Ligensa Mittsommersehnsucht
12001. Auflage 2012
ISBN: 978-3-8437-0365-9
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 400 Seiten
Reihe: Ullstein eBooks
ISBN: 978-3-8437-0365-9
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Elfie Ligensa schreibt erfolgreich Romane und Drehbücher und lebt mit ihrem Mann und einer eigenwilligen Katze in der Nähe von Köln.
Autoren/Hrsg.
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1
Zum Hotel Peer Gynt bitte.« Andreas Herz begann nervös zu schlagen, als sie sich auf die Rückbank des Taxis sinken ließ. Der Fahrer, ein grauhaariger Mann mit Wikingerbart und einer etwas zu großen Nase, nickte. Er hatte den silberfarbenen Rollkoffer und die braune Arzttasche, die Andrea mit im Flugzeug gehabt hatte, im Kofferraum verstaut und setzte sich jetzt mit einem unterdrückten Seufzer hinters Lenkrad.
»Das liegt aber am Stadtrand«, erklärte er und sah seinen Fahrgast im Rückspiegel fragend an.
»Ich weiß.«
»Ja, dann …« Er fädelte sich in den Verkehr ein. Der Flughafen von Bergen lag etwa fünfzehn Kilometer südlich der Stadt. Achtlos schaute Andrea Sandberg aus dem Fenster. Sie war bestimmt schon ein Dutzend Mal hier gewesen, die Umgebung des Flughafens war so uninspirierend wie die der meisten Flughäfen der Welt. Ein paar Werbetafeln gaben Hinweise auf Bootsausflüge zum nahe gelegenen Geiranger-Fjord oder zu den nördlichen Gebieten, dorthin, wo die Sami mit ihren Rentierherden daheim waren. Ein Foto zeigte eine hölzerne Stabkirche, ein anderes die Weltkugel am Polarkreis.
Sekundenlang schloss die junge Ärztin die Augen. Am Fuß der eisernen Weltkugel hatte ihr Jonas seine Liebe gestanden. Nach einer romantischen Nacht in einem Hotel in Trondheim waren sie zu dem weitläufigen Nordkap-Plateau weitergefahren. Wenn man hier stand, hatte man wahrlich den Eindruck, am Ende der Welt angelangt zu sein. Es war ein trockener, heller Tag gewesen, fast hundert Touristen wurden Zeugen, als Jonas sie umarmte, lange küsste und sagte: »Ich liebe dich, schöne Doktorin, und ich würde dich am liebsten nie mehr loslassen. Seit wir uns getroffen haben, muss ich immerzu an dich denken.« So etwas wie Ironie hatte in seinen Worten mitgeschwungen, als er hinzufügte: »Das muss doch Schicksal sein, meinst du nicht auch? In Kapstadt begegnen wir uns, machen gemeinsam Urlaub in diesem Traumland … und ich verliere mein Herz an dich.«
Mir ist es ganz genauso ergangen, dachte Andrea. Dieser Urlaub – ihr erster, seit sie als Chirurgin an der Düsseldorfer Universitätsklinik arbeitete – war auch ihr schicksalhaft erschienen. Und Jonas, ein blonder Hüne mit dem Aussehen eines jungen Robert Redford, schien der Mann zu sein, der für sie bestimmt war.
So oft es ging, besuchte sie ihn in seiner Heimat. Jonas war nicht so leicht abkömmlich wie sie, denn er leitete in Bergen ein großes Hotel, musste fast rund um die Uhr ansprechbar sein. Und so kam Andrea, wann immer sie einige freie Tage angesammelt hatte, in die alte Hansestadt, die so reizvoll war, dass sie sich hier beinahe heimisch fühlte. Und nach dem dritten Besuch beschloss sie, sich an einer Klinik in Bergen zu bewerben. Ärzte aus dem Ausland waren in Norwegen gern gesehen, und so bekam sie bereits nach wenigen Wochen eine Zusage.
Jonas … sie freute sich so darauf, ihn zu überraschen! Drei Wochen früher als geplant hatte sie ihre Arbeit in Düsseldorf beenden können und war spontan in das nächste Flugzeug gestiegen. Nur zwei Koffer hatte sie dabei, alles andere war verschifft worden und würde sicher wenig später als sie selbst in Jonas’ Hotel eintreffen.
»Wir sind da. Ich wünsche einen schönen Aufenthalt in Bergen«, sagte der Taxifahrer, als sie den Stadtteil Fana erreicht hatten, und lud ihr Gepäck aus. Andrea glaubte die nahe See zu riechen, den unverwechselbaren Geruch nach Salz und Teer, nach Fisch und Tang. Aber das war wohl nur Einbildung. »Danke.« Sie gab ein üppiges Trinkgeld. Warum sollte der Mann mit der viel zu großen, leicht geröteten Nase nicht auch ein wenig von dem Glück, das sie verspürte, abbekommen? Er nickte nur zum Dank und ging, sich den Bart streichend, zurück zur Fahrertür.
Ein Portier, der Andrea nicht kannte, begrüßte sie höflich und fragte sie, wie lange sie bleiben wolle.
»Das kommt ganz auf Ihren Chef an«, erwiderte Andrea lächelnd. »Lassen Sie bitte das Gepäck in sein Büro bringen. Ich gehe gleich hinauf in seine Privaträume.«
»Aber …« Der Portier, etwa sechzig Jahre alt und mit einem ähnlichen Vollbart wie der Taxifahrer, zuckte nur mit den Schultern und zeigte zum Lift. »Dann kennen Sie ja den Weg.« Er sprach ein fast akzentfreies Deutsch.
Kam es ihr nur so vor oder war tatsächlich alles Freundliche, Verbindliche aus seiner Miene verschwunden? Andrea zuckte unmerklich mit den Schultern. Die Vorfreude auf das Wiedersehen hatte sie wohl ein wenig verwirrt, denn als sie sich noch einmal nach dem Mann umblickte, sah er ihr mit einem unverbindlichen Lächeln nach.
Im vierten Stock des Hotels, das zur Südseite hin einen Blick auf das Grieg-Haus gewährte, besaß Jonas Fredriksen eine Wohnung, die durch eine Wendeltreppe mit einem darüber liegenden Maisonettebereich verbunden war. Nur drei Räume befanden sich hier oben – ein geräumiges Schlafzimmer, an das sich ein Bad anschloss, eine Küche und ein Wintergarten, der eine fantastische Aussicht bot. Weit dehnten sich die grünen Hügel bis hinunter zum Fjord. Dort, in einem Felsengrab, lagen Edvard Grieg und seine Frau Nina begraben. Bei ihrem ersten Besuch hier war Andrea, so wie viele Touristen, dorthin gegangen und hatte an dem Gedenkstein eine kurze Andacht gehalten.
Sie wollte gerade an Jonas’ Wohnungstür läuten, als sie sah, dass die Tür nur angelehnt war. Sicher war Jonas für einen Moment nach oben gegangen, um etwas zu holen. Es war schon recht praktisch, wenn man gleich über dem Arbeitsplatz wohnte.
Sie lächelte und trat ein. Die fast rechteckige Diele war mit hellen Ahorndielen ausgelegt. Links befand sich ein ebenfalls aus Ahorn gefertigter Einbauschrank, rechts stand eine bunt bemalte kleine Truhe, über der zwei rechteckige Lampen hingen. Geradeaus ging es zum großen Wintergarten, rechts zur Küche, die jedoch kaum benutzt wurde. Der Hotelier aß meist mit seinen Leuten zusammen. Jonas legte Wert darauf, dass auch das Essen für die Hotelangestellten gut und reichhaltig war.
»Jonas?«
Keine Antwort. Dabei war Andrea sicher, Geräusche gehört zu haben.
Langsam, zögernd stieg sie die helle Holztreppe hinauf – und glaubte im nächsten Moment, einen Schlag in die Magengrube bekommen zu haben. Das war ein schlechter Film, in den sie da hineingeraten war! So etwas passierte vielleicht in billigen Soaps, doch nicht ihr, nicht im wirklichen Leben.
Aber das Bild blieb: Jonas lag nackt mit einem langbeinigen, blutjungen Mädchen auf seinem Bett, über das eine rotbraune Fuchsfell-Decke gebreitet war. Die beiden waren so intensiv miteinander beschäftigt, dass sie Andrea nicht bemerkten. Neben dem Bett stand ein weißer Barwagen, darauf ein Champagnerkübel, zwei Gläser, eine Silbervase mit einer Rose – das übliche Szenario einer routinierten Verführung, schoss es Andrea durch den Kopf. Bei ihren ersten beiden Besuchen war auch sie von Jonas mit Champagner, frischen Erdbeeren und roten Rosen begrüßt worden. Sie hatte es romantisch gefunden und erinnerte sich jetzt noch genau daran, wie ausgiebig und leidenschaftlich Jonas und sie das Wiedersehen gefeiert hatten.
War das wirklich erst ein halbes Jahr her?
Andrea biss sich auf die Lippe, bis sie Blut schmeckte. Nur nicht schreien jetzt. Nur nicht nach der bauchigen Tonvase greifen, die auf einem Sideboard links von der Tür stand und geradezu dazu einlud, nach Jonas geschleudert zu werden. Nur nicht weinen …
Nur weg! Fort aus dem Haus, so weit weg wie möglich von Jonas!
Wie blind rannte sie die Treppen und dann den Hang hinunter, stolperte zweimal über kleine Steinbrocken, die von Grasbüscheln verdeckt waren, rannte an Touristen vorbei, die das Grieg-Haus Troldhaugen und die Grabstätte des Komponisten besichtigen wollten.
Die irritierten, teils mitleidigen, teils verständnislosen Blicke, die ihr folgten, bemerkte sie nicht. Erst als sie Seitenstechen bekam und nach Luft ringend am Straßenrand stehen bleiben musste, kam sie wieder zu sich. Die Enttäuschung wich Wut, aus Trauer wurde gerechter Zorn.
»Scheißkerl!«, schimpfte sie laut vor sich hin. »Verdammter Scheißkerl!«
»Junge Frau … wollen Sie zurück in die Stadt?« Der bärtige Taxifahrer, der sie hergebracht hatte, stand plötzlich neben ihr. Die dicke Nase leuchtete blaurot, doch seine Augen waren voller Wärme auf Andrea gerichtet. »Ich fahre zum Hafen. Zur Anlegestelle der Hurtigruten.« Er strich sich über den Bart und sah sie erwartungsvoll an. »Na, wäre das nichts für Sie, so eine Fahrt mit dem Postschiff? Die Reise würde Sie auf andere Gedanken bringen.«
Als sie nicht antwortete, sagte er: »Warten Sie hier. Ich hole Ihr Gepäck.«
»Ja, aber …« Sie schüttelte den Kopf. Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass sie ihren Koffer und die Arzttasche im Hotel gelassen hatte.
Der Alte reagierte nicht, er wendete das Taxi, fuhr zurück zum Hotel – und war knappe fünf Minuten später wieder bei ihr. Andrea war langsam, mit gesenktem Kopf, weitergegangen. Tränen liefen ihr übers Gesicht. Es tat gut, weinen zu können, es nahm den Druck von ihrer Brust. Und dennoch blieben tausend quälende Gedanken: Warum tat ihr Jonas das an? Was faszinierte ihn an dem blonden Mädchen? Ihre perfekte Figur? Die Jugend? Ihre Unbeschwertheit? Andrea konnte sich gut vorstellen, dass die blonde Norwegerin das Leben unbekümmert genoss, dass sie von den Pflichten des täglichen Lebens, die ihren eigenen Alltag prägten, noch nicht viel wusste – oder wissen wollte.
Seinetwegen hab ich daheim alles...