Lispector | Die Passion nach G.H. | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 224 Seiten

Lispector Die Passion nach G.H.

Roman
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-641-32803-0
Verlag: Penguin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 224 Seiten

ISBN: 978-3-641-32803-0
Verlag: Penguin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



'Ein verstörender, intensiver Text, der Kafkas Verwandlung wie eine nette Familiengeschichte aussehen lässt.' DER SPIEGEL
G.H., eine vermögende Bildhauerin aus Rio, betritt das Zimmer ihres schwarzen Dienstmädchens, das ihr gekündigt hat. Der Raum ist überraschend aufgeräumt, nur einige Zeichnungen an der Wand stören die perfekte Ordnung. G.H. fühlt sich provoziert, öffnet den Kleiderschrank des Dienstmädchens und zerquetscht beim Schließen eine Kakerlake. Damit setzt sie eine Reihe von abgründigen, verstörenden Überlegungen über Leben, Tod, Weiblichkeit und Erlösung in Gang, die noch in der Rückschau des folgenden Tages ihre menschliche Existenz ins Wanken bringen.Clarice Lispectors Roman Die Passion

nach G.H. ist eines der aufregendsten, beunruhigendsten Werke der Weltliteratur und gilt als lateinamerikanisches Pendant zu Franz Kafka. Erstmals seit über vierzig Jahren neu übersetzt - durch Luis Ruby, der Lispector kennt wie kaum ein zweiter -, erstrahlt der Roman in ungewohnter Vielschichtigkeit und Radikalität.

Clarice Lispector, geboren 1920 in der Ukraine, gelangte mit ihrer Familie auf der Flucht vor Pogromen in den ländlichen Norden Brasiliens und lebte später in Rio de Janeiro. Aus ärmlichen Verhältnissen stammend, studierte sie Jura und begann eine Karriere als Journalistin. Im Alter von dreiundzwanzig Jahren wurde sie Schriftstellerin. Sie schrieb Romane, Erzählungen, Kinderbücher sowie literarische Kolumnen und wurde für ihr Werk vielfach ausgezeichnet.

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–?–?–?–?–?– ich bin am Suchen, am Suchen. Ich versuche zu verstehen. Versuche, jemandem zu geben, was ich erlebt habe, und weiß nicht, wem, aber ich will nicht behalten, was ich erlebt habe. Ich weiß nicht, was ich aus dem Erlebten machen soll, ich habe Angst vor dieser tiefen Unorganisiertheit. Ich traue dem nicht, was mir geschehen ist. Ist mir etwas geschehen, das ich nicht zu leben wusste und deshalb als etwas anderes gelebt habe? Das würde ich gerne Unorganisiertheit nennen und hätte dabei die Sicherheit, mich vorzuwagen, weil ich wüsste, wohin ich anschließend zurückkehren könnte: zu der Organisiertheit davor. Das nenne ich lieber Unorganisiertheit, denn ich will mich in dem, was ich erlebt habe, nicht bestätigen – in der Bestätigung meiner selbst würde ich die Welt verlieren, wie ich sie hatte, und ich weiß, für eine andere fehlen mir die Mittel.

Sollte ich mich bestätigen und mich als wahr betrachten, bin ich verloren, denn ich wüsste dann nicht, worin ich meine neue Art zu sein einfassen könnte – sollte ich mit meinen bruchstückhaften Visionen fortfahren, so wird die ganze Welt sich ändern müssen, damit ich darin Platz finde.

Ich habe etwas verloren, das für mich essenziell war und das nun nicht mehr ist. Es ist für mich nicht nötig, als hätte ich ein drittes Bein verloren, das mich bis dahin am Gehen hinderte, aus mir jedoch einen stabilen Dreifuß machte. Dieses dritte Bein habe ich verloren. Und wurde wieder zu einem Menschen, der ich nie gewesen bin. Ich bekam wieder, was ich nie gehabt hatte: lediglich zwei Beine. Ich weiß, dass ich nur mit zwei Beinen überhaupt gehen kann. Aber die nutzlose Abwesenheit des dritten fehlt mir und erschreckt mich, gerade dieses machte aus mir etwas, das ich selbst finden konnte, und zwar ohne mich auch nur suchen zu müssen.

Bin ich unorganisiert, weil ich verloren habe, was ich nicht brauchte? In meiner neuen Feigheit – die Feigheit ist das Neueste, was mir je geschehen ist, sie ist mein größtes Abenteuer, meine Feigheit ist ein so weites Feld, dass nur großer Mut mich dazu bringt, sie anzunehmen –, in meiner neuen Feigheit, die so ist, als würde man morgens im Haus eines Fremden erwachen, weiß ich nicht, ob ich den Mut haben werde, einfach so hinzugehen. Es ist schwierig, sich zu verlieren. Es ist so schwierig, dass ich mir wahrscheinlich ganz schnell eine Art ausdenken werde, mich zu finden, selbst wenn mich finden erneut die Lüge wäre, von der ich lebe. Bis jetzt hieß mich finden, schon eine Vorstellung davon zu haben, was eine Person ist, und mich darin einzufassen: In dieser organisierten Person wurde ich Fleisch und spürte nichts von der großen Mühe beim Bauen, die Leben war. Meine Vorstellung davon, was eine Person ist, stammte von meinem dritten Bein, demjenigen, das mich im Boden verwurzelte. Ja, und jetzt? bin ich künftig freier?

Nein. Ich weiß, dass ich in diesem Moment noch nicht frei fühlen kann, dass ich schon wieder denke, weil mein Ziel ist zu finden – und dass ich zur Sicherheit genau dann von Finden sprechen werde, wenn ich auf eine Art Ausgang stoße. Warum habe ich nicht den Mut, lediglich eine Art Eingang zu finden? Oh, ich bin eingetreten, ich weiß schon. Aber dann bin ich erschrocken, weil ich nicht weiß, wohin dieser Eingang führt. Und nie zuvor hatte ich mich mitreißen lassen, wenn ich nicht wusste, wohin.

Doch gestern ging mir über Stunden und Stunden mein menschliches Gefüge verloren. Wenn ich den Mut dazu habe, werde ich zulassen, dass ich verloren bleibe. Aber ich habe Angst vor dem, was neu ist, und ich habe Angst zu leben, was ich nicht verstehe – ich will stets die Sicherheit, wenigstens zu denken, dass ich verstehe, ich bin nicht fähig, mich der Orientierungslosigkeit hinzugeben. Wie erklärt sich bloß, dass meine größte Angst genau dazu in Beziehung steht: zu sein? und doch gibt es keinen anderen Weg. Wie erklärt sich, dass meine größte Angst gerade die ist, das Leben hinzuleben, wie es sich ergibt? wie erklärt sich bloß, dass ich es nicht ertrage, zu sehen, nur weil das Leben nicht ist, was ich dachte, sondern ein anderes – als hätte ich vorher gewusst, was es war! Warum bloß ist Sehen so unorganisiert?

Und eine Enttäuschung. Aber Enttäuschung wovon? wenn ich doch, ohne auch nur zu fühlen, meine gerade aufgebaute Ordnung wohl kaum ertrug? Vielleicht ist Enttäuschung ja die Angst, keinem System mehr anzugehören. Allerdings sollte man so sagen: Er ist gerade sehr glücklich, weil er endlich enttäuscht wurde. Was ich vorher war, das war nicht gut für mich. Doch eben von diesem Nicht-Gut aus hatte ich das Beste organisiert: die Hoffnung. Aus meinem eigenen Übel hatte ich ein Gut für später geschaffen. Ist die Angst jetzt, dass meine neue Art keinen Sinn ergeben könnte? Aber warum lasse ich mich nicht von dem leiten, was geschehen mag? Ich werde das heilige Risiko des Zufalls auf mich nehmen müssen. Und das Schicksal ersetzen durch die Wahrscheinlichkeit.

Doch in der Kindheit, waren da die Entdeckungen wohl wie in einem Labor, in dem man findet, was immer man findet? Habe ich dann als Erwachsener Angst bekommen und mir das dritte Bein wachsen lassen? Aber ob ich als Erwachsener den kindlichen Mut haben werde, mich zu verlieren? sich verlieren bedeutet, fortlaufend zu finden und keine Ahnung zu haben, was man aus dem machen soll, das man findet. Zwei Beine, die gehen, nun ohne das dritte, das festhält. Und ich will festgehalten werden. Ich weiß nicht, was ich mit der furchteinflößenden Freiheit anfangen soll, die mich zerstören kann. Aber solange ich festgehalten wurde, war ich da froh? oder gab es, und gab es dieses Listige und Unruhige in meiner glücklichen Routine als Gefangene? oder es gab, und es gab dieses Pochende, und ich war schon so daran gewöhnt, dass ich dachte, das Pochen heiße, eine Person zu sein. Ist das so? auch, auch.

Ich bekomme ja einen solchen Schreck, wenn ich merke, dass ich über Stunden meine menschliche Ausbildung verloren habe. Ich weiß nicht, ob ich eine andere bekommen werde, um die verlorene zu ersetzen. Ich weiß, ich werde aufpassen müssen, um nicht klammheimlich ein neues drittes Bein zu verwenden, das bei mir so leicht nachwächst wie Gras, und dieses schützende Bein dann als »Wahrheit« zu bezeichnen.

Aber ich weiß eben auch nicht, welche Form ich dem geben soll, was mir geschehen ist. Und ohne eine Form zu geben, existiert für mich nichts. Und – und wenn die Wirklichkeit tatsächlich ist, dass nichts existiert hat?! wer weiß, ob mir gar nichts geschehen ist? Ich kann nur begreifen, was mir geschieht, aber es geschieht nur, was ich begreife – was weiß ich über den Rest? der Rest hat nicht existiert. Womöglich hat gar nichts existiert! Womöglich ist mir nur eines geschehen, eine langsame und große Auflösung? Und mein Kampf gegen diese Zergliederung ist nun der: zu versuchen, ihr jetzt eine Form zu geben? Eine Form umreißt das Chaos, eine Form gibt der gestaltlosen Substanz einen Aufbau – die Vision endlosen Fleisches ist die Vision der Wahnsinnigen, aber wenn ich das Fleisch in Stücke schneide und sie auf die Tage und Hungerzeiten verteile – dann ist es schließlich nicht mehr Verlust und Wahnsinn: Dann ist es am Ende wieder das vermenschlichte Leben.

Das vermenschlichte Leben. Ich hatte das Leben zu sehr vermenschlicht.

Aber wie gehe ich jetzt weiter vor? Muss ich die ganze Vision behalten, selbst wenn das bedeuten sollte, eine Wahrheit zu haben, die unbegreiflich ist? oder gebe ich dem Nichts eine Form, und das wird dann meine Art, die eigene Zergliederung einzugliedern? Aber ich bin so wenig darauf vorbereitet, zu verstehen. Sooft ich es früher versucht habe, verschafften mir meine Grenzen ein körperliches Unbehagen, bei mir prallt jeder Ansatz eines Gedankens sogleich gegen die Stirn. Schon früh war ich gezwungen, klaglos zu erkennen, dass meine geringe Intelligenz gegen Hindernisse prallte, und da machte ich auf dem Weg kehrt. Ich wusste, dass mir vorherbestimmt war, wenig zu denken, und wenn ich den Verstand gebrauchte, zwängte mich das in meine Haut. Wie also soll ich jetzt in mir das Denken eröffnen? und dabei würde mich vielleicht nur das Denken retten, ich habe Angst vor der Passion.

Da ich den morgigen Tag retten muss, da ich eine Form haben muss, weil ich nicht die Kraft spüre, unorganisiert zu bleiben, da ich unweigerlich darauf angewiesen sein werde, das monströse Fleisch in seiner Endlosigkeit zu erfassen und es in Stücke zu schneiden, die das Maß meines Mundes und das Maß des Blicks meiner Augen in sich aufzunehmen vermögen, da ich mich unweigerlich dem Bedürfnis nach Form fügen werde, das sich aus meiner Furcht speist, ohne Grenzen zu sein – wünsche ich mir wenigstens den Mut, zuzulassen, dass sich diese Form von alleine formt wie eine Kruste, die aus sich selbst heraus hart wird, der kosmische Nebel aus Feuer, das auf der Erde auskühlt. Und ich wünsche mir den großen Mut, der Versuchung zu widerstehen, eine Form zu erfinden.

Die Anstrengung, die ich gleich unternehmen werde, um einen Sinn an die Oberfläche steigen zu lassen, welchen Sinn auch immer, diese Anstrengung würde erleichtert, wenn ich mir vorstellte, jemandem zu schreiben.

Aber ich zögere, etwas so in Worte zu fassen, dass mich dieser imaginäre Jemand verstehen kann, zögere mit dem Versuch, einen Sinn »herzustellen«, mit derselben zahmen Verrücktheit, die noch bis gestern meine gesunde Art war, in ein System zu passen. Werde ich den Mut haben müssen, ein ungeschütztes Herz zu benutzen und fortlaufend ins Nichts und zum Niemand zu sprechen? so wie ein Kind ins Nichts denkt. Und das Risiko eingehen, vom...


Lispector, Clarice
Clarice Lispector, geboren 1920 in der Ukraine, gelangte mit ihrer Familie auf der Flucht vor Pogromen in den ländlichen Norden Brasiliens und lebte später in Rio de Janeiro. Aus ärmlichen Verhältnissen stammend, studierte sie Jura und begann eine Karriere als Journalistin. Im Alter von dreiundzwanzig Jahren wurde sie Schriftstellerin. Sie schrieb Romane, Erzählungen, Kinderbücher sowie literarische Kolumnen und wurde für ihr Werk vielfach ausgezeichnet.

Ruby, Luis
Luis Ruby, 1970 in München geboren, übersetzt neben Clarice Lispector Autoren wie Hernán Ronsino, Isaac Rosa und Niccolò Ammaniti. Er wurde für seine Arbeit u.a. mit dem Bayerischen Kunstförderpreis und dem Münchner Literaturstipendium ausgezeichnet.



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