E-Book, Deutsch, Band 73386, 432 Seiten
Reihe: btb
Lobo Antunes Die Leidenschaften der Seele
1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-641-32179-6
Verlag: btb
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, Band 73386, 432 Seiten
Reihe: btb
ISBN: 978-3-641-32179-6
Verlag: btb
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Im Portugal der Achtziger kämpfen revolutionäre Zellen für den Sozialismus. Als ein Bombenleger verhaftet wird, setzt man einen Ermittlungsrichter auf ihn an, der ihn noch aus der Kindheit kennt. Doch das Verhör zwischen Richter und Terrorist läuft aus dem Ruder, Erinnerungen werden übermächtig, andere Stimmen drängen sich dazwischen, bis niemand mehr weiß, wer wem die Fragen stellt.
António Lobo Antunes wurde 1942 in Lissabon geboren. Er studierte Medizin, war während des Kolonialkriegs 27 Monate lang Militärarzt in Angola und arbeitete danach als Psychiater in einem Lissabonner Krankenhaus. Heute lebt er als Schriftsteller in seiner Heimatstadt. Lobo Antunes zählt zu den wichtigsten Autoren der europäischen Gegenwartsliteratur. In seinem Werk, das mittlerweile mehr als dreißig Titel umfasst und in vierzig Sprachen übersetzt worden ist, setzt er sich intensiv und kritisch mit der portugiesischen Gesellschaft auseinander. Er erhielt zahlreiche Preise, darunter den 'Großen Romanpreis des Portugiesischen Schriftstellerverbandes', den 'Jerusalem-Preis für die Freiheit des Individuums in der Gesellschaft' und den Camões-Preis.
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1
Er erinnerte sich daran, wie er, als er zwölf oder dreizehn Jahre alt war, dem Großvater Zigaretten klaute und sie mit dem Sohn des Hausmeisters teilte, wie sie sich beide rauchend ins Gras legten und zwischen den Akazien hindurch in den Septemberhimmel schauten. Er lächelte der Fontäne im Teich und den Bänken aus blau-weißen, handbemalten Fliesen zu, die den Garten vom Rosarium trennten, und der Richter, dessen Hände feucht auf einem Wirrwarr von Papieren lagen, sagte:
– Wie bitte?
– Ich habe nichts gesagt, mir sind nur alte Sachen wieder eingefallen, es ist nichts weiter.
Der Großvater in seiner Sommerjacke lag dort unten im Liegestuhl auf den Fliesen unter dem verschossenen Sonnenschirm, wo die Familie sonntags nach dem Mittagessen die Canastatische aufstellte, und sie beide hatten eine Streichholzschachtel aus der Küche dabei, rauchten heimlich, dicht bei den Gladiolen, und sahen dem Windrad zu, das auf der Suche nach dem Wind von rechts nach links tanzte. Und nun, Jahrhunderte später, fragte einer, und der andere antwortete, hier in diesem mit Akten vollgestopften Polizeikabuff (ein Kinderregenmantel hing an einem Nagel), mit einem Polizisten am Türpfosten und einer Neonröhre, die die Augen verwirrte:
– Lassen Sie uns mit Ihrer Aussage vom Anfang an beginnen: Am Nachmittag, an dem Sie den Ingenieur erledigt haben, wie viele waren Sie da, erzählen Sie mal.
Ein Monat in den Verliesen der Kriminalpolizei, kein Fenster, eine kleine Glühbirne an der Decke, hatte ausgereicht, und die Tage und Nächte waren zu einer einzigen, wehen Dämmerung geworden, die nur vom Öffnen der Zelle zu den Mahlzeiten oder durch die Besuche des Unterinspektors unterbrochen wurde. Besuche und Mahlzeiten fast immer, wenn der Mann gerade eingeschlafen war, schlief oder zu schlafen glaubte; ein Husten ganz nah an seinem Ohr ließ ihn vor Schreck in sich zusammenstürzen: Ihr Essen, Genosse, guten Appetit, und schon war die Tür wieder geschlossen, ein fernes Pfeifen, niemand, auf dem Fußboden das Tablett mit der Suppe und dem Reis.
– Ich für meinen Teil halte so lange durch wie nötig, sagte der Ermittlungsrichter und löste mit spinnenhafter Sorgfalt den Krawattenknoten. Bis ich nicht weiß, wie ihr den Ingenieur zu Hackfleisch verarbeitet habt, rühre ich mich nicht von der Stelle.
Und er rührte sich tatsächlich nicht, klein, glatzköpfig, dunkel, behaart, wartete er, rauchte die Zigaretten meines Großvaters, während der Hausmeister, sein Vater, auf einem Steinsims stand und eine weißglasierte Terrakottastatue umarmte, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren, und dabei die Hecken stutzte. Die ungleichen Gebäude der Rua Gomes Freire türmten sich hinter dem Staatsbeamten auf: Schilder von Rechtsanwälten und Friseusen, Zahnärzten, Papierwarenläden, ein lustloses Geräusch von Verkehr, Restaurantküchen, Stimmen. Der Mann dachte, Wie viele waren wir denn überhaupt, vier, fünf, sechs, selbst wenn ich sie verpfeifen wollte, das Licht der brennenden Lampe, die in meinem Schädel steckt, hat mein Denkvermögen und mein Gedächtnis durcheinandergebracht. Er entsann sich einzelner Bruchstücke, unzusammenhängender Episoden, vager Erinnerungsbilder, die flohen und wieder auftauchten, die Rua Padre Manuel da Nóbrega, die vom Areeiro hinunterführt, mit ihren japanischen Autosalons, eine schnell gehende Gestalt mit einem Kuchenpäckchen in der Hand. Der Künstler, der den Lieferwagen der Gasgesellschaft fuhr, sagte, Da ist er, die tschechischen Maschinengewehre schnellten ungestüm unter dem Sitz hervor, der Priester mit seinen runden Spiegelaugengläsern bellte, Jetzt! Geruch nach Patronen, Rauch, flüchtende Menschen, eine zersplitterte Schaufensterscheibe, die Gestalt mit dem Päckchen sank auf dem Bürgersteig zusammen, der Student zum Künstler, der die Gänge reinwürgte, Scheiße, nun gib doch Gas, verdammt noch mal, und plötzlich die Avenida de Roma, Buchhandlungen, Plattenläden, Porzellanläden, Prêt-à-porter-Boutiquen, der Frieden der Spatzen am Nachmittag, ruhige Fahrt, wortlos, Halten an den Ampeln, bis zur Scheune eines Landhauses in Odivelas, wo es noch mehr Waffen und ein unter dem Stroh verstecktes Funkgerät gab. So muß es gewesen sein, so war es immer, und zuletzt der Abschiedshändedruck des Gottesmannes, Keine Angst, der Kontaktmann wird euch aufsuchen, ich möchte, daß jeder brav in seinem Bau bleibt, nächste Woche gibt es sicher Neues, und in diesem Augenblick rief die Frau des Hausmeisters ihren Sohn vom Rosengarten aus, Zé, komm mal eben her, Zé, und der Ermittlungsrichter klopfte taub mit der Spitze des Kugelschreibers auf den Daumen, hob den Hörer von einem der Telefone auf dem Tischchen neben sich ab, Sagen Sie meiner Angetrauten, daß ich nicht weiß, wann ich heute nach Hause komme.
So mußte es gewesen sein, dachte der Mann, in dessen Schädel das Licht der Lampe Funken schlug, in unserer Überfallgruppe arbeiteten wir nie anders: Man gab uns die persönlichen Daten der Leute und eine Frist, um die Aufgabe zu erledigen, und wir checkten in Schichtarbeit Zeiten nach, verbesserten Diagramme, veränderten Routen, diskutierten, um einen überquellenden Aschenbecher versammelt, in einem Keller einer Schlafstadt in Almada oder einem verlassenen Lagerhaus in Marvila. Der Künstler wollte die Angelegenheit schnurstracks bei Anbruch des nächsten Tages erledigen, indem er mit einer Bombe einen ganzen Häuserblock in die Luft jagte, der Priester hielt ihn am Ärmel zurück, Nun mal langsam, ganz ruhig, wenn sie uns bis heute nicht geschnappt haben, dann nur, weil wir alles sorgfältig vorbereiten, und einige Tage später tauchten die Gewehre und ein gestohlener Honda auf, Macht euch bereit, Kinder, es ist soweit. Einoder zweimal war der Mann sich ganz sicher, daß ihr Ziel sie, bevor sie losfeuerten – die Gewehrläufe waren schon auf das Wagenfenster gestützt, die Granatananasse steckten in der Hosentasche –, mit dem Blick eines gehetzten Kaninchens, den gläsernen Augen eines Fasans angesehen hatte, und in solchen Nächten konnte er trotz der Beruhigungsmittel nicht einschlafen und lag mit dem Bauch nach oben und von Schweißausbrüchen gequält da und sah immer wieder, wie die Gestalt vor ihm zusammensackte, wie der Priester mit geschultertem Maschinengewehr den Sterbenden beschimpfte, Du Drecksack, du Drecksack, du Drecksack, wie der Student dem Künstler eins in den Nacken gab, Scheiße noch mal, drück aufs Pedal, Plätze und nochmals Plätze, das Radar vom Flughafen, Felder mit Schafen, ein Restaurant, das fast mit dem Teerbelag der Straße zusammenstieß, und die Besitzerin des Altenheims, Wo willst du nun schon wieder hin, so ein Wahnsinn, hör damit auf. Der Richter zeigte vom Schreibtisch her ein Heft aus Kanzleipapier.
– Zweihundert Seiten vertrauliche Mitteilungen der Organisation, Geheimnisse, Schweinereien, Schamlosigkeiten, Mißgeschicke, Beweise. Mir fehlt nur noch die ganze Geschichte aus Ihrem Mund.
Er sieht nicht einmal seiner Mutter ähnlich, dachte der Mann und erinnerte sich an die Frau des Hausmeisters, die, eingeschüchtert von den Vorhängen und dem Glänzen der versilberten Gegenstände, den Großvater um Unterstützung für die Ausbildung ihres Sohnes bat. Die Mutter, deren Haarknoten sich auflöste, die laut nach dem Ermittlungsrichter rief und mit den Holzpantinen nach ihm warf, die aus Dankbarkeit weinte und lachte, den Ring des Alten küßte, und sie beide, die im Gras versteckt rauchten, die Finger hinter dem Kopf verschränkt, während die Dienstmädchen im Kattunkittel in den Zimmern des ersten Stockes Staub wischten. Das Windrad kam in einer kaum zu erahnenden Brise fast zum Stillstand, und die Flügel drehten sich langsam und rostig.
– Den Aussagen zufolge bestand die Basis Ihrer Gruppe aus fünf Leuten und einem Chemiestudenten im ersten Semester, und dann las der Ermittlungsrichter eine Liste herunter: Der Student, ein gescheitertes Genie, ein Pater, der sich vorstellte, die Revolution ginge weiter, die Besitzerin eines Altenheims und Sie, der Sie sich nichts weiter vorstellten, sondern die Dummheit besaßen, sich in die Dame zu verlieben. Ich nehme an, die Fotos in dem Umschlag da interessieren Sie nicht, was bedauerlich ist: Die Jungs von der Kripo haben allen ziemlich geschmeichelt, von vorn und von der Seite, jeder mit seiner laufenden Nummer darunter. Und Foto heißt Name, Alter, Beruf, Personenstand und was weiß ich noch. So kann ich Ihnen überschlagsmäßig sagen, ja, hier steht es: Das Beste, was der Künstler zustande gebracht hat, war, sich acht Monate lang von einer körperbehinderten Frau aushalten zu lassen, einer Lehrerin am Gymnasium von Oeiras. Dennoch gibt es einige Details, die mich verwirren, und als Gegenleistung für unwichtige Erläuterungen kann das Gericht sich durchaus gerührt zeigen: Die Staatsanwälte gehören zum Sentimentalsten, was es gibt.
Alles gelogen, dachte der Mann, er will den üblichen Trick mit gefälschten Fotos und der Gutmütigkeit der Ankläger bei mir landen, er weiß nichts, er hält mich zum besten: Um diese Zeit – wieviel Uhr es gerade war, wußte er nicht, weil er keine Uhr haben durfte – machte der Künstler, umgeben vom Gestank der Pinsel, der Verdünner und Tuben, gewiß eine seiner fürchterlichen Collagen im zweiten Stock der Calçada dos Mestres, der Student telefonierte in seiner kleinen Wohnung mit den kleinen gelben Balkons in der Estrada das Laranjeiras mit einer befreundeten Ärztin und sah zu den Giraffen im Zoo hinunter, deren Hälse weit über die Platanen ragten, die Besitzerin des Altenheims rechnete ihre Ausgaben zusammen, der Priester bereitete, die Zunge im Mundwinkel, eine chiffrierte Botschaft vor oder fuhr über die Tejobrücke Ponte 25 de Abril, um sich mit einem Kollegen aus dem...