Lindner | Walks on the Wild Side | Buch | 978-3-593-37500-7 | sack.de

Buch, Deutsch, 240 Seiten, Format (B × H): 150 mm x 211 mm, Gewicht: 329 g

Lindner

Walks on the Wild Side

Eine Geschichte der Stadtforschung
1. Auflage 2004
ISBN: 978-3-593-37500-7
Verlag: Campus Verlag GmbH

Eine Geschichte der Stadtforschung

Buch, Deutsch, 240 Seiten, Format (B × H): 150 mm x 211 mm, Gewicht: 329 g

ISBN: 978-3-593-37500-7
Verlag: Campus Verlag GmbH


Die Stadt, der "dunkle Kontinent"

Die Geschichte der Stadtforschung ist eine Geschichte der Erforschung "anderer Räume", der Quartiere der Armen, der Außenseiter. Entlang methodisch wie analytisch bahnbrechender Studien - von Henry Mayhews Großwerk über die Londoner Armen bis hin zum Projekt des Bourdieu-Schülers Loïc Wacquant, der das professionelle Boxen lernte, um die Chicagoer South-Side zu erkunden - lässt Rolf Lindner die Geschichte der Stadtforschung seit dem 19. Jahrhundert Revue passieren. Er führt in Themen und Methoden der Stadt-Ethnografie ein und berichtet auch von den Motiven und Obsessionen der Forscher, die es immer wieder in die unheimlichen Teile der Stadt gezogen hat.

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Danksagung

Einleitung

1. Die Stadt als Brutstätte von Krankheiten und Laster

2. Henry Mayhew - Pionier der Stadtethnographie

3. Charles Booth - Entrepreneur des Social Survey

4. Berlin O 17, Fruchtstraße: Ein unbekanntes Kapitel in der Geschichte der Stadtforschung

5. Die Entdeckung der Stadtkultur: Die Chicagoer Schule der Stadtethnographie

6. Urban Village: Vom Slum zur Community

7. Black Ghetto: Zur Ethnographie innerstädtischer Apartheid
Die Wiederkehr des Ethnographen: Ein Ausblick

Anmerkungen

Literatur


Die Großstadt des 19. Jahrhunderts erscheint jenen, die sich als erste der Stadtforschung zuwenden, als eine immense terra incognita, als ein unbekanntes Land, das es zu erkunden gilt. "Auf dem Lande", schreibt Charles Booth, einer der Pioniere der Stadtforschung, "liegt das Gewebe des menschlichen Lebens offen zutage; persönliche Beziehungen binden das Ganze zusammen. Das Gleichgewicht, auf dem die bestehende Ordnung beruht, ist, ob zufriedenstellend oder nicht, eindeutig und offensichtlich. Ganz anders sieht es in den Großstädten aus, wo wir, was diese Fragen angeht, in Dunkelheit leben, mit zweifelnden Herzen und aus Unkenntnis sich ergebenden unnötigen Ängsten." (Booth 1889, S. 1) Charles Booth (1840-1916), Reeder und Reformer, war Initiator und Leiter eines der gewaltigsten Unternehmen in der Geschichte der Stadtforschung, Life and Labour of the People in London, eine 17-bändige Studie über Armut in London. Booth, der als "geborener Geschäftsmann" beschrieben wird, scheint der Idealtypus des viktorianischen Bürgers gewesen zu sein, dessen methodische Lebensführung der Sozialforscherin und Booth-Mitarbeiterin Beatrice Webb zufolge so ausgeprägt war, dass man darin gleichsam eine Verkörperung der Protestantischen Ethik sehen konnte: "Gewissen, Vernunft und Neigung zur Pflicht sind seine großen Qualitäten; andere Eigenschaften kann man an ihm gar nicht entdecken, wenn man nicht sehr eng befreundet ist." (Webb 1988, S. 264) Seine ausgesprochen starke empirische Orientierung verdankte sich keiner akademischen Ausbildung, sondern den Erfahrungen aus dem Geschäftsleben, als Reeder und Großkaufmann, der schon früh so etwas wie eine Trendanalyse entwarf. Die Orientierung an Zahlen und Tatsachen übertrug er auf seine Untersuchungstätigkeit, die er angeblich hauptsächlich abends und nachts, nach Geschäftsschluss, durchführte. Dabei entwickelte er ein Verständnis von Sozialforschung als Mittel der rationalen, auf Fakten beruhenden Erschließung der Wirklichkeit zur Optimierung sozialpolitischer Eingriffe. London wird in der Viktorianischen Zeit zu einem "demographischen Koloss " (David Green), ein "Viktorianisches Babylon" (Lynda Nead), eine "Monster Metropole" (Henry Mayhew), mit der sich keine andere Stadt messen kann; selbst Paris, für Walter Benjamin "Hauptstadt des 19. Jahrhunderts", ist nur halb so groß. Von hier nimmt die Stadtforschung ihren Ausgang und sie tut dies, wie wir noch sehen werden, methodisch und moralisch im protestantischen Geiste, als "Victorian Evangelical discourse"
(Christopher Herbert). Die Ängste, auf die Booth anspielt, haben ihren Grund in der räumlichen Segregation der sozialen Klassen, die sich in der Großstadt des 19. Jahrhunderts vollzieht. Als eines ihrer Charakteristika wird angesehen, dass es in ihr zur "räumlichen Konfiguration der Gesellschaft" (Elisabeth Pfeil) kommt. Diese nimmt in den meisten europäischen Großstädten den Ost-West-Gegensatz an: Im Westen liegt meistens das feine Wohnviertel der Wohlhabenden, im Osten das Massenquartier der werktätigen Armen. Im London der Viktorianischen Ära, dem Untersuchungsfeld von Booth, gewinnt der Gegensatz zwischen Ost und West seine wohl krasseste, in Gareth Stedman Jones' sozialhistorischer Studie Outcast London zum Thema gemachte Ausprägung. Aber gegen Ende des 19. Jahrhunderts sind "auch in Berlin, wie in London, gewisse Stadtteile ganz den Arbeitern ausgeliefert ", wie es Werner Hegemann in seiner Abhandlung
über "Das steinerne Berlin" formuliert (Hegemann 1979, S. 240). Diese topographische Trennung wird in der Regel meteorologisch,
nämlich mit den in Europa vorherrschenden Westwinden begründet, die dazu führten, dass Industrieanlagen, und folglich auch Mietskasernen, im Osten der Stadt errichtet wurden - und damit, im Gegenzug, den "Zug nach dem Westen" (so der Titel eines Berlin-Romans aus der Gründerzeit) provozierte, "von dem arbeitsamen und erwerbenden nach dem genießenden und ausgebenden Berlin" (Lindau 1886, S. 74). Die sozialräumliche Verteilung hat von Anfang an eine symbolische Dimension, die die Trennung zu einem Graben vertieft, den es zu überwinden gilt, um, wie es eine gängige Metapher der sozialen Emissäre zu Beginn des 20. Jahrhunderts beschreibt, an das "andere Ufer" zu gelangen. Auf historisch eigentümliche Weise kann Berlin bis heute als Beispiel für diesen symbolischen Trennungsprozess - die "Mauer im Kopf" - gelten, hat sich doch die sozialräumliche Spaltung der Stadt, diesseits und jenseits der Systeme, in das kollektive Gedächtnis ihrer Bewohner eingebrannt. Die Trennung in "Ost" und "West" geht im Viktorianischen London mit einer imaginären Geographie einher, die zwischen "unserem Land" und dem "Land der Barbaren" unterscheidet, eine Variante der imperialen Konstruktion von Orient und Okzident (Said 1995, S. 54). Nicht von ungefähr ist, in zeitgenössischer Analogie zu Afrika, vom Osten der Stadt als dem "dunklen Kontinent " die Rede: die unbekannte, nur "ein Steinwurf weit" entfernte Welt, die zum Auslöser kultureller Phantasien hinsichtlich ihrer Bewohner wird. Es ist also die räumliche Absonderung der unteren Klassen, die Anlass zur Sorge und damit zur Forschung gibt. "Der höheren Inspektion und der öffentlichen Beobachtung entzogen", wie es in Edwin Chadwicks Report into the Sanitary Conditions of the Labouring Population in Great Britain (1842) heißt, galt es, die Distrikte der Arbeiter und Pauper dem registrierenden Blick und dem kontrollierenden Auge zu öffnen, um sie der ›Sanierung‹ im wörtlichen wie im übertragenen Sinne
zuzuführen. Von Anfang an ist die Stadtforschung mithin in Machtstrukturen verstrickt, in die Macht zu observieren, zu inspizieren und aufzuzeichnen, Teil des panoptischen Regimes im Sinne von Michel Foucault. Das wird schlaglichtartig am Beispiel der "Überblicksstudie" deutlich, die ja eine Gesamtschau der geographischen, materiellen und moralischen Lage der jeweiligen Population geben will. Deren Bezeichnung, survey, ist von surveillance (Überwachung) abgeleitet. Beim survey, methodische Umsetzung der superior inspection, von der Chadwick sprach, gehen folglich Untersuchungstätigkeit und Kontrolltätigkeit in eins. Eine zentrale Technik, die im Rahmen des survey Anwendung zur Sichtbarmachung von Personengruppen und Phänomenen im Weichbild der Stadt findet und zu einem basic tool der Stadtforschung wird, ist das mapping, das Kartieren, eine Technik, die die moderne Großstadt lesbar macht. Die ersten thematischen Karten werden aus medizinisch-epidemiologischer Perspektive entwickelt, um die Verteilung der Mortalität und damit eventuell die Seuchenherde der Cholera-Epidemien zu lokalisieren, die um 1832 die westeuropäischen Hauptstädte heimsuchen. Aber schon bald wird diese Methode auf andere Phänomene übertragen, um deren räumliche Verteilung sichtbar zu machen (Picon 2000). Auch auf dem Gebiet der kartographischen Erschließung des großstädtischen Raums hat Booth mit der ihm eigenen Rigorosität Maßstäbe gesetzt, ließ er doch bei seiner Inquiry into the Life and Labour of the People in London Straße für Straße gemäß der sozialen und moralischen Merkmale ihrer Bewohner erfassen. Die erste der Boothschen Karten, in denen nicht wenige Wissenschaftshistoriker die eigentliche Leistung der Untersuchung sehen, hat das East End von London zum Gegenstand (Descriptive Map of East End Poverty, 1889), aber in der Folge weitet Booth sein Kartenwerk auf zwölf Blätter aus, die das Gebiet von Hammersmith im Westen bis Greenwich im Osten, Hampstead im Norden und Clapham im Süden Londons erfassen (Maps Descriptive of London Poverty, 1898-99). Booth entwickelt ein Farbsystem, um die sozialen Klassen im städtischen Raum sichtbar zu machen. Dieses Farbsystem, dessen Skala von Schwarz [sic!] zur Kennzeichnung der Klasse A, der "Elemente der Unordnung", bis zum Gelb der Klasse H, der servant keeping class der Wohlhabenden reicht, ist ein exzellentes Beispiel dafür, dass die topographische und die symbolische Raumkonstruktion in der frühen Stadtforschung ein Amalgam bilden. Indem Booth die black spots, für ihn Zeichen einer trostlosen Verbindung von Armut, Laster und Verbrechen, im Weichbild der Stadt sichtbar macht, tilgt er die weißen Flecken auf der Landkarte von London. Weiße Flecken auf der imperialen Landkarte zu löschen, wurde Mitte des 19. Jahrhunderts zu einer englischen Obsession. "Reisen und Kolonialismus sind immer noch genauso die Hauptleidenschaften von Engländern, wie sie es in den Tagen von Raleigh und Drake waren", konstatiert Roderick Murchison, Präsident der Royal Geographical Society, anlässlich der Expeditionen von Richard Burton und John Speke ins innere Afrika (Stafford 1989, S. 208). Auch die Viktorianischen Stadtforscher begreifen sich als Entdeckungsreisende, oder werden, wie Booth, als solche begriffen, und es ist, wie Asa Briggs betont, bemerkenswert, wie oft die Erkundung der unbekannten Großstadt mit der Erforschung von Afrika und Asien verglichen wurde (Briggs 1963, S. 60). Auf dem zweiten Blick freilich erscheint dieser Vergleich keineswegs mehr so erstaunlich, sind doch die Erforscher des East End nicht nur Zeitgenossen der Afrikareisenden, sondern auch deren Geistesverwandte: Beide verbindet das "imperiale Streben", so Edward Said, die weißen Flecken auf der Landkarte zum Verschwinden zu bringen (Said 1999, S. 232). Indem die Stadtforschung den "schwarzen Kontinent" at home erschließt und damit die "Wilden der Zivilisation" verortet - "ihre eigenen Pygmäen", wie William Booth, Gründer der Heilsarmee, die Bewohner des Londoner "Urwalds" bezeichnet - macht diese sie, zumindest potenziell, der Kolonialisierung zugänglich. Dieses Wechselspiel zwischen Erkundungstätigkeit und Kolonisierungsarbeit wird in der engen Verbindung der frühen Stadtforschung mit Programmen der zivilisatorischen ›Hebung‹ der Bevölkerung deutlich, wie sie zum Beispiel in der Kooperation mit der Stadtmission oder mit dem Settlementwesen zutage tritt, jener Bewegung, die in der "Niederlassung Gebildeter inmitten der armen und arbeitenden Bevölkerung" einen Ansatz zur Lösung der "sozialen Frage" sah. Die Parallelen von äußerer und innerer Mission zeichnen sich ab: Dem Reisenden und dem Missionar der europäischen Expansion tritt der Reisende at home und der innere Missionar zur Seite
(Geisthövel, Siebert, Finkbeiner 1997). Selbst die heroische Attitüde, außerordentliche Gefahren und Nöte überwinden zu können, ist den Reisenden des geographischen und des metaphorischen Afrika gemeinsam; sie ist Teil dessen, was Said als "Abenteuerimperialismus" bezeichnet hat. Die kulturelle Kodierung des East End als "dunkler Kontinent" projiziert Fantasien vom "mysteriösen Osten", der unsagbare Abenteuer und Mysterien verspricht. Mit diesem Versprechen ist aber implizit eine Motivebene angesprochen, die in der reinen Machtfunktion nicht aufgeht, "eine verzehrende Neugier nach allem, was fremd- und neuartig war", wie es Alan Moorehead in Bezug auf die Afrikareisenden formuliert hat (Moorehead 1965, S. 129). Die gesellschaftliche Aufsichts- und Kontrollfunktion, der die Stadtforschung dienen soll, wird daher häufig durch die individuelle Neigung des Forschers konterkariert, ein Interesse am "Anderen" zu haben, in der fremden Lebenswelt gar einen Gegenentwurf zum Eigenen zu sehen. Daher verpasst jede simple Reduktion der Forschung auf Machtinteressen die Faszination, die mit dieser Forschung einhergeht.


Rolf Lindner ist Professor für Europäische Ethnologie an der Humboldt-Universität zu Berlin.



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