Lobe Insu-Pu
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-7026-5882-3
Verlag: Jungbrunnen
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Die Insel der verlorenen Kinder
E-Book, Deutsch, 256 Seiten
ISBN: 978-3-7026-5882-3
Verlag: Jungbrunnen
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
In Urbien herrscht Krieg. Im Luftschutzkeller überlegen Stefan und Thomas Morin, wie es wohl Kindern in anderen Ländern geht, die ruhig in ihren Betten schlafen können. Sie bitten den Präsidenten von Terranien in einem Brief, die urbischen Kinder für eine Zeit in Terranien unterzubringen.
Der Enkel des Präsidenten, Michael, tut alles, um seinen Großvater von dem Plan zu überzeugen. Und bald brechen vier Schiffe voller Kinder nach Terranien auf. In der vierten Nacht passiert das Unglück: Die "Feuerland“, das Leitschiff, sinkt. Das Rettungsboot, in dem die Morin-Jungen mit neun anderen sitzen, reißt sich los und treibt auf dem Ozean. Nach einer Furcht einflößenden Nacht stranden die Kinder auf einer Insel. Dank ihrer Geschicklichkeit und Erfindungsgabe gelingt es den Kindern, eine gut organisierte Gemeinschaft aufzubauen.
Als sämtliche Versuche, die Kinder zu finden, erfolglos bleiben, scheint die Situation hoffnungslos. Nur Michael setzt alles daran, die Erwachsenen davon zu überzeugen, dass die Kinder noch am Leben sind.
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Ein Brief wird geschrieben
„Da haben wir wieder einmal Glück gehabt“, sagten die Mütter, als die Alarmsirenen das Zeichen gaben, dass die Flieger weitergezogen waren und die Gefahr für diesmal vorbei sei. Dann packten sie ihre Kinder ein, schleppten sie in die Wohnungen hinauf und stopften sie in die Betten … „Und nun schlaft nur rasch, es ist bald Morgen!“ Leicht gesagt, schlaft nur rasch! Die halbe Nacht hatten die Kinder im Keller zugebracht. Auf dem Schoß der Mutter, auf harten Bänken, auf der Erde sogar. Sie hatten dicke Pullover und Mäntel über ihren Pyjamas angehabt und Wollpantoffeln an den Füßen. Aber auf die Dauer war es doch eisig da unten, und wenn sie gegen Morgen aus den Kellern zurückkamen, so waren die Kinder oft ganz steif vor Kälte. Sie klammerten ihre Hände um die heißen Teetassen und gaben acht, wie das Getränk angenehm heiß hinunterrann. Lagen sie dann glücklich in ihren Betten, ordentlich zugedeckt und mit einer Wärmflasche auf jeder Seite, um noch die drei Stunden bis zum Schulbeginn zu schlafen, so rutschten sie im Traum hin und her, wurstelten Decke und Kopfkissen durcheinander und fantasierten von Krieg und Bombenangriffen. Manchmal schrien sie dabei, sodass die Mutter sie wecken und beruhigen musste. Und kaum waren sie dann im ersten guten Schlaf, ging auch schon der Wecker: Es war sieben, und sie mussten aufstehen, um rechtzeitig in die Schule zu kommen. Kein Wunder, dass die Kinder blass aussahen und nervös waren. Sie mochten nicht mehr so herumtoben wie früher, sondern schlichen still und wie krank umher. Natürlich machten sich die Erwachsenen Sorgen. Viele tausend Kinder wurden aufs Land geschickt, in Bauernhäuser und auf große Gutshöfe. Dort hatten sie außer ihrer Nachtruhe auch noch Milch und Eier, so viel sie wollten, und Honig und Butter; und wenn sie Lust hatten, konnten sie sich ins Heu legen, und kleine Kälber leckten ihnen die Hände ab. Aber nicht alle Kinder konnten aufs Land fahren; die meisten mussten in der Stadt bleiben. Eines Nachts, als Frau Morin mit ihren beiden Jungen Stefan und Thomas nun schon die vierte Stunde im Luftschutzkeller hockte und ihnen bereits alles weh tat vom harten Sitzen, sagte sie zu Frau Bantock gegenüber: „Frau Bantock, wir Großen wissen, dass alles einmal ein Ende hat. Aber für Kinder ist das viel schwerer zu verstehen. Eine Schande ist es, wenn man sieht, wie sie herunterkommen! Mein Großer hat zwei Kilo abgenommen. Wirklich, es bricht mir das Herz!“ „Das darf es nicht“, sage Thomas entschieden. „Wenn Papi auf Urlaub kommt und sieht, dass dein Herz gebrochen ist, wird er sich furchtbar ärgern, und der ganze Urlaub ist futsch. Mein Papi ist schließlich Doktor!“, setzte er hinzu, wobei er Frau Bantock belehrend ansah. „Der merkt immer gleich alles!“ „Rede keinen Unsinn“, sagte Stefan zu ihm. „Gebrochenes Herz ist keine Krankheit, sondern nur so ein Ausdruck.“ „Aber Papi würde es doch gleich merken“, beharrte Thomas und war böse. Er konnte seinen großen Bruder gut leiden und war meistens sogar stolz auf ihn. Aber manchmal war Stefan so gemein, wie nur größere Brüder zu kleineren sein können. Dann tat er grässlich erwachsen, und er, Thomas, der doch nur vier Jahre jünger war, hatte das Gefühl, ein albernes Baby zu sein. Besonders seit Stefan Latein lernte, seit zwei Jahren nämlich, war es sehr schlimm geworden für Thomas, der sowieso nicht viel von der Schule hielt und lieber Rollschuh lief als Hefte vollkritzelte. „Wenn ich denke“, sagte Frau Morin zu Frau Bantock weiter, „dass in anderen Ländern Kinder jetzt in ihren Betten ruhig schlafen und von friedlichen Dingen träumen …!“ „Von Marzipan“, sagte Thomas. „Wo zum Beispiel?“, fragte Stefan. „Ich meine, in welchen Ländern? In Terranien?“ „Zum Beispiel in Terranien“, sagte Frau Morin. „Dort ist kein Krieg.“ „Warum fahren wir dann nicht sofort hin?“, fragte Thomas. Keiner antwortete. Die Großen lächelten müde, und Frau Bantock sah aus, als ob sie sagen wollte: „Ach Gott, der kleine Schwachkopf.“ Thomas konnte sie sowieso nicht ausstehen, weil sie immer verbot, das Treppengeländer herunterzurutschen, und weil sie nach Mottenpulver roch und auch sonst eine ekelhafte alte Tante war. Da aber hatte Stefan einen seiner großen Momente und nahm sich des jüngeren Bruders an. „Eigentlich hat Tom ganz Recht“, sagte er. „Warum fahren wir nicht nach Terranien? Ich meine, wir Kinder, Mami! Wenn wir an den Präsidenten einen Brief schreiben und ihn bitten, eine Versammlung zu machen, eine Versammlung von allen terranischen Eltern, deren Kinder nachts ruhig schlafen können! Wenn er sie fragt, ob sie nicht noch ein paar Betten aufstellen könnten – jeder eines nur –, damit die hiesigen Kinder einmal wieder richtig zur Ruhe kommen! Wie fändest du das?“ Er sah seine Mutter gespannt an. Thomas hatte rote Ohren vor Eifer. Die Umsitzenden schwiegen trübe. Frau Bantock atmete heftig durch die Nase und sagte: „Gott, wie dumm so ein Kind redet!“ Aber da legte die Mutter ihre Hand sanft auf Stefans Schulter und antwortete: „Wenn du meinst, kannst du ja dem terranischen Präsidenten einen Brief schreiben!“ Da erhob sich Frau Bantock, obwohl das Entwarnungssignal für den Luftangriff noch nicht gegeben worden war, und verließ den Luftschutzkeller mit streng abweisender Miene. Noch ihr Rücken sah im Abgehen beleidigt aus, als ob er sagen wollte: „Bei einer Mutter, die ihre Kinder bei derartigen Dummheiten unterstützt, kann ich nicht sitzen bleiben.“ Als Stefan am nächsten Mittag aus der Schule kam und seiner Mutter beim Abwaschen geholfen hatte, setzte er sich umständlich an seinen Tisch und riss ein weißes Doppelblatt aus der Mitte eines Heftes heraus. „Weil es keine Linien hat“, sagte er zu Thomas, der daneben stand. „Man kann an den terranischen Präsidenten nicht auf Linien schreiben!“ „Warum kann man das nicht?“, fragte Thomas. „Weil es babyhaft ist und er den Brief gar nicht lesen würde“, belehrte ihn Stefan. Dann schrieb er oben links das Datum, und oben rechts in die Ecke schrieb er: Betreff: Dormire necesse est! „Was heißt das?“, wollte Thomas wissen, „und was ist ein Betreff?“ „Du fragst so viel, es ist nicht zum Aushalten! Alle ordentlichen Briefe haben einen Betreff. Dann weiß der, der ihn kriegt, gleich, worum es sich handelt.“ „Aha“, sagte Thomas und versuchte ein verständiges Gesicht zu machen, obwohl er genauso schlau war wie vorher. Aber das brauchte Stefan mit seiner Bildung nicht zu wissen. „Und was heißt: Dor-mire? Ist das lateinisch?“ „Dachtest du, chinesisch?“, fragte Stefan gereizt zurück. „Das heißt: Schlafen tut Not! – Ich habe es erfunden. Eigentlich sagten die alten Römer: Navigare necesse est – das heißt: Schifffahrt tut Not –, aber das passt nicht so gut.“ „Wieso passt es nicht?“, warf Thomas ein. „Wenn wir nach Terranien wollen, müssen wir ja auf einem Schiff fahren. Über den Ozean!“ Das setzte er sehr großartig hinzu und machte seine Lippen ganz schmal vor lauter Genugtuung, weil er auch einmal etwas Kluges gesagt hatte. „Aber es handelt sich nicht um den Ozean, sondern ums Schlafen“, sagte Stefan ärgerlich, „und wenn du mich jetzt nicht in Ruhe lässt, fliegst du achtkantig hinaus!“ Darauf verhielt sich Thomas still und sah zu, wie sein Bruder schrieb: Sehr geehrter Herr Präsident! Da mein Vater Major ist (beim 2. Regiment) und deshalb meistens nicht zu Hause, so hat mich meine Mutter geben, diesen Brief an Sie zu schreiben. „Was hat es damit zu tun, dass Papi Major ist?“, fragte Thomas. „Du sollst mit deinen dummen Fragen aufhören! Halt jetzt gefälligst das Maul.“ „Maul ist kein schönes Wort, sagt Mami“, bemerkte Thomas mit so zarter Stimme, als ob er ein Prinz aus Porzellan wäre. „Und übrigens ist es gelogen, dass sie dich gebeten hat, den Brief zu schreiben, sie hat nur …“ „Raus!!!“, brüllte Stefan. „Rrrraus mit dir!“ Und er sprang auf, erwischte Thomas am Kragen und warf ihn regelrecht zum Zimmer hinaus. Als er wieder saß und die Feder gerade neu ansetzte, öffnete sich die Tür vorsichtig, und Thomas, der Gründliche, beendete seinen Satz durch den Spalt: „… sie hat nur gesagt, wenn du meinst, kannst du ja so einen Brief schreiben! Mehr nicht!“ Stefan hob sein lateinisches Lexikon hoch...