Lobo Antunes | Einen Stein werd ich lieben | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, Band 73760, 672 Seiten

Reihe: btb

Lobo Antunes Einen Stein werd ich lieben

Roman
1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-641-32181-9
Verlag: Luchterhand Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, Band 73760, 672 Seiten

Reihe: btb

ISBN: 978-3-641-32181-9
Verlag: Luchterhand Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Voller überraschender Bilder und praller Geschichten
António Lobo Antunes, der Sprachmagier der Weltliteratur, zeigt in diesem Roman zärtlich und doch unerbittlich, wie grausam es ist, vergeblich zu lieben. Er lässt die Mitglieder einer verzweigten Familie aus Lissabon zu Wort kommen und ihre Version eines stets vertuschten Skandals erzählen: Fünfzig Jahre lang hat sich der Vater mit seiner Jugendliebe einmal in der Woche heimlich in einem Stundenhotel getroffen, und dort ist er auch gestorben. Alle haben es gewusst, nie wurde darüber gesprochen, aber jeder hat auf seine Weise darunter gelitten.

Nach dem Tod des Patriarchen begleiten wir dessen langjährige Geliebte bei ihren Therapiesitzungen. Sie klagt über Depressionen und Schlafstörungen, seit ihr Geliebter in ihrem Beisein in dem erwähnten Hotel gestorben ist. Und auch der Psychiater selbst sowie die Menschen im Hotel werden zu Erzählern ...

António Lobo Antunes wurde 1942 in Lissabon geboren. Er studierte Medizin, war während des Kolonialkriegs 27 Monate lang Militärarzt in Angola und arbeitete danach als Psychiater in einem Lissabonner Krankenhaus. Heute lebt er als Schriftsteller in seiner Heimatstadt. Lobo Antunes zählt zu den wichtigsten Autoren der europäischen Gegenwartsliteratur. In seinem Werk, das mittlerweile mehr als dreißig Titel umfasst und in vierzig Sprachen übersetzt worden ist, setzt er sich intensiv und kritisch mit der portugiesischen Gesellschaft auseinander. Er erhielt zahlreiche Preise, darunter den 'Großen Romanpreis des Portugiesischen Schriftstellerverbandes', den 'Jerusalem-Preis für die Freiheit des Individuums in der Gesellschaft' und den Camões-Preis.

Lobo Antunes Einen Stein werd ich lieben jetzt bestellen!

Weitere Infos & Material


Erstes Foto


Ich bin zwei Jahre alt und sitze auf dem Schoß meiner Mutter: Es ist eine Studioaufnahme, in erhabenen, verschnörkelten Lettern unterzeichnet mit Photo Royal Lda, der Stuhl, auf den man uns gesetzt hat, war für alle Kunden da, majestätisch, der Samt abgewetzt, ein Pappkeil unter dem rechten Bein, so hoch, daß die Schuhe meiner Mutter den Boden nicht erreichten

(steife, reglose Füße eines Gehenkten)

die Hintergrundleinwand wurde ausgewechselt

(eine Zirkusszene, eine Stierkampfarena, ein Urwald mit Wasserschlangen und Zebras, einmal ganz abgesehen von den wie Pullover mit niemandem darin an einem einzigen Arm von den Baumkleiderhaken herabhängenden Gorillas

und der Stuhl blieb stehen, die Leinwand, die diesmal hinter uns an die Wand gelehnt wurde

(übrigens schief, so daß die Hälfte unscharf war)

stellte das Schloß von Dornröschen auf dem Gipfel eines Berges dar, Spitzbogenfenster, Zinnen, die Prinzessin mit Schleife im Haar ruderte, im Tejo Grünalgen fischend, in einem Boot, auf meiner Schulter war der Abdruck eines Daumens, der Angestellte

– Was heißt hier Abdruck?

kam mit der Nase näher, log

– Ich sehe keinen einzigen Abdruck

rieb, abermals lügend, mit einem Tuch darüber

– Sieht man doch gar nicht

und man sah es noch deutlicher, die Schleife wurde rosa, meine Hosen blau angemalt, ein Tropfen Blau auf meinem Knie, ein weiterer auf dem Boot, das aus einem meiner Ohren herauszukommen schien

(wenn ich kratzen würde, könnte ich es ganz herausholen)

auf dem Boden Kabel und in der Ecke die Stange des Scheinwerfers, möglicherweise war da jemand, der Zeichen machte oder bei der Kamera irgend etwas sagte, denn der Mund meiner Mutter

– Wie bitte?

das Atelier Photo Royal Lda im Stadtteil Beato und sein Schaufenster, in dem sich vor demselben Schloß und demselben See, vor dem wir saßen, Bräute mit nackten Babys auf Kissen abwechselten, allerdings in größerem Format und ohne Daumenabdruck, mit der Zeit waren unsere Gesichter immer schlechter zu entziffern, der Mund nicht mehr zu den Zeichen

– Wie bitte?

kein Mund mehr, obwohl die Prinzessin immer noch ruderte, der Tropfen auf meinem Knie sich auflöste

(ich habe mich aufgelöst)

ein Teil des Kragens ist geblieben, und die Leinwand Nebel, ich nehme an, auch Photo Royal Lda Nebel, der Angestellte mit den von Säuren gelben Händen, der uns den Stuhl hingestellt hat, Nebel, der Spiegel mit der Bürste und einem Kamm zum Richten von Haarknoten und Strähnen Nebel, Beato hat sich verändert, Gebäude über Gebäude verbergen den Fluß, den die Zeit ebenfalls aufgelöst hat, ich rutsche von meiner Mutter herunter, und der Angestellte stellt, unsichtbar hinter den Kisten, Lichtbögen, Tüchern, der Ladelukenunordnung der Kulissen, Linsen ein

– Halten Sie ihn fest Madame

in dem Teil des Viertels, in dem wir gelebt haben, kleine Gemüsegärten, Hausgärten, erahnte man den Regen am Ingrimm der Möwen, der Klagen, die Schiffe suchten und Diesel vorfanden, ich war mir sicher, daß es die Bräute aus dem Schaufenster waren, die im schilfbestandenen Sumpf schluchzten oder auf den Regenrinnen hockend Algen aus den Flügeln pickten, die Babys hatten die Nase in die Luft gereckt, während die Bräute ihnen ruckelnd und krächzend Fischstücke in den Rachen steckten, nachmittags kamen und gingen sie über den Dächern, rissen Brautkränze mit sich, weiße Blümchen, Schleier, und das Schaufenster des Photo Royal Lda leer, nur noch Bilderrahmen, der von den Säuren zerfressene Angestellte rief vergebens von der Schwelle aus nach ihnen, die Babys rissen auf den Satinkissen der Nester hungrig die Münder auf, ich erinnere mich an den Nachmittag, an dem das Wasserflugzeug

(oder ein Albatros?)

abgestürzt ist, nach Quallen spähend direkt auf Cabo Ruivo zu herunterschwebte, und da brannte auch schon das Cockpit, die Bräute vor Schreck geduckt auf dem persischen Tanker, der am Ufer vergammelte, man ging übers Deck, und ein altes Echo, in dem greise Verwandte aufschreckten

– Bübchen

oder am Spazierstock sich hochziehende Damen in Kajüten aufstanden und auf Teetassen zeigten

– Wessen Sohn bist du?

abgestandenes Parfüm, Fußwärmer, Novenen, eine Traube Babys forderte am Schornstein Ebbemiesmuscheln ein, der Angestellte vom Photo Royal Lda trabte über den Anleger, der Albatros neigte sich seufzend, verlor einen Schwimmer, einen Propeller, man erkannte in den Fenstern Passagiere mit aufgerissenem Rachen und nach oben gereckter Nase, die wahrscheinlich auch wegen etwas zu essen zappelten, eine Benzinspur schoß durch den Schlamm und setzte das Röhricht in Brand, Cabo Ruivo, eine Wüste mit Wasserpfützen, in deren Unkraut sich die Wildenten und Seeschwalben versteckten, ich vermutete, daß Alcochete außer der Stille, eine Braut streifte unser Fenster, und gleich die greisen Verwandten, die in den Kabinen des persischen Tankers im Radio die Messe anhörten

– Was soll das?

Olivenbäume aus der Provinz, die die Stadt vergessen hatte, Uhren, denen das Interesse an der Zeit abhanden gekommen war, mit herunterhängenden Zeigern, das Wasserflugzeug hatte einen Krebs gesichtet, denn es stürzte sich mit ausgestreckten Krallen in einen Fleck Fluß, entledigte sich der Säcke, der Koffer, der Wäsche, die die Flut brachte, und inmitten von Aluminium- und Holzrelikten befehdeten sich die Bräute, stritten, zerrissen Stoffe, mir hätte es besser gefallen, wenn wir das Foto vor so einer Leinwand gemacht hätten, will heißen, vor einem Tanker, den Möwen und dem Jeep der Guarda Republicana, der die Vögel verscheuchte, der Angestellte des Photo Royal Lda

– Halten Sie das Bübchen fest das rutscht Ihnen nämlich gerade vom Schoß

und tatsächlich rutschte ich auf den Teppich, den die Füße meiner Mutter nicht erreichten, Schuhe, die ganze Nacht umbewohnt am Kopf des Bettes, verlassen, sie Haar und Bettücher, und ich durchforstete die Bettücher

– Was ist bloß aus Ihren Füßen geworden Mutter?

Schultern, die protestierend ihre Stellung veränderten, vielleicht Augen unter den Haarsträhnen, aber wo sind die Augen geblieben, ein Blick kam, sich aus Wimpern wickelnd, vom Kopfkissen aus mühsam zu mir

– Kannst du mich nicht schlafen lassen Herrgott noch mal

begann sich zu verlieren, und Dutzende von Augenlidern legten sich schichtweise über den Blick, nahmen ihn mit, die Schultern protestierten nicht einmal mehr, ankerten

– Bist du zum persischen Tanker geworden Mütterchen?

(der Lungenmotor arbeitete gedämpft)

wieso Motor, der Tanker besaß keinen Motor, jemand mit einem ausländischen Laster hatte ihn ausgebaut, im Abstellraum deponiert, und deshalb kein Lungenmotor, Fischschwärme schwammen in ihr ein und aus, der Angestellte des Photo Royal Lda, während er mit der Einstellung der Linsen fertig wurde

– Fühlen Sie sich nicht wohl Madame?

der See, das Schloß, die im Boot rudernde Prinzessin, eine der Bräute aus dem Schaufenster begann unvermittelt riesengroß im Bilderrahmen zu lächeln, ich bat sie

(ich eine Schleife aus Flechten)

– Friß mich nicht

diejenigen, die noch auf dem Tejo waren, verließen den Anleger und besetzten den Laden, Cousin Casimiro packte mich an der Taille, hob mich in die Luft, kitzelte mich, wurde böse

(ich glaubte, er sei böse)

– Worüber lachst du?

nachdem mein Vater gegangen war, indem er uns wegschob

– Quälgeister

schnürte Cousin Casimiro mir mit der Serviette die Luft ab, die Besitzerstimme feierlich

– Mach dich nicht schmutzig Bübchen

er setzte sich auf den Platz meines Vaters, kundschaftete die Terrine aus, verteilte das Mittagessen, schimpfte mit meiner Mutter

– Wirst du das ganze Leben lang an ihn denken Kleine?

und wenn er

– Wirst du das ganze Leben lang an ihn denken Kleine?

mein Vater wieder zu Hause, mit uns am Tisch, obwohl er keinen Löffel hatte, keinen Teller hatte, dort, wo meine Mutter ihn fragte

(sie in diesen Augenblicken zwei Hände an den Wangen, die Augen wie die Linsen des Fotografen)

– Warum?

mein Vater hingegen weder Schultern noch Augen, verächtliche Ellenbogen

– Quälgeister

von ihm blieben der Rasierpinsel mit trockenem Schaum an den Haaren auf dem Waschbecken zurück, Bügel, die meine Mutter im Schrank mit der Frage durchstöberte

– Warum?

die Bügel an der Stange schaukelten Gründe, die niemand verstand, wir machten ihnen die Tür vor der Nase zu, und sie schwiegen, meine Mutter hat den Rasierpinsel am Ende in den Müll geworfen, ihn ewig lange gereinigt

(er brauchte nicht gereinigt zu werden)

und ihn um Verzeihung gebeten, an Juniabenden stellte sie sich vor, es wäre mein Vater, der da hustete, und letztlich war es ein Rohr, irgend etwas auf der Straße, ein Knacken der Möbel, Cousin Casimiro stellte die Flasche auf die Anrichte zurück, die Worte gewannen im Mund nicht an Kraft, tropften, er sammelte sie im Taschentuch auf, das sich, nachdem es nicht in die Jackentasche gelangte, im Jackeninneren sorgte

(das Taschentuch, denn Cousin Casimiro blieb stumm)

– Willst du das ganze Leben lang an ihn denken Kleine?

er steckte beim Photo Royal Lda den Hals durch das Loch in der Leinwand mit den Wasserschlangen und Zebras, erschien einen Leoparden tötend im Bild, aber der Tropenhelm traf nicht mit dem Kopf zusammen, der gemalte Körper duckte sich auf einem Baumstamm,...


Meyer-Minnemann, Maralde
Maralde Meyer-Minnemann, geboren 1943 in Hamburg, erhielt 1992 den "Hamburger Förderpreis für literarische Übersetzungen", 1997 den Preis "Portugal-Frankfurt", 1998 den "Helmut-M.-Braem-Preis" und wurde 2005 für den "Preis der Leipziger Buchmesse" nominiert.

Lobo Antunes, António
António Lobo Antunes wurde 1942 in Lissabon geboren. Er studierte Medizin, war während des Kolonialkriegs 27 Monate lang Militärarzt in Angola und arbeitete danach als Psychiater in einem Lissabonner Krankenhaus. Heute lebt er als Schriftsteller in seiner Heimatstadt. Lobo Antunes zählt zu den wichtigsten Autoren der europäischen Gegenwartsliteratur. In seinem Werk, das mittlerweile mehr als dreißig Titel umfasst und in vierzig Sprachen übersetzt worden ist, setzt er sich intensiv und kritisch mit der portugiesischen Gesellschaft auseinander. Er erhielt zahlreiche Preise, darunter den »Großen Romanpreis des Portugiesischen Schriftstellerverbandes«, den »Jerusalem-Preis für die Freiheit des Individuums in der Gesellschaft« und den Camões-Preis.



Ihre Fragen, Wünsche oder Anmerkungen
Vorname*
Nachname*
Ihre E-Mail-Adresse*
Kundennr.
Ihre Nachricht*
Lediglich mit * gekennzeichnete Felder sind Pflichtfelder.
Wenn Sie die im Kontaktformular eingegebenen Daten durch Klick auf den nachfolgenden Button übersenden, erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Ihr Angaben für die Beantwortung Ihrer Anfrage verwenden. Selbstverständlich werden Ihre Daten vertraulich behandelt und nicht an Dritte weitergegeben. Sie können der Verwendung Ihrer Daten jederzeit widersprechen. Das Datenhandling bei Sack Fachmedien erklären wir Ihnen in unserer Datenschutzerklärung.