E-Book, Deutsch, 537 Seiten
Link Der goldene Knabe
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-95520-859-2
Verlag: dotbooks
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Roman
E-Book, Deutsch, 537 Seiten
ISBN: 978-3-95520-859-2
Verlag: dotbooks
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Michaela Link, geboren 1963, studierte Sinologie. Anschließend arbeitete sie als Übersetzerin und übertrug etliche literarische Texte aus dem Chinesischen ins Deutsche. Ihre umfangreichen Kenntnisse des Landes China, seiner Menschen und seiner Geschichte verdankt sie ihrer mehrjährigen Tätigkeit als Reiseleiterin in Ostasien. Heute lebt die Autorin mit ihrer Familie in Norddeutschland und übersetzt Unterhaltungsliteratur aus dem Englischen. Bei dotbooks erscheint von Michaela Link außerdem »Der Spiegel der Kaiserin«.
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Kapitel 1
Fünfter Monat desselben Jahres, zwanzig Tagesritte nördlich der Großen Mauer, in der mongolischen Steppe
Sie war keine Fürstin und nie mit den Insignien der Macht über ihren Stand erhoben worden, und doch herrschte sie seit Jahrzehnten schon über ihren Stamm. Sie, die nicht einmal dem Fürstengeschlecht entstammte, bestimmte die Wege, die ihr Volk nahm. Sie entschied, welche Frauen an andere Stämme verheiratet wurden, welche Namen die neugeborenen Kinder erhielten, wessen Herden die üppigsten Weideplätze zugewiesen wurden. Nichts geschah ohne ihre Billigung, nichts ohne ihr Wissen. Mit Stolz blickte sie auf ihre Schar. Dem Stamm ging es besser als allen anderen, er brachte die kühnsten Krieger, die verwegensten Reiter hervor – und die mächtigsten Schamanen.
Wer Bajan Adraga sah, verspürte unwillkürlich Ehrfurcht. Trotz ihres hohen Alters war ihr Haar noch immer so schwarz wie das Fell der weidenden Rinder und ihre Haut von der kühlen Glätte feinen Porzellans – als hätten die Jahrzehnte sie nur gestreift. Das breite, kraftvolle Gesicht wurde von nephritdunklen Augen beherrscht, die heute wie vor sechzig Jahren glänzten und voller Leben waren, erfüllt von einem Hunger, der an Gier grenzte.
Der kleine, stämmige Mann, der atemlos und noch staubig von seinem langen Ritt in ihre Jurte getreten war, blickte unterwürfig zu ihr auf. »Jawohl, Herrin, sie sind tot«, wiederholte er seinen Bericht.
Bajan Adraga wandte sich ab. Sie selbst hatte die Reiter nach Süden geschickt, um den Jungen zu töten, von dessen Existenz sie im vergangenen Herbst während einer tiefen Trance erfahren hatte. Er bedeutete eine Gefahr für ihr ganzes Volk, eine Gefahr, gegen die sie schon lange vor seiner Geburt zu kämpfen begonnen hatte.
Ihre scheinbare Geistesabwesenheit, während sie eines der beiden Lämmer fütterte, die sie in einem Bretterverschlag neben dem Eingang großzog, beunruhigte den Boten.
»Bist du sicher? Ganz sicher?«, fragte sie endlich, ohne ihn anzusehen.
»Das Feuer hat alle im Kloster verschlungen. Und die wenigen, die entkamen, wurden draußen erschlagen.«
»Sie sind alle tot?«
»Alle.«
»Der Knabe … der Goldene Knabe?«
»Tot.«
»Dann ist es gut. Gut.«
Die alte Schamanin holte aus einer Truhe ein Säckchen mit Silbermünzen, gab dem Fremden den Beutel und wandte sich ab. Der, der ihr die ersehnte Nachricht überbracht hatte, schien vergessen zu sein, bedeutungslos wie seine Mission, die dem Gestern angehörte und das Heute nur noch flüchtig berührte. Es war endlich vorbei, musste vorbei sein. Eine alte Schuld war beglichen, eine große Gefahr für ihr Volk und sein Fortbestehen abgewendet.
Bajan Adraga richtete ihren Blick entschlossen auf das Morgen.
***
Sarantuja, das zehnjährige Mädchen, das auf der Ostseite der Jurte schlief, wo für gewöhnlich das Bett der Hausfrau stand, fand in dieser Nacht lange keine Ruhe. Die Filzmatte, mit der ihre dünne Strohschütte belegt war, verrutschte immer mehr, bis ihr jeder einzelne Halm ins Fleisch stach.
»Jetzt habe ich zwölf Brüder und fünfzehn Schwestern!«
Diese Worte, die Muochin an diesem Morgen gedankenlos und ohne Bosheit gesprochen hatte, stachen noch schärfer als das Stroh.
»Möchtest du sie mal halten?«, hatte ihre Freundin gefragt und ihr erwartungsvoll den Säugling hingestreckt, die erst vor wenigen Tagen geborene Tochter einer ihrer Tanten.
»Sie ist nicht deine Schwester, nur deine Kusine!« Sarantuja verschränkte die Arme auf dem Rücken, und ihre Fingernägel bohrten sich so tief in die weiche Haut ihrer Hände, dass es weh tat.
Muochin hatte sie nur verständnislos angesehen. »Was macht das denn für einen Unterschied?«
Sarantuja wusste natürlich, dass Muochin Recht hatte. Der Vater der Kleinen war der Bruder ihrer Mutter, und die Bande des Blutes machten dieses Kind nach Gesetz und Sitte zu ihrer Schwester; genau so wie alle anderen Kinder ihrer Onkel und Tanten ihre Brüder und Schwestern waren.
»Möchtest du sie nun halten oder nicht?«
Sarantuja hatte nur mit einem verächtlichen Achselzucken ihren Hund zu sich gerufen und war zu ihrer Stute gelaufen, um wie der Wind davonzureiten.
Zwölf Brüder und fünfzehn Schwestern …
Wozu brauchte der Mensch zwölf Brüder und fünfzehn Schwestern, dachte sie trotzig und wischte sich voller Ärger über ihre eigene Torheit die Tränen ab.
Das leise Blöken eines Lammes in dem kleinen Verschlag auf der Männerseite der Jurte lenkte sie einen Augenblick lang ab, aber dann sah sie, dass Bajan Adraga sich bereits erhoben hatte, um dem zu früh geborenen Tier ein wenig Milch einzuflößen.
Das Lamm konnte kaum mehr als ein paar Schlucke getrunken haben, als der große, gescheckte Hund, der neben Sarantuja lag, plötzlich den Kopf hob und wachsam die Ohren aufstellte.
Jemand hatte an die Tür gepocht, was ihr zu dieser späten Nachtstunde recht ungewöhnlich erschien. Es war das rhythmische, kurze Klopfen, mit dem Enebisch, Bajan Adragas Diener, für gewöhnlich fremden Besuch ankündigte. Sarantuja hatte in den fünf Jahren, die sie jetzt bei ihrer Meisterin lebte, dieses Klopfen oft genug gehört. Tagsüber schickte Bajan Adraga sie in solchen Fällen unverzüglich aus der Jurte, aber des Nachts hatte sie für gewöhnlich einen so tiefen Schlaf, dass sie von derartigen Besuchen – wenn überhaupt – erst am nächsten Morgen erfuhr.
Die hölzerne, in das Rutengeflecht des Gerüstes eingelassene Tür wurde beinahe lautlos geöffnet und wieder geschlossen.
Der Hund neben ihr reckte sich kurz, scharrte ein paar Mal im Stroh und ließ sich wieder darin nieder. Er war es zufrieden, dass der späte Gast freundlich aufgenommen worden war und kein Eingreifen von ihm erwartet wurde. Es dauerte nicht lange, und seine tiefen, gleichmäßigen Atemzüge verrieten, dass er wieder schlief. Sarantuja dagegen fiel es in dieser Nacht schwer, es ihm gleichzutun.
Ein Mann, dessen Stimme sie nicht kannte, begrüßte ihre Meisterin. Er klang atemlos und gehetzt, als hätte er einen scharfen Ritt hinter sich gebracht und sich auch im Ail keine Pause gegönnt, bevor er Bajan Adraga aufsuchte.
Während ihre Meisterin auf der anderen Seite des Feuers, der Männerseite, leise mit dem Fremden sprach – einem Boten vielleicht, mit einer Nachricht, die keinen Aufschub duldete? –, drehte Sarantuja sich auf den Bauch, vergrub den Kopf in den Armen und wünschte sich sehnlichst, endlich einschlafen zu können.
Aber Muochin mit ihrer unschuldigen Freude über ihre neue Schwester hatte am Morgen wieder an all die Dinge gerührt, die Sarantuja seit Jahren quälten. Wer war sie, wer waren ihre Eltern, wo waren ihre Brüder und Schwestern?
Das Lämmchen, das mit seiner mageren Fütterung offensichtlich nicht zufrieden war, begann von Neuem zu schreien, und nun fiel auch das zweite der neben der Tür untergebrachten Tiere mit in das klägliche Blöken ein.
Gerade fünf Sommer hatte sie damals gezählt, als sie zu diesem Stamm gebracht worden war. Fremde Reiter, deren Namen sie nicht kannte und an deren Gesichter sie sich nicht mehr erinnern konnte, hatten sie zu Bajan Adragas Jurte geführt, dem Ziel einer Reise, von der sie nur noch wusste, dass sie lang und kalt gewesen war. Und dann hatten die Männer sie Bajan Adraga übergeben und waren wieder davongeritten. Wohin, wusste sie nicht.
Alles, was vor diesem Augenblick lag, war in Vergessen getaucht, obwohl kaum ein Tag verging, an dem sie nicht versucht hätte, das quälende Rätsel zu lösen, warum sie als einzige im ganzen Ail keinen Menschen hatte, der zu ihr gehörte. Sie hatte nur Cuder, ihren Hund, dessen Name Schatten bedeutete und der ihr wie ein solcher folgte, wohin sie auch ging.
Die einzige im Lager, die ihr vielleicht hätte Antwort auf ihre Fragen geben können, war ihre Meisterin. Doch Bajan Adraga hatte auf all ihre zaghaften Vorstöße immer nur mit dem ihr eigenen Schweigen reagiert, das alle Fragen ins Leere laufen ließ. Und schließlich hatte sie aufgehört, Fragen zu stellen.
»Bist du sicher?« Sie konnte ihre Meisterin plötzlich ganz deutlich hören. »Ganz sicher?«
Bajan Adragas Stimme kam jetzt von dem Verschlag an der Tür, wo die beiden kleinen Lämmer mittlerweile einen solchen Lärm machten, dass es durch das halbe Lager zu hören sein musste. Erst mit einer weiteren Schale Milch konnte sie die Lämmer beruhigen.
»Das Feuer hat alle im Kloster verschlungen.« Auch die Stimme des Fremden war nun besser zu verstehen. Aber sein Bericht interessierte Sarantuja nicht. Sie hoffte nur, dass er endlich ging, damit sie vielleicht doch noch etwas Schlaf fand.
»Die wenigen, die entkamen«, hörte sie ihn mit unterwürfigem Tonfall schließlich fortfahren, »wurden draußen erschlagen.«
»Sie sind alle tot?« Der drängende Unterton in Bajan Adragas Stimme erstaunte Sarantuja. Der Tod war nichts Ungewöhnliches in diesen Jahren, da Kubilai Khan, ein Enkelsohn des großen Dschingis Khan, das südliche Reich der Chinesen eroberte und die Landesfürsten sich untereinander immer noch blutige Schlachten lieferten, um die Macht und den Reichtum des großen Dschingis Khan für sich zu gewinnen.
»Alle«, bekräftigte der Fremde mit Entschiedenheit. Und doch war, trotz der Festigkeit, die er seiner Stimme zu geben versuchte, seine Angst vor Bajan Adraga offenkundig. Sarantuja meinte, die Furcht quer durch die Jurte riechen zu können – trotz der vielen anderen Gerüche, die miteinander wetteiferten: von Schafsdung, heruntergebrannter Asche, Talg, getrocknetem Fleisch und Käse. Aber die Angst hatte, fand sie, stets einen ganz eigenen Geruch.
»Der Knabe … der...