirrt. Aber wir sind in Sicherheit.«
Als Schiller wieder auftrat, quoll eisiges Wasser aus seinen Stiefeln. Seufzend setzte er sich auf seinen Hosenboden in den Schnee, um die Stiefel ganz zu leeren.
Ein Schneeball landete zwischen den beiden. Der jüngste der Bauern am anderen Ufer hatte keinen Stein zum Werfen gefunden und sich sein Geschoss daher selbst aus Schnee geformt.
»Daneben!«, rief Goethe, die Hände als Trichter um den Mund geformt.
»Wir wissen, wo Sie wohnen, Herr Geheimrat!«, rief der Wortführer mit erhobener Faust über den Fluss zurück. »Frohlocken Sie nicht zu früh! Wir werden Ihnen einen Besuch in Weimar abstatten, den Sie so bald nicht vergessen werden!«
»Ich freue mich jetzt schon. Sie werden wohl empfangen sein, meine Herren«, erwiderte Goethe lächelnd. »Bis dahin: Leben Sie Kohl!«
Der Bauer zog seinen jungen Genossen, der bereits Schnee für einen zweiten Ball presste, am Kragen hoch, und gemeinsam stapften die drei zurück nach Oßmannstedt, die Schultern gegen die Kälte hoch an den Kopf gezogen.
»Mich friert«, klagte Schiller, nachdem ihm Goethe wieder auf die Beine geholfen hatte. »Kalt, kalt und feucht!«
»Wollen wir zu Wieland und uns dort aufwärmen?«
»Ich will nicht zu Wieland, ich will heim.« Schiller rieb sich die Arme mit den Händen warm und sah sich im Schein der Sterne nach der Straße um. »Das alles wäre sicherlich nicht passiert, wenn wir stattdessen über die Urpflanze diskutiert hätten.«
Sie hatten am Mittag Weimar in Richtung Apolda verlassen und beim Wandern entlang der Ilm über Gott und die Welt geplaudert – erst über Napoleon Bonapartes prunkvolle Krönung zum Kaiser der Franzosen zu Notre-Dame de Paris, dann über Napoleons Pläne für Europa und schließlich über das Volk der Franzosen als solches und warum deren Revolution so außerordentlich missglücken musste. Darüber hatten sie die Zeit und die Welt um sich herum so sehr vergessen, dass sie sich beim Einbruch der Nacht in Oßmannstedt wiederfanden, wo sie ihre Unterredung in der ersten und einzigen Schenke bei einer Linsensuppe mit geräuchertem Speck, viel Brot und noch mehr Wein fortsetzten.
Durch das Geweih eines Damhirsches, welches über einem der Fenster hing, auf das Thema gebracht, war Goethe auf den Zwischenkieferknochen zu sprechen gekommen, und sie hatten von der Politik auf die Wissenschaft umgesattelt. Mit Erlaubnis des Wirts nahmen sie den Achtender vom Nagel, und Goethe legte anhand des Tierschädels dar, wo genau der besagte Knochen mit der Kinnlade verwachsen war und dass seine Existenz beim Menschen bislang nur deshalb verworfen wurde, weil das Zwischenkieferbein bereits vor der Geburt nahtlos mit dem Kiefer verwachse. Dieser unscheinbare Knochen, der Schlussstein im menschlichen Gesicht, sei somit nicht mehr und nicht weniger als ein Beweis dafür, dass bei aller Verschiedenheit der lebendigen Erdwesen überall eine Hauptform zu herrschen scheine; ein Bauplan, nach dem Mensch und Tier gleichermaßen erschaffen waren.
Nun wurden auch die anderen Gäste der Wirtsstube auf Goethes Referat aufmerksam, und als Antwort auf die neugierigen Blicke wiederholte der Geheimrat, was er vorher Schiller veranschaulicht hatte, sosehr ihn auch Letzterer daran zu hindern suchte – als ahne er bereits, in welcher Katastrophe die anatomische Vorlesung enden würde. Denn die Oßmannstedter hörten Goethe anfangs aufmerksam zu, schienen aber am Ende gar nicht damit einverstanden, so mit allen anderen Kreaturen Gottes großer Schöpfung in einen Topf geworfen zu werden. Als sie gar hörten, dass Goethe seine lästerlichen Erkenntnisse...