Lin | Taipeh | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 288 Seiten

Lin Taipeh

Roman
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-8321-8817-7
Verlag: DuMont Buchverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 288 Seiten

ISBN: 978-3-8321-8817-7
Verlag: DuMont Buchverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



»Der Kafka der Generation Facebook« DER SPIEGEL

Paul, 25, lebt als Schriftsteller im New Yorker Stadtteil Williamsburg, und sein Leben dreht sich im Kreis. Phasen, in denen er nichts anderes tut, als seine Internetpräsenz in Endlosschleife zu aktualisieren, wechseln sich mit exzessiven Liebesabenteuern und Drogenexperimenten ab. Im Dauerrausch der Existenz treibt er nach Taipeh, zu den Wurzeln seiner Familie, und in die Arme von Erin, mit der er die vielleicht ungewöhnlichste Liebesbeziehung der Literaturgeschichte eingeht.
Pauls Odyssee ist ein Irrweg zu sich selbst, die beispielhafte Suche eines hochmodernen Menschen nach Wahrheit und Aufrichtigkeit, von der Tao Lin mit buddhistischer Ruhe und Konzentration erzählt. In seinem faszinierenden autobiografischen Roman, mit dem er in den USA zum gefeierten Literaturstar wurde, fängt er die vage Angst, den Verdruss und die Liebesunfähigkeit einer Generation ein, die die Welt hauptsächlich gefiltert durch soziale Netzwerke und leistungssteigernde Medikamente wahrnimmt. Wie nebenbei entstehen so Einsichten von existenzieller Wucht und ergreifender Tiefe.

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1 Aus einem diesigen, wolkenlos wirkenden Himmel begann es leicht zu regnen, als Paul, 26, und Michelle, 21, in Richtung Chelsea gingen, um die Release-Party einer Zeitschrift in einer Kunstgalerie zu besuchen. Paul hatte aufgehört zu sprechen, und es kam ihm zunehmend so vor, als würde er weniger »auf dem Bürgersteig gehen« als sich vielmehr »durch das Universum bewegen«. Er starrte mit einem maskenhaften Gesichtsausdruck geradeaus und unternahm einen schwachen Versuch, sich daran zu erinnern, wo er vor einem Jahr, im vergangenen November, gewesen war – er tat es mehr um der Beschäftigung willen als aus tatsächlichem Interesse, ohne aber völlig frei von Neugier zu sein. Michelle, die links von ihm ging – so weit entfernt, dass unwissende Passanten zwischen ihnen hätten hindurchgehen können –, driftete in sein Blickfeld herein und wieder hinaus wie ein träges, amorphes Flackern. Paul dachte gerade auf meditative Weise, als Platzhalter und Ziel zugleich, das Wort »irgendwo«, als Michelle ihn fragte, ob alles in Ordnung sei. »Ja«, sagte Paul automatisch. Als sie wenige Minuten später ein Gebäude betraten, warf er einen schnellen Blick zu Michelle hinüber, sah überrascht, dass sie grinste, und konnte nicht anders, als selbst zu grinsen. Manchmal, wenn sie sich stritten, kam es Paul vor, als spielte er eine Rolle in einem Film und die Szene wäre gerade abgedreht, und dann konnte es passieren, dass er plötzlich grinste, was dazu führte, dass Michelle ebenfalls grinsen musste und sie eine bis vierzig Stunden lang wieder Spaß daran hatten, etwas gemeinsam zu unternehmen, aber diesmal war die Situation anders, was zum Teil daran lag, dass Michelle zuerst gegrinst hatte. Paul wandte leicht irritiert den Blick ab und schaltete sein Grinsen ab. »Was«, sagte er mit versehentlich zu lauter, monotoner Stimme, unschlüssig, was genau er fühlte, und sie bestiegen einen großen, nüchtern wirkenden Aufzug, dessen Tür sich langsam schloss. »Was«, sagte Paul in normaler Lautstärke. »Nichts«, sagte Michelle, die immer noch grinste. »Warum grinst du?« »Einfach so«, sagte Michelle. »Was hat dich zum Grinsen gebracht?« »Nichts. Das Leben. Die Situation.« Als sie die Party im vierten Stock betraten, fiel Paul ein, dass er irgendwann einmal im Internet diffus negative Dinge über eine Person geschrieben hatte, die wahrscheinlich anwesend war, also ging er schnell zu Jeremy hinüber – einem Bekannten, mit dem man sich gut unterhalten konnte – und fragte ihn, was für Filme er in letzter Zeit gesehen hatte. Michelle stand nicht weit entfernt – halb verdeckt, dann vollständig verdeckt, dann vollständig sichtbar – und kam schließlich, augenscheinlich mit einem listigen Lächeln im Gesicht, herüber, um zu fragen, ob Paul etwas trinken wolle. Jeremy rechnete gerade laut den auf die Stunde heruntergebrochenen Eintrittspreis eines zweiteiligen Biopics über Che Guevara aus, als Michelle mit einem Bier zurückkam. Paul bedankte sich, und sie entfernte sich auf eine stockende, sich windende, krabbenartige Weise, wobei sie einen zugleich entspannten und orientierungslosen Eindruck machte. »Sie will allein sein«, dachte Paul ein wenig verwirrt. »Oder mir die Gelegenheit geben, allein zu sein.« Eine Stunde später saßen sie, ihre dritten oder vierten Drinks in der Hand, auf Stühlen in einer dunklen Ecke einer Gruppe von, wie Paul schätzte, sechzig bis achtzig Freunden und Bekannten gegenüber. Laute, tanzbare, vorwiegend elektronische Musik – im Moment war es Michael Jackson – drang aus verborgenen Lautsprechern. Paul starrte auf eine Fläche aus Oberkörpern. Er wusste, dass er in vorherigenen Beziehungen Unzufriedenheit in gewisser Weise als empirisch unterfütterten Enthusiasmus hinsichtlich einer möglichen Zukunft erlebt hatte, die eine zufriedenstellendere Beziehung zu jemandem versprach, den er noch nicht kennengelernt hatte; in seiner Beziehung mit Michelle, der er sich näher fühlte als seinen vorherigen Freundinnen – was er ihr mehrere Male wahrheitsgemäß gesagt hatte –, kam ihm die Unzufriedenheit wie eine persönliche Schwäche vor, ein direkter Indikator einer inneren Fehlfunktion, an deren Korrektur er im Stillen fokussiert arbeiten sollte. Stattdessen, das war ihm vage bewusst, wartete er darauf, dass Michelle – oder eine Kombination aus Michelle und der Welt – seine Negativität durchstand und überwand, dass sie zu der Lösung wurde, in der er sich unwiderruflich und rückstandslos auflösen könnte. Er nippte an seinem Wein und dachte daran, dass Michael Jackson dem Internet zufolge zehn bis vierzig Xanax pro Nacht genommen hatte, bevor er im vergangenen Sommer gestorben war. Paul rutschte geistesabwesend mit seinem Stuhl zu Michelle hinüber und berührte ohne eindeutigen Grund ihre Schulter, tastend und unbekümmert wie ein Kind, das einen großen Hund tätschelt und dabei in eine andere Richtung schaut. Er erwartete denselben gelangweilten Gesichtsausdruck wie zehn Minuten zuvor, als Michelle mit einem frischen Getränk auf ihren Platz zurückgekehrt war und sie einen unverbindlichen Blick ausgetauscht hatten, und war überrascht von der schwerwiegenden, offen hervortretenden – geradezu brodelnden – Depressivität, die in ihrer Miene lag. Ihr Gesicht rötete sich konfrontativ, offenbar ein Verteidigungsreflex, denn gleich darauf wirkte sie frustriert und leicht irritiert und dann schüchtern und peinlich berührt. Paul fragte sie, ob sie bald gehen wolle. Michelle zögerte und fragte dann, ob Paul das wolle. »Ich weiß nicht. Hast du Hunger?« »Eigentlich nicht. Du?« »Ich weiß nicht«, sagte Paul. »Ich könnte schon irgendwo etwas essen.« Vor Monaten hatten sie sich eines Nachts an der Lafayette Street auf eine Bürgersteigkante gesetzt, um einen begonnenen Streit in einer ruhenden Haltung fortzuführen. Durch Michelles besonnenes, intelligentes Verhalten abgelenkt, hatte Paul die Ursache des Streits aus den Augen verloren und sich mit wachsender Dankbarkeit darauf fixiert, dass Michelle ihn genügend mochte, um nicht einfach zu gehen und ihn niemals wieder zu treffen, was sie durchaus hätte tun können – was jedermann jederzeit tun konnte, hatte Paul gedacht, plötzlich fasziniert vom Konzept der Dankbarkeit. »Willst du im Green Table essen?« »Wenn du das willst«, sagte Michelle. »Okay. Wann willst du gehen?« »Wenn ich das Glas Wein ausgetrunken habe.« »Okay«, sagte Paul und rutschte mit seinem Stuhl wieder den halben Weg zurück. »Ich stelle Kyle jemandem vor. Ich bin so in fünf Minuten zurück.« Paul, der weder Kyle, 19, noch dessen Freundin Gabby, 28, entdecken konnte – er bewohnte mit ihnen gemeinsam ein Apartment in Brooklyn an der Bahnstation Graham der Linie L –, war auf dem Weg zurück zu Michelle, als er bemerkte, dass er an Kyle vorbeigelaufen war, der allein und angetrunken inmitten einer dichten Menschenansammlung stand, als wäre er auf einem Konzert. Nach einem kurzen Verharren in Unentschlossenheit machte Paul kehrt und fragte Kyle, ob er ihn mit Traci bekanntmachen solle. Kyle nickte und folgte Paul nach draußen auf einen breiten Korridor, wo sechs Leute, unter ihnen Traci – die früher am Abend von Kyle mit den Worten »total scharf« und von Paul mit »ihr Blog bekommt viele Klicks« beschrieben worden war –, einander die Hände schüttelten. Paul grinste peinlich berührt, während er in die Runde starrte und dachte, er hätte »nicht das Geringste« zu sagen, vielleicht abgesehen davon, was er gerade im Moment dachte, doch das schien ihm unpassend und änderte sich außerdem ständig. Er bemerkte, dass Michelle etwa zehn Meter von ihm entfernt allein dasaß, eine Wand im Rücken. Die Vorderseite seines Kopfes fühlte sich fremd und festgesaugt an wie eine Plastiktüte, die von einer Windbö dort festgehalten wurde, während er, wissend, dass sie wahrscheinlich gesehen hatte, wie er Traci angelächelt hatte, zu Michelle ging und sie fragte, ob sie jetzt die Party verlassen wolle. »Willst du?«, sagte Michelle, ohne aufzustehen. »Ja«, sagte Paul, in Richtung der Galerie schauend. »Du kannst auch weiter mit Kyle reden.« »Will ich nicht«, sagte Paul. »Es sieht aber so aus, als wolltest du.« »Tu ich nicht«, sagte Paul, der sich darüber im Klaren war, Freunde hauptsächlich als ein Mittel zu betrachten, um an Mädchen heranzukommen, anders als Michelle, die sie um ihrer selbst willen wertschätzte (sie hatten das einige Male diskutiert und sich in gewisser Weise darauf geeinigt, dass Paul sein Schreiben hatte und Michelle ihre Freunde). »Ich verabschiede mich nur schnell. Ich bin gleich wieder da.« Als er Kyle auf dem Korridor nicht fand, ging er roboterhaft zurück in die finstere, menschengefüllte Galerie, wobei er in einem gefährlich quasi-ernsthaften Ton »verloren in der Welt« dachte. Kyle stand seitlich neben einer Gruppe von Leuten, wodurch nicht eindeutig zu erkennen war, ob er sie kannte oder nicht. Er sah Paul so an, als würde er darüber nachdenken, was er sagen sollte, dann so, als hätte er vor, Paul zu beleidigen, und daraufhin nicht unbedingt so, als hätte er sich bewusst dagegen entschieden, sondern eher so, als hätte er das Interesse verloren. »Ich glaube, Michelle denkt, dass ich ihr nicht genug Aufmerksamkeit schenke«, sagte Paul langsam. »Das ist lustig«, sagte Kyle nach ein paar Sekunden. »Weil Gabby nach einer unserer Partys gesagt hat, du wärst Michelle gegenüber so aufmerksam und wärst immer in ihrer Nähe und würdest dich mit ihr unterhalten, während ich immer nur mit anderen Leuten reden und sie nicht lieben würde.« »Und...


Lin, Tao
Tao Lin, geboren 1983, ist der It-Boy der New Yorker Literaturszene und die Galionsfigur der »New Sincerity«-Bewegung. Der Autor von sieben Büchern studierte Journalismus an der New York University und unterrichtete Literatur am New Yorker Sarah Lawrence College. Seine Texte erschienen unter anderem in The Believer, New York Observer und Vice. ›Taipeh‹, Tao Lins dritter Roman, verhalf ihm in den USA zum endgültigen Durchbruch und war eines der meistdiskutierten amerikanischen Bücher 2013. Bei Du

Kleiner, Stephan
STEPHAN KLEINER, geboren 1975, lebt als literarischer Übersetzer in München. Er übertrug u. a. Geoff Dyer, Chad Harbach, Nick Hornby, Bret Easton Ellis, Charlie Kaufman und Hanya Yanagihara ins Deutsche.



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