E-Book, Deutsch, Band 2, 384 Seiten
Reihe: Ein Gina-Angelucci-Krimi
Kriminalroman
E-Book, Deutsch, Band 2, 384 Seiten
Reihe: Ein Gina-Angelucci-Krimi
ISBN: 978-3-8437-2085-4
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Autoren/Hrsg.
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1
Obwohl Ella Loibl noch immer zornig auf ihren Mann Frank war, und doch auch voller Sehnsucht nach ihm, tat sie endlich, was sie seit Langem tun wollte. Sie musste das selbst erledigen. Das war sie ihm und ihrer Liebe schuldig. Schlag um Schlag, Hieb für Hieb meißelte sie seinen Namen in den Stein. Metall schlug klirrend gegen Metall. Splitter spritzten gegen die Schutzbrille. Feiner Marmorstaub stieg in die Luft. Zentimeter für Zentimeter rückte sie das Spitzeisen weiter. Schweiß perlte auf ihrer Stirn, sammelte sich in den Brauen, lief in einem feinen Rinnsal zwischen den Schulterblättern hinab. Es war Schwerstarbeit, und sie dachte an die Geburten ihrer Kinder. Doch nicht neues Leben war entstanden, sondern eines erloschen. Seines. Vor acht Monaten hatte der Tod zugeschlagen und ihr den Mann genommen, mit dem sie dreiundzwanzig Jahre verheiratet gewesen war. Buchstabe für Buchstabe arbeitete sie sich voran. Bis sein Name dort stand, in einer zeitlosen Groteskschrift, die ihm gefallen hätte. Nach acht Monaten Trauer, Wut und Fassungslosigkeit hatte sie endlich den Grabstein für ihn entworfen und seinen Namen hineingeschlagen. Nun war Frank wirklich tot. Gelebt hatte er neunundvierzig Jahre. Im Angesicht der Unendlichkeit seines Nichtseins war das ein Wimpernschlag, eine Lappalie, und Ella hätte alles dafür gegeben, seine Stimme noch einmal zu hören, noch einmal mit ihm zu lachen und zu reden, ihn zu küssen. Und ihn zur Rede zu stellen, warum er Sepps Rat gefolgt war. Wobei sie das noch am ehesten verstand. Dass er ihr von der Misere, in der sein Tonstudio steckte, kein Wort gesagt hatte, das nahm sie ihm allerdings übel. Ella warf Meißel und Hammer auf die Werkbank, setzte Brille und Mundschutz ab und klopfte sich den Staub von der Arbeitshose. Es war, wie es war. Mit den finanziellen Folgen seines Unternehmertums musste sie nun leben. Ebenso wie mit seinem Tod. Auch wenn sie nicht wusste, wie es weitergehen sollte. Es gab nur zwei Möglichkeiten. Entweder würde sie alles verlieren oder doch noch irgendwo Geld auftreiben, um seine Schulden zu begleichen. Ella sah sich in ihrer Werkstatt um, die ihr von Kindesbeinen an vertraut war. An einer Wand hingen die Stemm- und Spitzeisen, die Sägen und Meißel. Davor standen Stapler und Winde. Unter dem Fenster befand sich ihr Arbeitstisch und daneben das Regal mit Farben, Pinseln, Stiften und Blöcken mit Blattgold. Sie durfte den Steinmetzbetrieb nicht verlieren, den ihr Vater aufgebaut hatte. Er würde sich im Grab umdrehen, wenn sie in Konkurs ging, und Mama würde es das Herz brechen. Wovon sollte sie dann leben? Sollte sie sich etwa an die Kasse des Supermarkts setzen? Sie musste einen Weg finden, den Betrieb zu halten, wobei es nur zwei Möglichkeiten gab: Entweder schenkte sie ihrer Mutter reinen Wein ein. Was eine Tirade gegen Frank zur Folge haben würde. »Ich habe dir ja immer gesagt, dass er ein Luftikus ist, ein Windei, kein Mann, den man heiratet. Er hat sich ins gemachte Nest gesetzt und auf deine Kosten gelebt. Ausgenommen hat er dich.« Ella wusste, dass sie das nicht ertragen würde. Sie ließ sich auf den von Steinstaub überzogenen Bürostuhl sinken. Blieb also nur die zweite Möglichkeit. Sie musste Sepp und Franzi um Geld bitten, und das erschien ihr ebenso unmöglich. Ein erfolgreicher Unternehmer zu sein, das hatte Frank vorgeschwebt, seit Sepp erklärt hatte, er habe das Zeug dazu. Beim Maibaumaufstellen vor zwei Jahren war das gewesen. Unversehens hatten sie sich mit Sepp und seiner Frau Franzi am selben Tisch befunden. Nach zwei Bier hatte ihr Mann angefangen, von seinem Tonstudio zu schwadronieren, wie er das gelegentlich tat. Ein Jugendtraum. Sein Wolkenkuckucksheim, denn Frank war Musiker und kein Geschäftsmann. Sepp war darauf eingegangen. Sein eigner Herr zu sein, das wäre das Beste. Jeder könne ein Unternehmen aufbauen. Man brauche nur den Willen dazu, ein fundiertes Konzept und Durchhaltevermögen. Und Kapital, hatte Ella angemerkt. Worauf Sepp erwidert hatte, dass es dafür Banken gebe, als wüsste sie das nicht. Was Frank für einen Kredit benötige, seien ein Businessplan und ein wenig Eigenkapital, sagte Sepp. Beim dritten oder vierten Bier waren die beiden sich dann einig gewesen. Sepp würde Frank bei der Erstellung des Businessplans helfen und ihm eine Anschubfinanzierung geben. Und so war es auch gekommen. Trotz Ellas Bedenken, dass Frank weder über eine kaufmännische Ausbildung noch über Erfahrung als Geschäftsmann verfügte. Drei Monate später hatte er das Soul & Sound Tonstudio gegründet, ein schickes Loft im Münchner Norden gemietet und sich eine Homepage entwerfen lassen. Dass er auch ihr Erspartes in sein Unternehmen gesteckt hatte, als es bergab gegangen war, war die große Überraschung nach seinem Tod gewesen. Weshalb hatte er nichts gesagt? Gemeinsam hätten sie eine Lösung finden können und das Desaster abwenden, das er ihr hinterlassen hatte. Und nun saß sie also ohne Frank da und ohne Ersparnisse, dafür aber mit Schulden, die sie Monat für Monat abstotterte, denn so schlau war Frank dann nicht gewesen, eine GmbH zu gründen. Dazu hätte Sepp ihm raten sollen! Dann wäre Franks Firma jetzt einfach pleite, und sie hätte nichts damit zu tun. Wütend trat Ella gegen den Granitsockel einer Blumenschale, die sie für Sepps neuen Baumarkt draußen im Gewerbegebiet anfertigte. Sie sollte den Platz vor dem Eingang schmücken und war tatsächlich der erste Auftrag, den die Steinmetzfamilie Loibl je von einem aus dem Schattenhofer-Clan erhalten hatte, obwohl sie verwandt waren. Vermutlich wollte Sepp so sein schlechtes Gewissen beruhigen, doch das würde nicht reichen. Die Kirchturmuhr schlug sechs. Zeit, Feierabend zu machen. Ella fegte die Werkstatt. Der Marmorlieferant drängte auf Begleichung der letzten beiden Rechnungen. Wenn sie ihn bezahlte, fehlte ihr das Geld für die Bankrate am Monatsanfang. Ihre Kinder konnte sie nicht um Hilfe bitten. Vinzenz machte seinen Meister als Steinmetz bei einem Kollegen in Würzburg. Miete und Lebenshaltungskosten verschlangen das schmale Gehalt. Und Sandra studierte in Berlin, und das Geld, das sie mit diversen Jobs nebenbei verdiente, reichte gerade so. Ella schloss die Werkstatt und wollte nach ihrer Mutter sehen, die im Hinterhaus wohnte. Sie war siebenundachtzig, kam aber noch sehr gut allein zurecht. Durchs offene Fenster war der Fernseher zu hören. Mama sah ihre Lieblingsserie. Dabei störte man sie besser nicht. Ella trollte sich gleich wieder und betrat das Haus, das so schrecklich leer war, seit die Kinder nicht mehr hier wohnten und vor allem seit Franks Tod. Die Stille legte sich wie Blei auf ihre Schultern, und gleichzeitig saß eine quecksilbrige Unruhe in ihr. Was sie jetzt brauchte, war entweder ein Glas Wein oder Bewegung. Es war ein schöner Sommerabend. Sie entschloss sich, eine Runde zu radeln. Zu viel Wein in den letzten Wochen. Sie ging ins Schlafzimmer, zog die Sportsachen an, klemmte die Wasserflasche in die Halterung am Rad und schob einen Energieriegel in die Rückentasche des Shirts. Dann schwang sie sich aufs Mountainbike und fuhr los Richtung Sellbacher Holz. Von dort konnte sie über Oberschleißheim zurück nach Altbruck radeln. Bis zur Tagesschau würde sie wieder daheim sein. Es sei denn, sie gönnte sich im Schleißheimer Schlossbiergarten eine Brotzeit, wie Frank und sie es oft getan hatten. Er fehlte ihr so sehr. Ein Klumpen setzte sich in ihren Hals. Sie blinzelte die Tränen weg und durchquerte das Dorf. Der Biergarten beim Lindenwirt war voll und der Straßenrand zugeparkt. Hauptsächlich Münchner. Am Kriegerdenkmal goss der Gemeindearbeiter die Eisbegonien. Das neue Feuerwehrhaus sah auch nach zehn Jahren noch so aus, als wäre ein Ufo mitten in Altbruck gelandet. Agnes schloss den Dorfladen, und Ella winkte ihr im Vorbeifahren zu. Alles war wie immer und wirkte wie Balsam auf ihrer wunden Seele. Am Spielplatz und neben der Bushaltestelle hingen die ersten Veranstaltungsplakate. Im Oktober war Landtagswahl in Bayern, und auch in Ellas geliebtem Altbruck fanden die neuen Rechten Anhänger. Ihre Gedanken kehrten zum Schuldenberg zurück, während sie das Dorf hinter sich ließ und auf einen Feldweg Richtung Forst einbog. Was konnte sie tun, um das Desaster abzuwenden? Es fiel ihr nichts ein. Sie wollte weder mit ihrer Mutter darüber sprechen noch Sepp um ein Darlehen bitten. Der reiche Schattenhofer-Clan sah seit jeher auf die armen Verwandten herab, und sie gönnte Sepp die Genugtuung nicht, dass eine von ihnen ihn um Geld bat. Wobei Frank damit ja keine Probleme gehabt hatte. Zehntausend Euro Anschubdarlehen hatte Sepp ihm gegeben. Auf den Feldern standen Weizen und Gerste hoch. Die Luft war warm und roch nach Sommer. Über alldem wölbte sich der Abendhimmel in einem klaren Blau. Anderthalb Kilometer entfernt ragten aus dem neuen Gewerbegebiet Kräne in den Himmel, doch der Baulärm war verstummt, und eine friedliche Stille lag über der Landschaft. Ella reduzierte das Tempo, ihr Ärger verrauchte, die Sorgen verblassten. Sie begann ihren Ausflug zu genießen und ließ den Blick schweifen. Am Waldrand standen zwei Rehe. Über ihr kreiste ein Raubvogel. Vielleicht einer der Falken, die sich im Kirchturm eingenistet hatten. Klatschmohn und Kornblumen am Wegesrand. Eine Idylle, wäre da nicht der Kiesablageplatz vom Dengler. Direkt am Waldrand hatte der...