E-Book, Deutsch, 336 Seiten
Liu Der Blick von den Sternen
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-641-32493-3
Verlag: Heyne
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Das neue Buch vom Autor des Weltbestsellers „Die drei Sonnen“, jetzt als große TV-Serienverfilmung auf Netflix
E-Book, Deutsch, 336 Seiten
ISBN: 978-3-641-32493-3
Verlag: Heyne
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Mit seinem Weltbestseller 'Die drei Sonnen' hat sich Cixin Liu in die Weltgeschichte der spekulativen Literatur eingeschrieben. Zusammen mit 'Der dunkle Wald' und 'Jenseits der Zeit' hat Lius Trisolaris-Trilogie den Horizont der Science-Fiction verschoben. In der vorliegenden Sammlung von Erzählungen, Essays und Interviews gibt Cixin Liu erstmals Einblick in die Entstehungsgeschichte seines literarischen Denkens. Was hat Liu zur Science-Fiction gebracht? Kann ein Schmetterling einen Krieg verhindern? Welche Spezies ist der wahre Herrscher des Erdballs? Was sehen wir, wenn wir von den Sternen her zur Erde zurückblicken? 19 Texte, in denen Cixin Liu die Weiten des kosmischen Erzählens durchmisst ...
Cixin Liu ist der erfolgreichste chinesische Science-Fiction-Autor. Er hat lange Zeit als Ingenieur in einem Kraftwerk gearbeitet, bevor er sich ganz seiner Schriftstellerkarriere widmen konnte. Seine Romane und Erzählungen wurden bereits viele Male mit dem Galaxy Award prämiert. Cixin Lius Roman 'Die drei Sonnen' wurde 2015 als erster chinesischer Roman überhaupt mit dem Hugo Award ausgezeichnet und wird international als ein Meilenstein der Science-Fiction gefeiert. Zusammen mit den beiden Folgebänden 'Der dunkle Wald' und 'Jenseits der Zeit' wurde die Trisolaris-Trilogie als TV-Serie 3 Body Problem für Netflix verfilmt.
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Ein brütend heißer Abend vor über vierzig Jahren. Das Haus, in dem wir wohnten, war einfach und ebenerdig. Ventilator, Klimaanlage und Fernseher sollten erst über ein Jahrzehnt später Einzug halten, damals gehörten diese Geräte noch in die Welt von morgen, ins Reich der Science-Fiction. Die Erwachsenen saßen draußen im Freien, fächelten sich Luft zu und plauderten, während ich allein drinnen saß, schweißtriefend und in ein Buch versunken. Es war mein erster Science-Fiction-Roman, »Die Reise zum Mittelpunkt der Erde« von Jules Verne. Ich war von der Lektüre geradezu berauscht, als mir plötzlich jemand das Buch aus der Hand nahm. Es war mein Vater. Im ersten Moment zuckte ich zusammen, denn ein paar Tage zuvor hatte ich mir heftige Schelte eingefangen, weil ich »Roter Fels« gelesen hatte. Mein Vater hatte das Buch anschließend einkassiert. (Aus heutiger Sicht kaum vorstellbar, aber selbst Klassiker der Revolutionsliteratur wie »Roter Fels« und »Das Lied der Jugend« waren damals verboten.) Doch an meinem neuen Lesestoff hatte er nichts auszusetzen. Stumm reichte er mir das Buch zurück. Ich war eben im Begriff, mich erneut in der Welt von Jules Verne zu verlieren, als mein Vater schon im Gehen von der Tür her zu mir sagte: »Diese Art Roman nennt man Science-Fiction.«
Es war das erste Mal, dass mir dieser aus zwei Wörtern zusammengesetzte Begriff zu Ohren kam, der mein Leben prägen sollte. Ich weiß noch, wie erstaunt ich war, dass alles, was in diesem Buch geschah, lediglich Fiktion sein sollte. Ausgedacht. Ich hatte es für die Schilderung wahrer Begebenheiten gehalten! Jule Vernes Schreibstil war derart realistisch, und außerdem fand sich bei kaum einer der zahlreichen chinesischen Ausgaben von »Reise zum Mittelpunkt der Erde« die vor Beginn der Kulturrevolution in Umlauf kamen, auf dem Einband ein Hinweis darauf, dass es sich um einen Science-Fiction-Roman handelte, so auch auf meiner nicht.
»Alles hier drin hat sich jemand ausgedacht?«, fragte ich ungläubig.
»Ja, aber es beruht auf wissenschaftlichen Erkenntnissen«, antwortete mein Vater.
Mit diesem einfachen, aus drei Sätzen bestehenden Dialog war der Grundgedanke formuliert worden, der meine spätere Arbeit in diesem Genre prägen sollte.
Lange Zeit habe ich die Veröffentlichung meiner ersten Kurzgeschichte im Jahr 1999 als Beginn meiner Science-Fiction-Karriere angesehen. Das liegt zwar inzwischen gut sechzehn Jahre zurück, aber eigentlich muss ich die Anfänge meines Schaffens noch einmal rund zwanzig Jahre davor ansiedeln, bei meiner ersten Geschichte aus dem Jahr 1978. Darin erhält die Erde Besuch von Außerirdischen. Gegen Ende machen sie dem Protagonisten ein kleines Abschiedsgeschenk: eine weiche, dünne Membran, so klein, dass sie in eine Hand passt. Ein Luftballon, sagen sie. Der Protagonist nimmt ihn mit nach Hause und versucht, ihn aufzupusten, zunächst mit dem Mund, dann mit einer Luftpumpe und schließlich mit einem Hochleistungsgebläse. Am Schluss wird aus der dünnen Membran eine prächtige Luftstadt, größer noch als Peking. Ich schickte mein Manuskript damals an das Literaturmagazin in Tianjing, bekam jedoch nie eine Rückmeldung.
In den folgenden zwanzig Jahren, bis »Walgesang« erschien, habe ich nie wirklich aufgehört zu schreiben, auch wenn es einige längere Pausen gab. In dieser Zeit, spätestens seit Beginn der Achtzigerjahre, wurde die klassische Prämisse, die mein Vater und ich damals in drei Sätzen zusammengefasst hatten, im Genre zunehmend in Zweifel gezogen und schließlich komplett aufgegeben. Das Jahrzehnt, das folgte, war geprägt von einem gewaltigen Zustrom neuer Ideen und Konzepte, die die chinesische Science-Fiction-Szene wie ein Schwamm in sich aufsog. Ich kam mir vor wie ein einzelner Wachposten auf einem Territorium, für das sich niemand mehr interessierte, eine Ödnis, in der man lediglich von Zeit zu Zeit auf ein paar von Unkraut überwucherte Ruinen stieß. Die Erinnerung an die Einsamkeit, die ich damals empfand, ist mir noch immer greifbar. Zeitweilig war es so schlimm, dass ich einen Versuch unternahm, mich der Gegenseite anzudienen, um von dort aus subversiv für die eigene Sache zu kämpfen. Das Ergebnis waren die Romane »China 2185« und »Supernova« Ich wollte der marginalisierten Science-Fiction damit eine Chance auf Verbreitung geben, doch tief im Innern hielt ich weiter an meinem Terrain fest. Letztendlich gab ich den Wunsch wieder auf, Romane zu schreiben, und wandte mich erneut dem Verfassen von Kurzgeschichten sowie meiner eigenen Auffassung von Science-Fiction zu.
Als ich begann, meine Geschichten in zu veröffentlichen, stellte ich mit einigem Erstaunen und großer Freude fest, dass mein Terrain gar nicht so verödet und leer war, wie ich gedacht hatte. Es gab durchaus noch andere Menschen dort. Dass wir uns nie begegnet waren, lag allein daran, dass ich nicht hartnäckig und ausdauernd genug nach ihnen gerufen hatte. Mit der Zeit stellte sich heraus, dass diese Gefilde sogar ziemlich dicht bevölkert waren. Ich traf auf immer mehr und immer größere Grüppchen, Pulks und Verbände, und irgendwann wurde klar, dass sie nicht nur hier in China existieren, sondern auch in den USA und anderswo. Wir alle zusammen machen es möglich, dass die Science-Fiction ihren Platz unter dem Himmel behält, und die letzten fünfzehn Jahre meines Schaffens sind geprägt davon.
Science-Fiction-Literatur nimmt in China eine besondere Stellung ein. Keiner anderen Literaturgattung werden mehr theoretische Auseinandersetzungen gewidmet, mehr tiefgreifende Forschung und Analyse zuteil, mehr neue Ideen und Gedanken angetragen. Es gibt Topoi, über die seit dreißig, vierzig Jahren ergebnislos gestritten wird, während ebenso unermüdlich neue Thematiken und Fragestellungen aufgeworfen, erforscht und diskutiert werden. Niemand nimmt die theoretische und konzeptionelle Seite ernster als wir Science-Fiction-Autoren, niemand hat mehr Angst davor, den Anschluss an die Avantgarde zu verlieren. Und so kam es zu einem seltsamen Phänomen.
Es ist jetzt einen Monat her, seit mir der Hugo Award verliehen wurde. In diesem Monat hatte ich Gelegenheit, mit noch mehr Menschen aus noch mehr Bereichen und Gesellschaftsschichten über Science-Fiction zu sprechen: dem chinesischen Vizepräsidenten, dem Bürgermeister meiner Stadt, dem Lehrpersonal der Mittelschule, den Klassenkameradinnen und -kameraden meiner Tochter, Verkehrspolizisten, Kurierfahrern, dem auf Schweineköpfe spezialisierten Metzger von nebenan … Dabei ist mir bewusst geworden: Was man in der SF-Szene und in akademischen Zirkeln diskutiert, hat kaum noch etwas mit dem zu tun, was Menschen außerhalb dieser Kreise unter Science-Fiction verstehen.
Auf der einen Seite stehen die Mitglieder der Szene, alles in allem vielleicht ein paar Hundert Leute; auf der anderen der Schweinekopfverkäufer, die Kurierfahrer, die Verkehrspolizisten, die Klassenkameradinnen und -kameraden meiner Tochter, das Lehrpersonal der Mittelschule, der Bürgermeister, der chinesische Vizepräsident – alles in allem etwa 1,3 Milliarden Menschen. Wer mag wohl recht haben? Ehrlich gesagt, halte ich die Auffassung unserer Seite zwar nach wie vor für die einzig richtige, aber in Anbetracht der Lage regt sich zumindest der eine oder andere Zweifel in mir.
Ein bekannter Schriftsteller hat einmal gesagt, die klassische Literatur, vertreten durch Größen wie Tolstoi und Balzac, sei eine langsam und Stein um Stein aufgeschichtete Mauer – und die moderne und postmoderne Literatur eine Leiter, mit der sie sich im Handumdrehen erklimmen lässt.
Dieses Bild gibt sehr gut die innere Einstellung der Science-Fiction-Szene wieder. Wir wollen stets über etwas hinaus, vergessen dabei jedoch, dass es Dinge gibt, die sich nicht überspringen lassen, die erlebt werden wollen, so wie man nicht einfach zum Erwachsensein übergehen kann, ohne Kindheit und Pubertät durchlaufen zu haben. Zumindest, was Science-Fiction-Literatur angeht, will die Wand eben doch erst Stein um Stein hochgezogen werden. Denn sonst lässt sich die Leiter nirgendwo anlehnen.
Diese Sammlung von Erzählungen und Essays umfasst den Großteil dessen, was ich während der vergangenen fünfzehn Jahre meiner etwa fünfunddreißigjährigen Laufbahn als Science-Fiction-Autor an nicht-fiktionalen Texten darüber verfasst habe. In den zwanzig Jahren davor habe ich nie Science-Fiction geschrieben. Auch bei Durchsicht meiner Tagebücher aus jener Zeit ließ sich kein Wort zu diesem Thema finden.
Wer sich diese Texte zu Gemüte führt, wird einige rote Fäden entdecken. Der Prozess eines langsamen Wegdriftens von blinder Überzeugung hin zu mehr Toleranz, von heißblütiger Euphorie hin zu mehr Gelassenheit. Mir ist spät bewusst geworden, dass es viele unterschiedliche Sorten von Science-Fiction-Literatur gibt. Ich habe begriffen, dass Science-Fiction auch ganz ohne Wissenschaft auskommen kann, dass sie ihr Augenmerk statt auf das Weltall und die Zukunft ebenso gut auf die Erde und die Realität von heute richten kann oder sogar nur auf unser Innenleben. Jede dieser Spielarten hat ihre Daseinsberechtigung, und jede von ihnen kann neue Klassiker hervorbringen.
Gleichzeitig bleibt die auf jenem kurzen, drei Sätze umfassenden Wortwechsel mit meinem Vater fußende Prämisse in mir so fest und unverrückbar wie ein Felsmassiv. Ich bin nach wie vor der Meinung, dass sie die existenzielle Basis jeder Science-Fiction-Literatur darstellt. Und meine Essays reflektieren dies.
Die chinesische Science-Fiction mag sich vor hundert Jahren auf den Weg gemacht haben, sie ist dennoch gerade erst im Aufbruch. Ihr...