Littlefield Bevor ich verzeihe
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-641-18863-4
Verlag: Goldmann
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 352 Seiten
ISBN: 978-3-641-18863-4
Verlag: Goldmann
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Sophie Littlefield schreibt schon seit ihrer Kindheit, und ihre Bücher wurden bereits mit mehreren Preisen ausgezeichnet. Sie lebt in Nordkalifornien, wo sie an ihrem nächsten Roman schreibt.
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Kapitel 2
Als er den Streifenwagen am Straßenrand halten sah, wusste er, dass es zu spät war. Gott, er hatte es gründlich vermasselt. Er hätte sie nicht anrufen dürfen, er hätte die Tat für sich sprechen lassen, sie alles sagen lassen, was alle hören mussten. Oder einen Brief schreiben. Ein Brief hätte funktioniert. Er hätte ihn abschicken können, bevor er in die Stadt gefahren war, hätte ihn auf dem Weg vom Büro zu seinem Wagen in den Briefkasten vor Noah’s Bagels werfen können. Maris hätte ihn am Mittwoch bekommen. Spätestens Donnerstag. Sie hätte den Brief in aller Ruhe lesen und sich überlegen können, ob sie ihn in den Papierkorb werfen sollte oder … oder ob er ihr geholfen hätte, wenigstens ein bisschen.
Zwei Polizisten stiegen aus dem Streifenwagen. Eine Frau, jung und hübsch, glattes Gesicht, und ein Mann. Der Mann war schneller, kam, eine Hand am Gürtel, entschlossen auf ihn zu. Wonach griff er? Nach seinem Funkgerät? Dem Elektroschocker? Vage fragte sich Ron, was das Protokoll für eine solche Situation vorsah, während er sich gleichzeitig dafür verfluchte, dass er nicht alles genau durchdacht hatte, dass er vermasselt hatte, was seine letzte Tat hätte werden sollen.
Er schaute an sich hinunter. Der Wind legte seine Hose um die Knöchel in Falten. Es war wirklich sehr windig hier oben, genau wie es in den Touristeninformationen stand. Ron hatte am Vorabend die Golden Gate Bridge gegoogelt, lächerlich. Seit wie vielen Jahren hatten er und Deb sich vorgenommen, einmal über die Brücke zu gehen? Mindestens seit Karl bei den Pfadfindern gewesen war, denn damals hätten sie es beinahe getan, der Pfadfinderführer hatte es organisiert. Aber dann hatte Karl Angina bekommen. Also hatte Ron im Internet nachsehen müssen: »Stellen Sie Ihren Wagen auf dem Parkplatz vor der Brücke ab … seien Sie darauf gefasst, dass es kalt und windig ist.« Und das hatte zu der vielleicht absurdesten Aktion der letzten vierundzwanzig Stunden geführt: Er hatte seine Windjacke aus dem Wandschrank geholt, obwohl draußen fünfunddreißig Grad herrschten und die Klimaanlage auf vollen Touren lief, und hatte die Jacke in seinem Auto versteckt, damit Deb sie nicht sah und sich womöglich wunderte. Während er die Jacke unter den Fahrersitz gestopft hatte, war ihm bewusst geworden, dass er bei der Planung der letzten Minuten seines Lebens auf sein körperliches Wohl bedacht war, ein Gedanke, so absurd, dass ihn schwindelte.
Aber jetzt war er froh, dass die Jacke ihn gegen den kalten Wind schützte. Der Schiebergriff am Reißverschluss schlug ihm so heftig gegen das Kinn, dass es wehtat. Immer mehr Autos verlangsamten ihr Tempo, bald würde es einen Verkehrsstau geben. Er fragte sich, ob jemand die Polizei gerufen hatte oder ob sie ihn einfach zufällig entdeckt hatten … irgendwo meinte er gelesen zu haben, dass die Polizei regelmäßig auf der Brücke Patrouille fuhr. Auf der Suche nach Springern. Nach Typen wie ihm.
»Hey, wie geht’s Ihnen?« Der Polizist schirmte seine Augen mit einer Hand gegen die Sonne ab und lächelte Ron freundlich an. Er sah gut aus. Um die vierzig, kantige Züge, ausgeprägter Unterkiefer und so weiter. Auch seine Partnerin war attraktiv, und sie lächelten Ron an, als wären sie alte Freunde.
Das war peinlich. Ron überlegte, ob er so tun konnte, als wäre er einfach nur stehen geblieben, um ein bisschen nachzudenken, als könnte er niemals … aber nein. Schließlich stand er auf der falschen Seite des roten Metallgeländers und klammerte sich an die kalten Stahlkabel. Er hatte diese Stelle ausgewählt, weil sie von der Fahrbahn aus kaum zu sehen war, dann war er hinter einem Pfeiler über das Geländer auf den ein Stück tiefer liegenden Stahlträger gestiegen. Man konnte ihn also eigentlich nur sehen, wenn man wusste, wonach man suchte. Am riskantesten war der Moment gewesen, als er über das Geländer geklettert war, aber obwohl er eine Lücke im Verkehr abgewartet und es erstaunlich schnell geschafft hatte, musste ihn irgendjemand beobachtet haben.
Was für ein dummer Fehler. Er hätte es anders machen sollen … Wenn er Maris schon anrufen musste, wenn er es schon nicht geschafft hatte, seine Gedanken in einem Brief zu formulieren – er hatte sich noch nie schriftlich ausdrücken können, so funktionierte er einfach nicht –, hätte er sie auf dem Weg über die Brücke anrufen sollen, ihr sagen, was er zu sagen hatte, dann über das Geländer klettern und es hinter sich bringen.
Jetzt sah es natürlich so aus, als hätte er gehofft, dass jemand ihn aufhielt. Entsprach das nicht der gängigen Auffassung? Er hatte den Risikofaktor absichtlich eingebaut in der Hoffnung, dass ihn jemand beobachtete und ihm sein Vorhaben ausredete. Und genau das hatte Maris ja getan. Hatte er damit gerechnet? War er tief in seinem Innern feiger, als er geglaubt hatte?
Er hatte schon seit einer Weile mit dem Gedanken gespielt, hatte verschiedene Methoden in Erwägung gezogen und sich schließlich für die Brücke entschieden, vor allem weil damit das Problem des Auffindens seiner Leiche gelöst wäre: Auf keinen Fall würde Deb ihn finden, wenn er sprang, und die Wahrscheinlichkeit war sehr hoch, dass seine Leiche nie geborgen werden würde. Sie konnte sich entscheiden, ob sie ihm ein Denkmal setzen wollte oder nicht. Sie konnte ihn in den Tiefen ihrer Erinnerung versinken lassen, genau wie sein Körper im eiskalten Wasser versinken würde, und ein neues Leben beginnen.
Eine selbstlose Haltung für einen Selbstmörder – wenn er es denn ernst meinte. Aber das tat er nicht. Er war ganz einfach feige. Er war nur hier, weil er eine weitere endlose Diskussion mit Deb darüber, ob ihr Sohn schuldig oder unschuldig war, nicht durchstehen könnte. Der schreckliche Tag vor anderthalb Monaten, an dem das Urteil verkündet wurde – es hatte Ron fertiggemacht, aber gleichzeitig auf seltsame Weise erleichtert. Weil es endlich vorbei gewesen war. Weil sie diesen Gerichtssaal nie wieder würden betreten müssen. Er konnte wieder ins Büro gehen und sich jeden Tag für ein paar Stunden in seiner Arbeit verlieren. Endlich konnte er in seinem Haus wieder atmen, weil Debs verbissene, verzweifelte Hoffnung nicht länger in der Luft lag.
Ein solches Leben war alles andere als perfekt. Es würde nie wieder gut werden. Aber Ron hatte geglaubt, ihre Beziehung hätte sich irgendwie eingependelt und sie hätten endlich zu einer neuen Normalität gefunden. Er hatte sich der Hoffnung hingegeben, dass sie das alles überstehen würden. Und dann war der verdammte Arthur Mehta am vorvergangenen Abend mit seinem lächerlichen Mercedes-Sportwagen – und einer Frau auf dem Beifahrersitz, die nicht seine Frau war – an der North Main auf den Mittelstreifen gebrettert, woraufhin ein Reifen geplatzt und ein Polizist auf ihn aufmerksam geworden war. Da Mehta sich damit die dritte Anzeige wegen Trunkenheit am Steuer eingehandelt hatte (Ron verfluchte sich dafür, dass er das Problem nicht bedacht hatte, als er ihn als Karls Verteidiger angeheuert hatte), hatten die Medien sich wie die Geier auf die Sache gestürzt, und als die Bilder gestern immer und immer wieder in den Nachrichten gezeigt wurden, hatte Deb sich in einen Hoffnungsrausch hineingesteigert. Das ist ein Grund, Berufung einzulegen, hatte sie mit dunklen Rändern unter den Augen gezetert und dabei nervös am Saum ihres Pullovers herumgezupft. Grobes Fehlverhalten. Aber während Ron so tat, als würde er ihr zuhören und ihr zustimmen, dass sie schnell handeln mussten, hatte er nur noch denken können: Das stehe ich nicht noch mal durch.
Gott, wie sollte er dieses Chaos in seinem Kopf in den Griff kriegen? Vor allem, wo diese beiden Polizisten ihn die ganze Zeit so erwartungsvoll ansahen. Und dann das zuckende Blaulicht … musste das sein? Wahrscheinlich hatten sie es aus Sicherheitsgründen eingeschaltet, aber es sorgte nur dafür, dass er noch mehr Aufmerksamkeit auf sich zog. Verdammter Mist.
»Hey.« Seine Stimme wurde vom Wind verschluckt. Er stopfte das Handy in die Jackentasche, das er immer noch in der Hand hielt, hustete und versuchte es noch einmal. »Hey.«
»Tolle Aussicht, was?« Der Polizist lächelte. Esteban – auf dem kleinen, rechteckigen Namensschild an seinem Hemd stand Esteban. Ron musste die Augen gegen das Sonnenlicht zusammenkneifen, um den Namen der Polizistin zu lesen: Dane. Officer Dane wirkte in Anbetracht der Situation wesentlich weniger entspannt als ihr Partner. Es würde ihr nicht schaden, ein paar Seiten in Rons Lieblingsbuch zu lesen, von dem nur Deb wusste, die das Taschenbuch in der ersten, mittellosen Zeit ihrer Ehe in einem Antiquariat entdeckt hatte. Es trug den Titel Sell, Sell, Sell: Die wichtigsten Geheimnisse erfolgreicher Verkaufsgespräche. Ron hatte das Buch studiert, als wäre es die Bibel, und es hatte mehr zu seinem beruflichen Erfolg beigetragen als alle Karriereberater und Strategieseminare und Betriebsweiterbildungen zusammen. Vor ein paar Jahren, vor dem Verkauf der Produktionsfirma für Photovoltaik, die er – eigentlich mehr zum Spaß – gegründet und aufgebaut hatte, war er losgegangen, um sich das Buch noch einmal zu kaufen, aber es wurde längst nicht mehr aufgelegt.
Und jetzt klammerte sich Ron, der wahrscheinlich mehr als jeder andere von diesem längst vergessenen Business-Ratgeber profitiert hatte, von außen ans Geländer der Golden Gate Bridge, Sekunden vom Tod entfernt. Eine Schande eigentlich, dass F. R. MacAuliff (niemals würde Ron den Namen des Autors auf dem Umschlag vergessen oder dessen rundes, grinsendes Gesicht über dem zu eng...