E-Book, Deutsch, 413 Seiten
Link Der Spiegel der Kaiserin
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-95824-006-3
Verlag: dotbooks
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Roman
E-Book, Deutsch, 413 Seiten
ISBN: 978-3-95824-006-3
Verlag: dotbooks
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Michaela Link, geboren 1963, studierte Sinologie. Anschließend arbeitete sie als Übersetzerin und übertrug etliche literarische Texte aus dem Chinesischen ins Deutsche. Ihre umfangreichen Kenntnisse des Landes China, seiner Menschen und seiner Geschichte verdankt sie ihrer mehrjährigen Tätigkeit als Reiseleiterin in Ostasien. Heute lebt die Autorin mit ihrer Familie in Norddeutschland und übersetzt Unterhaltungsliteratur aus dem Englischen. Bei dotbooks erscheint von Michaela Link außerdem »Der Spiegel der Kaiserin«.
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Kapitel 2
Wir beten zum Himmel und flehen zu Buddha, sich unser zu erbarmen und das Land vor einer Hungersnot zu bewahren. Wir opfern dem Himmel …«
Mechanisch sprach die alte Kaiserin die Worte, die ihr so vertraut waren. In dem kleinen Tempel, in dem die heilige Zeremonie Jin Dan stattfand, war die Luft zum Schneiden dick, und die Dämpfe der Sandelholzstäbchen, die in mehreren Räuchergefäßen verbrannt wurden, versetzte sie in eine seltsam losgelöste Stimmung. Sie kniete vor allen anderen in der ersten Reihe auf einem Kissen. Hinter ihr kniete die junge Kaiserin mit den kaiserlichen Konkubinen, dann kamen die Hofdamen, dicht an dicht in einer Reihe.
»… wir beten zum Himmel um Regen …«
Regen … Das Wort summte durch den Tempel, bis es von den glückbringenden Weidenzweigen verschluckt zu werden schien, die in großen Porzellanvasen an den Seiten standen. Regen … Regen … Das Wort war eine Beschwörung der Götter, deren Hilfe und Beistand sie erflehten. Und obwohl Guniang äußerlich mit großem Ernst ihrer Pflicht nachkam, schweiften ihre Gedanken immer wieder ab. Es erschien ihr so sinnlos, dieses Gebet um Regen. Das Land brauchte viel mehr als Regen, wenn das Reich der Mitte, wie sie es kannte und liebte, bestehen bleiben sollte. Es war das Jahr 1908 nach der westlichen Zeitrechnung. China war ein Land auf Messers Schneide, ein in die Enge getriebener Drache, und seine Feinde lauerten nicht nur außerhalb der Grenzen, sondern auch innerhalb, wie es immer gewesen war … Fast viertausend Jahre Tradition ließen sich nicht so leicht abschütteln.
Aber die Traditionen waren morsch und brüchig geworden, das sah jeder in der Verbotenen Stadt, der noch des Sehens fähig war. Das staatliche Prüfungssystem, das das Land über Jahrhunderte hinweg mit Beamten versorgt hatte, war zusammengebrochen und schließlich ganz und gar abgeschafft worden. Die Schatzkammer enthielt kaum noch etwas, das des Stehlens lohnte – dafür hatten die Eunuchen gesorgt, die wie zu allen Zeiten großen, manchmal segensreichen, manchmal unheilvollen Einfluss auf die Geschicke Chinas hatten. Außerdem fehlten fähige Männer, die die Last der Administration hätten schultern können. Armee und Marine waren schlecht ausgerüstet und den Streitmächten der europäischen Mächte hoffnungslos unterlegen. In vielen Provinzen hatten Aufstände dazu geführt, dass dort jetzt praktisch Anarchie herrschte. Die alte Rivalität zwischen Mandschuren und Chinesen erreichte neue, gefährliche Ausmaße, aber schlimmer noch waren vielleicht die erbitterten Kämpfe zwischen konservativen Kräften, die um jeden Preis an den Traditionen festzuhalten gedachten, und Reformern, die China und sein riesiges Volk – vierhundert Millionen Menschen – mit Gewalt in ein modernes Zeitalter zerren wollten. Guniang verstand manche der Reformer besser, als sie es je zu erkennen geben würde, aber anders als die jungen Rebellen und Hitzköpfe wusste sie, wie behutsam wirklich große Veränderungen angefasst werden mussten. Feuer und Kanonen waren keine Lösung für den sterbenden Drachen.
Bei alledem waren die Ausländer, die »weißen Teufel«, keine Hilfe; ein verlorener Krieg und harte Bedingungen für einen instabilen Frieden taten ein Übriges. Viele Menschen im Land glaubten, die Schuld an der chinesischen Misere sei einzig bei den Ausländern zu suchen. Auch Guniang selbst neigte bisweilen dazu, die Ohnmacht ihres Landes den fremden Eindringlingen anzulasten, obwohl sie es tief im Herzen besser wusste.
»Wir flehen zum Buddha des Westens um Regen, wir flehen zum Buddha des Nordens …« Ihre Knie taten weh, und das Kniekissen schien von Sekunde zu Sekunde dünner zu werden. Geschickt verlagerte sie ihr Gewicht von der einen Seite auf die andere, so dass die jüngeren Frauen hinter ihr nach wie vor den Eindruck haben mussten, als kniete sie so aufrecht und sicher wie zuvor.
Aber sie war zweiundsiebzig Jahre alt, und seit ihrem letzten Schlaganfall waren Müdigkeit und Schwäche ihr steter Gefährte. Auch das rechte Bein gehorchte ihr nicht mehr so wie früher. Das Knien war eine Mühsal, aber der Gedanke, sich Erleichterung zu verschaffen, kam ihr nicht. Auch die Frage nach dem Sinn dieser Verrichtung gestattete sie sich nicht. Denn sie war die Einzige, die überhaupt etwas tun konnte. Ihr Neffe Guangxu, der als Kaiser auf dem Drachenthron saß, war von Anfang an zu schwach und zu unsicher gewesen, um sein Amt wirklich ausfüllen zu können. Sie war die erste Dienerin ihres Landes, und so lange sie atmete, würde sie tun, was notwendig war.
»Wir beten zum Himmel und flehen zu Buddha … wir opfern dem Himmel …«
Sandelholz und Weihrauch schwängerten die Luft, der monotone Gesang machte schläfrig, und nur flackernde Kerzen erhellten den Tempel. Guniangs Gedanken schweiften ab. Mit einer kurzen Unterbrechung hatte sie als Regentin alle Entscheidungen für den Kaiser getroffen – zuerst für ihren Sohn, später für ihren Neffen. Ihr ganzes Leben hatte China gehört, seit sie vor so vielen Jahren an den kaiserlichen Hof gekommen war. Nein, nicht ihr ganzes Leben. Eine kurze Zeit hatte es gegeben, in der das anders gewesen war.
»Wir beten zu den Ahnen …«
Sechzehn Jahre alt war sie gewesen, als sie als Konkubine fünften Ranges in den Palast gekommen war, zwanzig Jahre, als der Kaiser, ihr Gemahl, sie das erste Mal gesehen hatte. Vom vierten bis zum siebten Monat dieses Jahres – es war das erste Jahr seiner Regentschaft gewesen – hatte der Sohn des Himmels dann ihr gehört.
»… um die lebensspendenden Gaben der Götter …«
Sie mochte erbärmlich kurz scheinen, diese Zeitspanne. Aber in jenen vier Monaten hatte ihr Gemahl ihr gehört, ihr allein.
Danach nie wieder.
Vier Monate. Hundertzwanzig Tage. Etwa tausend Stunden, vielleicht nicht einmal das. War das viel? War das wenig? Welchen Preis war eine Frau für tausend solcher Stunden zu zahlen bereit? Ab wann war der Preis zu hoch? War er jemals zu hoch? Wieder verspürte Guniang diese verzehrende Sehnsucht nach der einzigen Frau, die ihr je eine Freundin gewesen war, nach Malu. Denn Malu, die so klug gewesen war und trotz ihres ungestümen Wesens ein so zärtliches Herz besessen hatte, Malu hätte es ihr sagen können.
»Bei Buddha und bei den Zehntausend Unsterblichen flehen wir …«
Malu, die ebenfalls den falschen Mann geliebt hatte und die an ihrer Liebe zugrunde gegangen war. Hastig drängte Guniang den Gedanken an die seit langem verstorbene Freundin beiseite, denn wie immer waren sein Gefolge Schmerz – und ein nagendes Gefühl der Schuld, das mit den Jahren nicht leichter geworden, sondern zu einer unerträglichen Last herangewachsen war.
»… um Labsal für unsere Felder, Nahrung für Tier und Pflanze.«
Eine Stimme im Chor der Frauen hinter ihr hob sich dunkel und voll gegen die anderen ab, eine Stimme, die Guniang so gut kannte, weil sie sie seit vielen Jahren immer wieder in ihren Träumen hörte. Es war Malus Stimme, die genauso jung und kraftvoll klang wie damals, bevor das Leben ihr das Herz gebrochen hatte.
Die junge Frau trat leichten Schrittes vor, griff nach dem Pinsel und tauchte ihn in den Zinnober. Das Gebet war beendet, aber Guniang erhob sich noch immer nicht von ihrem Kniekissen, sondern beobachtete mit undeutbarer Miene jede Bewegung ihrer jüngsten Hofdame.
Die Eunuchen, die im Halbdunkel an den Wänden standen und weiter Weihrauchfässer und große Fächer schwenkten, beobachteten ihrerseits die Kaiserin. Auch ihre Mienen verrieten nichts, aber ihre Meinungen waren geteilt. Die einen bedauerten das junge Mädchen, das sich Li entgegengestellt hatte, die anderen brannten bereits vor Ungeduld, endlich aus dem Tempel zu kommen. Jeder wollte der Erste sein, der seinem Herrn die Nachricht überbrachte, dass die unverschämte junge Person auch noch auf solche Weise von der Kaiserin ausgezeichnet worden war.
Es würde ein Fest in ihrem harten, freudlosen Leben sein, das Gesicht des Obereunuchen zu beobachten, wenn er von der Ehre erfuhr, mit der die Kaiserin Anli bedacht hatte.
Sie mochten zwar alle vor Li im Staub kriechen, aber sie liebten ihn deswegen noch lange nicht.
***
Bolo sah sich im Zimmer seiner neuen Herrin um, und er wusste sofort, dass sie mit dessen Ausstattung nichts zu tun gehabt hatte. Es war zu viel Rot in diesem Raum: rote Atlaskissen auf dem Ebenholzsofa, rote Zierdeckchen auf den steifen, unbequemen Stühlen, rotseidene Gardinen vor den beiden Flügelfenstern, und selbst der Kang, das hohe, aus Ziegelsteinen gemauerte Bett, das er im Winter würde heizen müssen, war mit roten Vorhängen behängt.
Er lächelte, ohne es zu wissen.
Die junge Frau, die ihn wie einer der fahrenden Ritter des Mittelalters mit buddhistischer Weisheit statt eines gezückten Schwerts vor Li gerettet hatte, war kein Mensch, der sich freiwillig mit so viel schwülem Rot umgeben würde.
Bolo dachte an die Farben seiner Kindheit zurück, und seine Gesichtsmuskeln verkrampften sich. Seine Mutter hatte weiche Pastelltöne geliebt, wie sie auch Prinzessin Anli lieben musste – schimmerndes Rosa, lichtes Blau und sanftes Milchweiß.
Bolo schloss die Augen und gönnte sich einen Moment der Erinnerung, etwas, das er sich sonst streng versagte, seit der »Messerstecher« ihm die Aderpresse umgelegt hatte. Wenn er weiterleben wollte, durfte er nicht daran denken, was er einmal besessen hatte.
In der Zeit der duftigen, mit Blumen und Vögeln bemalten Seidenkissen war sein Vater ein gefragter Glasbläser gewesen. Seine Mutter, die von beiden die reichere...