Lobo Antunes | Mein Name ist Legion | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, Band 74413, 448 Seiten

Reihe: btb

Lobo Antunes Mein Name ist Legion

Roman
1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-641-32182-6
Verlag: Luchterhand Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, Band 74413, 448 Seiten

Reihe: btb

ISBN: 978-3-641-32182-6
Verlag: Luchterhand Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Über Menschen am Rande der Gesellschaft
Kurz vor der Pensionierung verfasst ein Polizist einen Bericht über die kriminellen Taten einer Jugendgang, die in einem heruntergekommenen Viertel am Rand von Lissabon ihr Unwesen treibt. Zugleich erinnert er sich an seine Kidnheit in der Provinz, seine gescheiterte Ehe, seine entfernt lebende Tochter. Allmählich mischen sich andere Stimmen ein, verschiedene Bewohner des Elendviertels, die unter den polizeilichen Maßnahmen mindestens ebenso leiden wie unter den Jugendlichen, die Tankstellen und Supermärkte brutal überfallen und mit Drogen handeln. Und auch die Mitglieder der Gang selbst kommen zu Wort.

Hautnah erleben wir die Wut und die Verzweiflung von Menschen, die im Schatten der Welt existieren, deren Leben von den Konflikten zwischen Mann und Frau, Reich und Arm, Schwarz und Weiß bestimmt ist und die sich dennoch zu behaupten versuchen. Wie unter einem Brennglas fängt Lobo Antunes die sozialen Probleme der Moderne ein, zeigt, was Migration, Entfremdung und der Zusammenprall verschiedener Kulturen für den Einzelnen bedeuten und findet eindringliche, poetische Stimmen für die Zukurzgekommenen, die überall durch das Raster fallen, nicht nur in Portugal.

António Lobo Antunes wurde 1942 in Lissabon geboren. Er studierte Medizin, war während des Kolonialkriegs 27 Monate lang Militärarzt in Angola und arbeitete danach als Psychiater in einem Lissabonner Krankenhaus. Heute lebt er als Schriftsteller in seiner Heimatstadt. Lobo Antunes zählt zu den wichtigsten Autoren der europäischen Gegenwartsliteratur. In seinem Werk, das mittlerweile mehr als dreißig Titel umfasst und in vierzig Sprachen übersetzt worden ist, setzt er sich intensiv und kritisch mit der portugiesischen Gesellschaft auseinander. Er erhielt zahlreiche Preise, darunter den 'Großen Romanpreis des Portugiesischen Schriftstellerverbandes', den 'Jerusalem-Preis für die Freiheit des Individuums in der Gesellschaft' und den Camões-Preis.

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Die Verdächtigen, 8 (acht) an der Zahl und im Alter zwischen 12 (zwölf) und 19 (neunzehn) Jahren, verließen um 22:00 (zweiundzwanzig Uhr und null Minuten) den im Nordosten der Hauptstadt liegenden und leider wegen seiner heruntergekommenen Bausubstanz und den damit verbundenen sozialen Problemen bekannten Stadtteil Bairro 1° de Maio in Richtung Amadora, wo sie angenommenermaßen gegen 22:30 (zweiundzwanzig Uhr und dreißig Minuten), was allerdings noch der Bestätigung durch die Verhöre, sei es der Verdächtigen, sei es möglicher, bislang noch nicht festgestellter Zeugen bedarf, mit einer Hauptschlüssel genannten Methode

(was ebenfalls späterer Bestätigung bedarf, wir aber als möglich voraussetzen, da wir den Modus Operandi der Gruppe kennen)

2 (zwei) Mittelklassewagen stahlen, die in der Nähe der Kirche nicht weit voneinander auf der Straßenseite geparkt waren, an der die Laternen nicht brannten

(Vandalismus oder natürlicher Zustand?)

was den Verdächtigen erlaubte, unbeobachtet vorzugehen, wonach sie sich stadtauswärts auf der Schnellstraße in Richtung Autoestrada do Norte begaben, wo, wie aus der beigefügten, übrigens nicht sehr deutlichen Fotokopie ersichtlich, die Kennzeichen festgehalten wurden, da die besagten Pkws nicht über die notwendige Magnetvorrichtung zu deren Befahrung verfügten, und ich möchte in diesem Zusammenhang die Dienstleitung auf die Dringlichkeit der Verbesserung der überalterten Ausrüstung hinweisen: auf Fotokopie Nummer 1 (eins) ist zwar etwas erkennbar, doch nur mit einer ordentlichen Lupe.

Aufgrund vorangegangener, diesmal bereits überprüfter Fakten können wir sagen, dass die Verdächtigen sich wie üblich auf die Fahrzeuge verteilten, will heißen, vorn der sogenannte Hauptmann, 16 (sechzehn) Jahre alt, Mischling, der sogenannte Kleine, 12 (zwölf) Jahre alt, Mischling, der sogenannte Blonde, 19 (neunzehn) Jahre alt, Weißer, und der sogenannte Galan, 14 (vierzehn) Jahre alt, Mischling, und die anderen vier, der sogenannte Guerillero, 17 (siebzehn) Jahre alt, Mischling, der sogenannte Hund, 15 (fünfzehn) Jahre alt, Mischling, der sogenannte Dicke, 18 (achtzehn) Jahre alt, Neger, und die sogenannte Hyäne, 13 (dreizehn) Jahre alt, Mischling, ein Junge, der seinen Spitznamen einer Missbildung im Gesicht (Hasenscharte) und seiner offensichtlichen Hässlichkeit verdankt, die wir, obwohl wir nicht zu subjektiven Wertungen neigen, dennoch bedenkenlos als abstoßend zu bezeichnen wagen

(wir schwanken zwischen abstoßend und widerlich)

und zu der noch eine deutliche Artikulationsschwierigkeit hinzukam, bei der häufig die Worte unmittelbar darauf durch unkoordinierte Bewegungen und Gequieke ersetzt wurden, wobei hervorgehoben werden muss, dass der sogenannte Blonde der einzige Kaukasier ist

(Fachbezeichnung für weiße Rasse)

und seine Spießgesellen bis auf einen, der Neger ist, alle Halbafrikaner sind und daher zu sinnloser Grausamkeit und Gewalt neigen, was den Unterzeichner veranlasst, sich die Freiheit zu nehmen, am Rande des vorliegenden Berichts die Richtigkeit der Immigrationspolitik des Landes besorgt in Frage zu stellen. Gegen 23:00 (dreiundzwanzig Uhr und null Minuten) erreichten die beiden Wagen die erste Tankstelle auf der Strecke Lissabon–Porto, circa 30 (dreißig) Kilometer hinter den Mautstellen, wobei sie mit laufendem Motor

(es stand sonst nur noch ein Kleinlaster an einer Zapfsäule)

vor der verglasten Verkaufsstätte stehen blieben, in der der Preis für das erworbene Benzin bezahlt wird und wo man Geld für Zeitschriften Zeitungen Zigaretten

(hoffentlich nicht für Alkohol)

Kaugummi und Kleinkram verschleudern kann. In der besagten Verkaufsstelle befanden sich der an der Registrierkasse sitzende Angestellte, der sich mit dem Fahrer des Kleinlasters unterhielt, und ein anderer, älterer Angestellter, der den Boden bei der Tür zu einem Büro oder einer Abstellkammer fegte

(es wäre zu wünschen, dass diese nicht zum heimlichen Verkauf von Spirituosen bestimmt ist)

an der ein Schild mit der Aufschrift Zutritt verboten schlecht ans Holz geschraubt war. Die Verdächtigen zogen sich Wollmützen über, setzten Sonnenbrillen auf und traten, ohne sich zu beeilen, in den Laden

(der Aussage des Angestellten an der Kasse zufolge pfiff einer von ihnen, welcher, konnte er aber nicht sagen)

dabei trugen sie Gewehre mit abgesägtem Lauf und Armeepistolen, und ich erlaube mir an dieser Stelle eine meiner Meinung nach durchaus nicht belanglose Abschweifung, mit der ich darauf hinweisen möchte, falls Sie mir eine persönliche Anmerkung gestatten, dass die nachts am Wegesrand erleuchteten Tankstellen mir das Gefühl geben, weniger unglücklich zu sein, und nur wenn ich sonntags in den frühen Morgenstunden vom monatlichen Besuch bei meiner Tochter aus Ermesinde zurückkehre, kommt mir die Welt mit ihren wirren Bäumen und ihren Ortschaften, die gleich wieder verschwinden und deren Namen ich nicht kenne, viel zu groß vor, als dass ich sie verstehen könnte, und die nahen, unverkennbaren, ich hätte fast komplizenhaften Tankstellen geschrieben, mich aber noch rechtzeitig gebremst, versichern mir, dass es trotz allem einen Ort für mich gibt, so winzig er im Konzert des Universums auch sein mag, an dem mich vielleicht ja jemand, hoffentlich finde ich heraus, wo, mit der Tasse eines Lächelns auf einem freundlichen Tischtuch erwartet, und ich bin gerührt, Herrschaften, dankbar, ich bitte um Verzeihung, auf einem offiziellen Dokument, einem staatlichen Papier, unpassenderweise mein Herz ausgeschüttet und diesen absurden Wunsch nach jemandem an meiner Seite offenbart zu haben: den Schlüssel im Schloss drehen und in der Speisekammer, im Wohnzimmer, ich wage nicht das Schlafzimmer vorzuschlagen, eine Stimme zu hören, die meinen Namen ausspricht

– Bist du’s?

anstelle der üblichen Stille und der Gleichgültigkeit der Gegenstände, so dass die nächtlichen Tankstellen, wie ich schrieb, dem Gefühl von Glück nahekommen, das ich schon so lange suche. Aber weiter im Text. Ich fahre also mit dem vorliegenden Bericht fort, von dem ich, was nicht zu entschuldigen ist

(ich bin mir des Fehlers bewusst und bereue ihn)

abgekommen bin, die Verdächtigen, die Gewehre mit abgesägten Läufen und Armeepistolen trugen, traten, ohne sich zu beeilen

(einer von ihnen, bleibt die Frage, welcher, pfiff)

in den Raum, wobei weder der Kassierer noch der Fahrer des Kleinlasters Notiz von ihnen nahmen, da sie sich über eine Nachricht in der Sportzeitung unterhielten, doch der Angestellte, der den Boden beim Büro oder der Abstellkammer fegte

(die, wie ich voller Freude anmerken darf, keine Spirituosen enthielt, obwohl ich, da es überall Betrüger gibt, die Möglichkeit nicht ausschließe, dass diese vor meinem Besuch versteckt wurden)

bemerkte den Überfall, erhob den Besen und warnte seinen Kollegen

– Pass auf César diese Negerjungs

hatte aber keine Gelegenheit zu weiteren Betrachtungen, da eine der Waffen mit abgesägtem Lauf hintereinander 5 (fünf) Kugeln abschoss, wobei man das Blut auf seiner Kleidung nicht sah, das Blut war an der Wand hinter ihm, nachdem er in Zuckungen zusammengesackt war, will heißen, die Hinterbacken auf den Boden senkte und die Verdächtigen ansah oder niemanden ansah, wie damals mein Stiefvater, wenn er, Synonyme mümmelnd, den Kopf blicklos vom Kreuzworträtsel hob und ihn wieder senkte, die kleinen Quadrate mit triumphierenden Großbuchstaben ausfüllte, die rechte Hand

(des Angestellten, nicht meines Stiefvaters)

streckte sich aus, der Mittelfinger, der länger brauchte als die anderen Finger, krümmte sich ein ganz klein wenig

(ich sehe es von hier aus)

und ich überlege, ob der Wind die Büsche draußen berührte oder sie in Frieden ließ: als Kind habe ich ewig lange gedacht, dass die Bäume leiden, die Eiben beispielsweise in stillem Schmerz, ich klopfte an die Stämme

– Was ist mit euch?

und keine Antwort, geheime Schmerzen wie üblich, die Zweige tun so, als wäre nichts, verstellen sich, und dennoch, wenn sie glauben, wir sehen sie nicht, fabrizieren sie in einem Riss in der Rinde eine Eidechse, was ihre Art ist, Tränen abzusondern, der Fahrer des Kleinlasters wollte gerade einen Schritt zurück machen und sich mit einem Stapel Zeitschriften schützen, machte aber keinen Schritt zurück, der Griff einer Pistole traf ihn an der Schulter, und die linke Hälfte der Knochen verschob sich, von einer Augenbraue zitternd gestützt, im Vergleich zur rechten, mein Stiefvater ertrug die Nierenkolik nicht mit Hilfe der Augenbraue, die Handfläche presste sie in die Taille

– Quäl mich jetzt nicht

und ich bin sicher, dass die Büsche bei der Tankstelle winzige namenlose Blüten ausstreuten, so viele Blätter vibrierten, wollten, dass wir ihnen halfen

– Ich ich

einer der Verdächtigen wandte sich zum Ladentisch und kippte die Kassenschublade in einen Sack, ein Auto kam herunter zu den Tanksäulen, denn neue Büsche tauchten aus der Dunkelheit auf, geometrische Helligkeit heftete sich an die Decke, wurde größer, und was würde ich nicht dafür geben, die Büsche zu beobachten, der Fahrer des Kleinlasters humpelte, sie nicht beachtend, einen Schritt auf die Scheinwerfer zu, wobei ihn die Augenbraue schob, und die Hälfte, die nicht zur Augenbraue gehörte, ein weiches, widerstehendes Gewicht, der Pistolenlauf eine kleine Rauchwolke, niemand hörte das Geräusch

(hätte ich das Geräusch gehört, wenn ich bei ihnen gewesen wäre?)

der Fahrer des Kleinlasters auf Knien, gegen den Willen der...


Meyer-Minnemann, Maralde
Maralde Meyer-Minnemann, geboren 1943 in Hamburg, erhielt 1992 den "Hamburger Förderpreis für literarische Übersetzungen", 1997 den Preis "Portugal-Frankfurt", 1998 den "Helmut-M.-Braem-Preis" und wurde 2005 für den "Preis der Leipziger Buchmesse" nominiert.

Lobo Antunes, António
António Lobo Antunes wurde 1942 in Lissabon geboren. Er studierte Medizin, war während des Kolonialkriegs 27 Monate lang Militärarzt in Angola und arbeitete danach als Psychiater in einem Lissabonner Krankenhaus. Heute lebt er als Schriftsteller in seiner Heimatstadt. Lobo Antunes zählt zu den wichtigsten Autoren der europäischen Gegenwartsliteratur. In seinem Werk, das mittlerweile mehr als dreißig Titel umfasst und in vierzig Sprachen übersetzt worden ist, setzt er sich intensiv und kritisch mit der portugiesischen Gesellschaft auseinander. Er erhielt zahlreiche Preise, darunter den »Großen Romanpreis des Portugiesischen Schriftstellerverbandes«, den »Jerusalem-Preis für die Freiheit des Individuums in der Gesellschaft« und den Camões-Preis.



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