E-Book, Deutsch, 168 Seiten
Lindenberg Eines Tages wird es leer sein
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-96054-312-1
Verlag: Edition Nautilus GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 168 Seiten
ISBN: 978-3-96054-312-1
Verlag: Edition Nautilus GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ein Sommer in der Normandie, in den 1980er Jahren. Der zehnjährige Erzähler verbringt die Ferien mit seiner Großmutter am Meer. Er ist noch in diesem Zustand der Kindheit, wo man alles intensiv erlebt, wo man noch nicht genau weiß, wer man ist oder wo der eigene Körper beginnt, wo eine Ameiseninvasion der Erklärung eines Kriegs gleichkommt, den man mit all seinen Kräften wird führen müssen. Eines Tages trifft er einen anderen Jungen am Strand, der ihm die Freundschaft anbietet, eine Freundschaft, die auf einem Ungleichgewicht beruht. Denn Baptiste ist ein »richtiger Junge«, hat eine »richtige Familie« – für den Erzähler der Inbegriff eines Glücks, das er dort erstmals findet und das er in jedem Moment wieder zu verlieren fürchtet.
Seine geliebte Großmutter, die den Holocaust überlebte und deren Schtetl-Akzent ihn vor den anderen Familien am Strand mit Scham erfüllt, und seine verhasste »monströse« Tante bedeuten für ihn zugleich widerwillige Geborgenheit und die beständige Gegenwart einer Vergangenheit, deren Trauma auf seinen Schultern liegt.
In so gefühlvoller wie genauer Sprache erzählt Hugo Lindenberg diesen Roman in einer Reihe von Szenen des Sommers, der Stille, des Lichts, der Begegnungen, in einer Stimmung sich dem Ende zuneigender Sommerferien und doch durchzogen von einer Unheimlichkeit und Bewegungslosigkeit, die unter die Haut gehen.
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7
Das Zimmer
Was enthält die Luft im Zimmer? Ich atme tief ein und fülle meine Lungenflügel, die ich mir als zwei Bäume vorstelle, durch deren Blätter der Wind rauscht. Dieser Körper umhüllt mich, aber er enthält mich nicht. Innen ist der Raum grenzenlos: Ich erahne Galaxien aus Lichtjahren der Stille, in der sich ein Herz verbirgt, kaum größer als eine Faust. Unter meinem Bauchnabel gibt es Weiten, die man in drei Tagen Flug nicht überqueren könnte. Meine Großmutter neben mir ist eingenickt, es ist denkbar, dass es niemanden auf der Welt kümmert, was ich gerade tue oder nicht tue. Die Zeit ist abgeschafft. Der Augenblick, der folgt, stürzt unweigerlich über den Augenblick, der nicht vergeht. Also zerlege ich die Gerüche im Zimmer, um Ordnung in die Dinge zu bringen. Lack, Wachs, Insektenspray, Schimmel, Mottenpulver … Jede Oberfläche muss über ihre Ausdünstungen Auskunft geben, vom Häkelmuster der Tagesdecke bis zum karminroten Einband eines alten Jules Verne, der auf dem Nachttisch liegt. Wenn ein lauer Luftzug durch die Läden kommt, mischt sich alles im Licht und weckt die süße Erinnerung an den Strand. Ich kneife die Augen zusammen, weil es mir gefällt, wenn die Welt unter meinen Lidern glutrot wird. Der feuchte Fleck an der Decke wird darin zu einem silbernen See. Ich blinzele hundert Mal. Und hundert Mal wandert der Fleck von der Decke auf meine Lider und von meinen Lidern ins Nichts. Aber wenn ich die Augen wieder aufmache, muss ich mir eingestehen, dass ich ihn nicht auslöschen kann. Außer ich stehe auf, was ich schließlich widerwillig tue, ich überlasse die Decke ihrer glatten Existenz und ihrem Horizont aus Stuck und mache mich auf den Weg, um die Schränke im Haus geruchstechnisch zu erforschen. Hinter meinem Spiegelbild im Badezimmer gibt es einen rostigen Rasierer und Zahnarztwerkzeuge, die nach Stacheldraht riechen. Und eine Dose mit Talk, deren Geruch mich für einen Moment in die Schule versetzt, in den Raum über dem Pausenhof, wo die Frau hinter meinem Rücken gesagt hat, dass ich zu ängstlich bin. Als wäre das schmutzig. Als wäre ich nicht da. Nachdem ich das Medizinschränkchen wieder geschlossen habe, verlasse ich das Bad, aber ein Teil von mir klebt noch am Asphalt und an den Echos des Pausenhofs. Zwei Sekunden bloß, aber das reicht, um meine Anstrengung zunichtezumachen, das verfluchte Zimmer zu vergessen. Und seine Bewohnerin: meine verrückte Tante. Jetzt stehe ich im Flur vor der Tür, die ich seit meiner Ankunft nicht geöffnet habe. Es ist, als würde die Zeit zwischen dem Durchgangszimmer und dem Bad, zwischen dem Bad und dem Durchgangszimmer, einen Sprung machen. Es ist, als würden meine Gedanken einen Sprung über die Existenz meiner Tante machen. Jetzt, als ich davor stehe, fällt mir auf, dass ihr Zimmer sogar das Zentrum des Hauses bildet. Dass es eine Wand mit jedem anderen Zimmer teilt, sogar mit dem Balkon. Es ist der verfaulte Kern der Villa. Jetzt, als ich darüber nachdenke, scheint seine Anwesenheit unumgänglich. Wie der atomare Wind aus der UdSSR. Meine Großmutter hat sie noch nicht vom Zug abgeholt, aber ihre bevorstehende Ankunft genügt, damit das Licht der Sonnenstrahlen kalt wird, der Sand bleich und der Geruch der Blätter unter den Bäumen modrig. Gegen sie kämpfe ich vorm Einschlafen und manchmal noch beim Aufwachen am Morgen. Ich hatte gedacht, ich könnte sie in den zehn Quadratmetern ihres leeren Zimmers gefangen halten, wenn ich es nicht aufmache. Naiver Glaube, den ich nun aufgeben muss. Mit der Vorsicht eines Geheimagenten betätige ich den Türknauf aus Porzellan, der sich entgegen meinen Erwartungen leicht drehen lässt. Und dann stehe ich im Hort des Bösen. Es sieht noch genauso aus wie in meiner Erinnerung, nur kleiner. Aber man sieht sofort, dass es ein Problem gibt. Es ist kein Kinderzimmer und auch kein Erwachsenenzimmer. Alles widert mich an: die furchtbare bordeauxfarbene Patchworkdecke auf dem schmalen Bett, der Aschenbecher mitten auf dem Nachttisch, ein Modell wie in den Cafés, gelb verfärbt an den Stellen, wo die Leute ihre Zigarette vergessen. Und dann die Schallplatten, die den Schreibtisch, das Regal und den Boden bedecken. Sie sind überall außer in dem kleinen Ziehharmonika-Schränkchen, in das sie eigentlich gehören. Ich weiche den Blicken der Sänger auf den Covern aus. Die »Stars« ihrer Jugend, die ich hasse und die sich die ganze Zeit über ihren Liebeskummer oder ihre Eltern beschweren, obwohl ihr wahres Problem ihr Haarschnitt ist. Ich bleibe auf der Türschwelle stehen, aber rechts neben dem Schreibtisch ist ein Schränkchen, das Schränkchen hat eine Tür, die Tür ein Schloss, und zum Schloss gehört ein Schlüssel, der mich mit aller Kraft ruft. Es ist ein kleiner, rautenförmiger Schlüssel mit einem symmetrischen Muster. Ich bücke mich und drehe ihn langsam, um zu spüren, wann das Schloss unter dem Druck nachgibt. Im Inneren herrscht ein solches Durcheinander, dass ich angesichts der Lawinengefahr kurz zögere. Es ist ein Wust aus Briefen, Heften, Fotos, einem alten Portemonnaie, Prospekten, Postkarten, Bierdeckeln, einem Ticket für die Eislaufhalle. Alles unterschiedlich vergilbt, gefaltet und verwittert. Wer hat vor mir hier herumgekramt? Ich setze mich im Schneidersitz auf den Teppich und versuche, den aufsteigenden Geruch zu entziffern. Eine Mischung aus Bibliothek und Keller. Ich greife ein Foto heraus. Darauf sind zwei Kinder, untergehakt vorm Meer. Ein Mädchen und ein Junge. Meine verrückte Tante mit vielleicht elf und mein Vater, der ungefähr siebzehn Jahre alt sein muss. Hinter ihnen das offene Meer, das Wasser reicht ihnen bis zu den Knöcheln. Bruder und Schwester, mager und lächelnd, trotz der Sonne, die sie blendet. Ich suche auf ihren Gesichtern nach Hinweisen, Anzeichen. Aber außer dem lächerlichen Hut bei ihr und der grotesken Badehose bei ihm kann ich nichts Auffälliges entdecken. Nichts deutet darauf hin, dass die Dinge so böse enden werden. Hinter ihnen sind ein paar Silhouetten zu erkennen, im Profil, fast von hinten, ein Junge, der mich an Baptiste erinnert und der zweifellos normal ist. Ich wühle nach weiteren Fotos und lege mit spitzen Fingern die Zettel beiseite, die mich nicht interessieren. Da ist ein Foto, auf dem sie fünfzehn sein muss. In einem Schottenrock, der von einer großen Sicherheitsnadel zusammengehalten wird, geht sie voller Elan eine Straße entlang. Ihre Haare sind schon kurz, aber ihr Gesicht ist noch kindlich. Ein Junge ihres Alters geht hinter ihr. Er hat abstehende Ohren, blonde, zerzauste Haare, ein spöttisches Grinsen auf den Lippen. Er ist schön. Auf der Rückseite des Fotos steht: »Osmond und ich, Boulevard Saint-Michel, 1963«. Ich wundere mich über den Jungen an ihrer Seite. Er ärgert mich. Kurz möchte ich das Foto zerreißen, sie voneinander trennen. Aber meine Finger sind schon auf der Suche nach einem neuen Bild. Da ist eins, wo sie fast so ist, wie ich sie hasse. Noch jung, aber schon dick, gebeugt, mit hängenden Armen, so hässlich, dass man sich für sie schämt. In Männerkleidern, die ihr zu groß sind und nur aus Bequemlichkeit kombiniert wurden. Kleidung, um sich zu verstecken. Ihr Gesicht ist nach vorne geneigt, sodass ihre Nase in der Mittagssonne über ihrer Oberlippe einen Schatten wirft wie ein Schnurrbart. Als wäre das nicht genug, sind ihre Augen weiß, weil sie den Fotografen von unten anschaut. Sie sieht aus wie ein Monster nach einem Supergau, die Eingeweide zerfressen vom Uranfeuer. Hinter ihr lehnt meine Großmutter an der Tür eines Wagens und lächelt höflich, die Hände in den Taschen einer Holzfällerjacke, neben einer Dame, die ihre Freundin Fanny sein muss. Ich breite die Fotos auf dem Teppich aus, um ihre Gesichter zu vergleichen: das von dem verzerrt in die Sonne lächelnden jungen Mädchen mit dem Hut vorm Meer und das furchteinflößende der dicken Frau mit dem Hitlerbart. Mir wird schlecht. Es riecht nach kaltem Rauch, das Zimmer wurde schon lange nicht mehr gelüftet. Und die Gesichter auf den Plattencovern setzen mir zu. Ich muss hier raus und unbedingt einen fröhlichen Geruch finden. In der Küche zum Beispiel. Jemand hat mir erzählt, dass Parfümhersteller an Kaffee schnuppern, damit ihr Geruchssinn sich erholt. Ich achte darauf, alles wieder in eine ähnliche Unordnung zu bringen, aber bevor ich die Schranktür schließe, spucke ich ohne nachzudenken auf die Papiere. Die weiße Spucke fällt auf eine Postkarte von der Île de Ré. Ich drehe den Schlüssel im Schloss um und verlasse den Raum so leise, als würde dort ein Baby Mittagsschlaf halten. Auf der Türschwelle lausche ich in die Stille, um sicherzugehen, dass meine Großmutter noch schläft, bevor ich auf Socken bis zum Geschirrschrank im Esszimmer schlittere, hinter dessen Türen ein bitterer Geruch nach Lindenblüten und Zichorienkaffee herrscht. Ein Geruch, den ich woanders noch nie gerochen habe und der für immer und ewig der Geruch von hier, von Langeweile und von...