Löffelmann Die normativen Grenzen der Wahrheitserforschung im Strafverfahren
1. Auflage 2009
ISBN: 978-3-89949-584-3
Verlag: De Gruyter
Format: PDF
Kopierschutz: 1 - PDF Watermark
Ideen zu einer Kritik der Funktionsfähigkeit der Strafrechtspflege
E-Book, Deutsch, 394 Seiten, Gewicht: 10 g
ISBN: 978-3-89949-584-3
Verlag: De Gruyter
Format: PDF
Kopierschutz: 1 - PDF Watermark
Die normativen Grenzen der Wahrheitserforschung im Strafverfahren stellen die wohl komplexeste und umstrittenste Thematik des Strafverfahrensrechts dar, die nach wie vor von ungebrochener Aktualität und hoher Praxisrelevanz ist. Sie begegnet dem Staatsanwalt und Ermittlungsrichter als Frage nach dem nicht mehr zulässigen Bereich hoheitlicher Zwangsmaßnahmen und deren Folgen; dem erkennenden Richter als Diskrepanz von faktischer und legitimer Erkenntnis; dem Strafverteidiger als Chance des Ausschlusses von Mitteln des Tatnachweises und als Risiko des Verlusts entlastender Beweise; dem Gesetzgeber als taktische Frage nach dem Maß der Festlegung auf verbindliche Standards der Wahrheitserforschung; der Verfassungsgerichtsbarkeit als noch legitimer Entscheidungsspielraum der Rechtsprechung und Gesetzgebung; und dem rechtsphilosophisch Interessierten als Frage nach der Bedeutung "verbotenen Wissens" für das Urteilen. Mit einem radikal grundlagenorientierten Ansatz plädiert der Verfasser für eine - bislang vernachlässigte - Auseinandersetzung mit den erkenntnistheoretischen Implikationen der Beweisverbotsproblematik und gelangt zu überraschenden Einsichten: in die erkenntnistheoretische Unmöglichkeit einer Ausblendung verbotenen Wissens; in die komplexitätserzeugende Wirkung juristischer Theoriebildungen; in die normative Distanz zwischen Beweis und zu Beweisendem; in die strukturellen Unzulänglichkeiten einer Abwägungslehre; in den Begründungsmangel hypothetischer Ersatzerwägungen; in das Legitimationsdefizit nicht gesetzlich geregelter Beweisverbote; in die Notwendigkeit einer funktionalen Trennung von anordendem und erkennendem Gericht etc. An dieser Auseinandersetzung wird die Beweisverbotsdiskussion nicht vorbeikommen.
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Weitere Infos & Material
1;Vorwort;7
2;Inhaltsübersicht;11
3;Orientierungssätze;19
4;A. Begriffsanalyse der normativen Grenzen der Wahrheitserforschung im Strafverfahren;23
5;B. Normenanalyse der normativen Grenzen der Wahrheitserforschung im Strafverfahren;67
6;C. Fundamentalanalyse der normativen Grenzen der Wahrheitserforschung im Strafverfahren;121
7;D. Entwurf einer Dogmatik der normativen Grenzen der Wahrheitserforschung im Strafverfahren;177
8;E. Ideen zu einer Wissenschaftstheorie der Wahrheitserforschung im Strafverfahren;252
9;F. Zusammenfassung;308
10;Anhang 1. Ausgewählte Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs;316
11;Anhang 2. Ausgewählte Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts;347
12;Literaturverzeichnis;361
13;Sach- und Personenverzeichnis;387
D. Entwurf einer Dogmatik der normativen Grenzen der Wahrheitserforschung im Strafverfahren (S. 155-156)
I. Begriffsbestimmungen
Die Forderung nach begrifflicher Klarheit ist selbstverständlicher Bestandteil von Theorien, die Wissenschaftlichkeit und Nachvollziehbarkeit für sich in Anspruch nehmen. Dennoch weist gerade im Bereich der Beweisverbote die in Rechtsprechung und Schrifttum verwendete Begrifflichkeit zahlreiche Ungereimtheiten auf. Dies betrifft bereits die Frage, welcher Gehalt den Begriffen „Beweiserhebung“ und „Beweisverwertung“ zukomme.
In dem herrschenden Begriffssynkretismus liegt einer der wesentlichen Gründe dafür, dass es Rechtsprechung und Schrifttum bislang noch nicht gelungen ist, eine konsistente Theorie der Beweisverbote zu entwerfen. Ausgangspunkt für eine klare begriffliche Abgrenzung der verschiedenen Beweisverbote untereinander kann die jeweilige grundrechtsrelevante hoheitliche Handlung im Umgang mit Beweisgegenständen und Erkenntnissen sein. Solche Handlungen der Strafverfolgungsbehörden lassen sich untergliedern nach den Verfahrensabschnitten, in denen sie sich ereignen.
So lassen sich beweisverbotsrelevante Handlungen im Ermittlungsverfahren abheben von solchen im Hauptverfahren, in der Hauptverhandlung, bei der Entscheidungsfindung, im Rechtsmittelverfahren, bei der Strafvollstreckung, im Nachgang des Strafverfahrens und außerhalb des Strafverfahrens. Entsprechend diesen Abschnitten sind Handelnde in der Regel verschiedene Institutionen oder Personen: im Ermittlungsverfahren Polizei, Staatsanwaltschaft und Ermittlungsrichter, im Hauptverfahren, in der Hauptverhandlung und bei der Entscheidungsfindung das erkennende Gericht, im Rechtsmittelverfahren das Rechtsmittelgericht, im Vollstreckungsverfahren die Vollstreckungsbehörden, im Nachgang des Strafverfahrens datenverarbeitende Stellen, insbesondere die Bundeszentralregisterbehörde und außerhalb des Strafverfahrens zum Beispiel die Gefahrenabwehrbehörden.
Jede dieser handelnden Institutionen und Personen benötigen nach dem Grundsatz vom Vorbehalt des Gesetzes für den grundrechtsrelevanten Umgang mit Beweisgegenständen und Erkenntnissen eine gesetzliche Ermächtigung. Jede dieser Institutionen und Personen hat im Rahmen dieser Ermächtigung und nach dem ihr jeweils eingeräumten Ermessen den widerstreitenden hoheitlichen und individuellen Interessen Betroffener in angemessener Weise Rechnung zu tragen. Das gilt für die Beschlagnahme eines Beweisgegenstands ebenso wie für seine Begutachtung in der Hauptverhandlung und seine Vernichtung im Rahmen der Asservatenbereinigung. Vor diesem Hintergrund können die – in der Dogmatik der Beweisverbote gebräuchlichen – Begriffe der Beweiserhebung, Beweisverwendung und Beweisverwertung folgendermaßen definiert werden:
1. Beweiserhebung Beweiserhebung ist jede in Grundrechte eingreifende hoheitliche Maßnahme der Strafverfolgungsbehörden oder Strafgerichte, die darauf abzielt, Erkenntnisse zu erlangen, die den Strafverfolgungsbehörden oder Strafgerichten noch nicht bekannt sind und nach ihrer Einschätzung für die Aufklärung der Straftat und die Durchführung des Strafverfahrens von Bedeutung sind. Konstitutiv für Beweiserhebungen sind danach vier Gesichtspunkte:
Es muss sich erstens um eine Maßnahme der Strafverfolgungsbehörden handeln. Handlungen privater Personen sind keine Beweiserhebungen, es sei denn, diese Personen werden von den Strafverfolgungsbehörden gezielt eingesetzt, um beweisrelevante Erkenntnisse zu erlangen, die Maßnahme der Strafverfolgungsbehörde ist dann der Einsatz dieser Personen. Zweitens muss es sich um eine zielgerichtete Tätigkeit handeln. Diese teleologische Ausrichtung ist notwendiger Bestandteil einer Handlungstheorie, die von der Zurechenbarkeit einer Handlung zu einem Handelnden und dessen Verantwortlichkeit ausgeht. Zwar können auch ungezielte Handlungen eine Verletzung von Grundrechten bewirken. Strafverfolgungsmaßnahmen müssen aber zielgerichtet sein, um verfassungsrechtlich gerechtfertigt werden zu können. Sie müssen einen legitimen Zweck erfüllen und gemessen an diesem Zweck geeignet, erforderlich und angemessen sein. Ermittlungen „ins Blaue hinein“ sind unzulässig.