Liehr | Geisterfahrer | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 330 Seiten

Liehr Geisterfahrer

Roman
1. Auflage 2011
ISBN: 978-3-8412-0234-5
Verlag: Aufbau Verlage GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 330 Seiten

ISBN: 978-3-8412-0234-5
Verlag: Aufbau Verlage GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Das Leben - zu kurz, um davor wegzulaufen...

Als Ex-DJ Tim Köhrey endlich zu sich kommt, ist es fast zu spät - Berlin ist weit weg, die große Liebe längst vorbei, und seine Zukunftsaussichten sind trübe: Provinzleben, Reihenhaus, zerrüttete Ehe. Er kehrt zurück in die pulsierende Hauptstadt und sucht nach dem Glück seiner Jugend ...

Eine rasante Geschichte über verpasste Chancen, Liebe, Freundschaft, Musik und die goldenen Achtziger.



Tom Liehr war Redakteur, Rundfunkproduzent und DJ. Seit 1998 Besitzer eines Software-Unternehmens. Er lebt in Berlin.

Im Aufbau Taschenbuch sind seine Romane 'Radio Nights', 'Idiotentest', 'Stellungswechsel', 'Geisterfahrer', 'Pauschaltourist', 'Sommerhit', 'Leichtmatrosen' und 'Freitags bei Paolo' lieferbar.

Mehr zum Autor unter tomliehr.de.

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Autoren/Hrsg.


Weitere Infos & Material


1;Eins 1974–1984;8
1.1;Prolog;10
1.2;1. Haarausfall;12
1.3;2. Fliege;15
1.4;3. Streife;19
1.5;4. Erbe;24
1.6;5. Transit;27
1.7;6. Mauer;33
1.8;7. Wichsen;39
1.9;8. Schüttelfrost;44
1.10;9. Fahrerflucht;48
1.11;10. Lippenstift;53
1.12;11. Tapes;60
1.13;12. Disco;66
1.14;13. Kino;76
1.15;14. Sommer;83
1.16;15. Übergänge;92
1.17;16. Wäsche;96
1.18;17. Verrat;101
2;Zwei 1989;110
2.1;1. Agenten;112
2.2;2. Chateau;122
2.3;3. Hurenherzen;127
2.4;4. Phantomschmerz;132
2.5;5. Präfixe;136
2.6;6. Dreier;144
2.7;7. Überraschungsbesuch;153
2.8;8. Flucht;158
2.9;9. Provinz;164
2.10;10. Schlager;178
2.11;11. Reihenhaus;185
3;Zweieinhalb;196
3.1;Zeitumstellung;198
4;Drei;200
4.1;1. Fernsehen;202
4.2;2. Sonntag;207
4.3;3. Wichsen II;212
4.4;4. Enthüllungen;216
4.5;5. A2;224
4.6;6. Anwälte;230
4.7;7. Flashback;237
4.8;8. Open Air;244
4.9;9. Telefonate;252
4.10;10. Egel;258
4.11;11. Hepatitis;263
4.12;12. Splatter;275
4.13;13. Auflegen;280
4.14;14. Fickscheiße;283
4.15;15. Rückkehr;297
4.16;16. Retro;307
5;Dreieinhalb;312
5.1;Epilog;314
6;Anmerkungen;320
7;Was wurde aus …;323
8;Credits;331


5. Transit


Nach Jens’ überraschender Ankündigung ging es ziemlich schnell. Noch im August 1980, dem Monat meines zwölften Geburtstags, fuhr ein LKW vor, ein Wagen, der einen großen Kasten huckepack trug, in den wir mit Hilfe zweier einsilbiger, griesgrämiger Arbeitskollegen von Jens die Möbel und einen ganzen Haufen Kisten verluden, einschließlich der vier, in denen sich mein Erbe befand. Einige Möbelstücke waren verkauft oder auf den Sperrmüll gebracht worden, dazu gehörte das Drei-Etagen-Bett, in dem wir in der vergangenen Nacht unsere letzte gemeinsame verbracht hatten; Frank war immerhin schon dreizehn, und ich fühlte mich mit zwölf auch fast erwachsen, jedenfalls zu alt, um mit meinen Pflegebrüdern weiterhin ein Zimmer zu teilen – nach dem Umzug würde ich aufs Gymnasium gehen, durch das Drama meiner Eltern hatte ich ein Grundschuljahr verpasst. Meine Klassenkameraden lachten mich schon aus, weil ich in einem Etagenbett mit meinen Pflegebrüdern schlief. In Berlin sollten wir getrennte Zimmer bekommen, aber wie das genau aussehen würde, wussten wir noch nicht.

Nach ein paar Stunden war die Wohnung leer. Überall gab es Flecken, Stellen, an denen sich Möbel befunden hatten, und die wenigen Bilder, die an den Wänden gehangen hatten, hinterließen helle Rechtecke. Während der sechs Jahre, die ich nunmehr bei Jens und Ute verbracht hatte, war die Wohnung niemals umgeräumt oder renoviert worden; meine Pflegeeltern hatten auch kein einziges neues Möbelstück dazugekauft.

Ute würde noch ein paar Tage in Hannover bleiben, um die Handwerker zu überwachen, die ab dem Nachmittag tapezieren und streichen sollten. Darüber hatte es für Jens’ und Utes Verhältnisse heftigen Streit gegeben – eine etwa fünfminütige Diskussion, an deren Ende Jens leicht die Stimme hob, wobei sich seine mittlerweile fast bei den Ohren angekommene Glatze rötete, seine Stirn sich leicht mit Schweiß belegte und seine Augen zu winzigen Schlitzen wurden. »Ich will keinen Ärger bekommen«, sagte er.

Ich saß mit Mark bei Jens im BMW, dem selben Wagen, mit dem mich die beiden damals abgeholt hatten, und dank Jens’ akribischer Pflege sah das Auto praktisch unverändert aus, nur roch es schon lange nicht mehr nach der Haut von Kühen. Frank durfte mit den beiden Arbeitskollegen im LKW fahren, worum ich ihn beneidete, aber wenigstens saß ich vorn. Wir fuhren etwas später ab, weil der LKW viel langsamer fahren musste. Jens hatte es so berechnet, dass wir ungefähr zur gleichen Zeit ankommen würden.

Am Kreuz Hannover-Ost fuhr er auf die A2. Etwas später hob er die rechte Hand und zeigte auf ein Ausfahrtsschild.

»Hier ist es passiert«, sagte er und senkte die Hand wieder.

»Was ist hier passiert?«, fragte Mark. »Lehrte« hatte auf dem Schild gestanden.

»Hier sind Tims Eltern verunglückt«, erklärte Jens.

»Hier?«, war das Einzige, was ich herausbrachte. Ich war schockiert. Über den Unfall hatten wir nie wieder gesprochen, meinen Klassenkameraden hatte ich erklärt, dass meine Eltern gestorben seien, und ich hatte auch nicht weiter darüber nachgedacht. Wenn ein Mitschüler nachfragte, sagte ich automatisch: »Bei einem Autounfall.«

Jens nickte. Ich betrachtete die Fahrbahn, die keine Spuren aufwies, sah mir die Leitplanken an, das Gras und die Büsche beiderseits der Fahrbahn. Ich erwartete, dass dort irgendwas sein müsste. Ein Schild oder so was. Reste von dem zerstörten Auto. Ein Hinweis darauf, dass hier die Eltern von Tim Köhrey mit einem Sattelschlepper zusammengeprallt und gestorben waren. Aber es gab nichts. Einfach überhaupt nichts. Das verstand ich nicht. Da musste doch etwas sein. Meine Hände begannen zu zittern, und ich spürte, dass ich weinte, fand aber auch dafür keine Erklärung. Ich schloss die Augen, weil ich nicht sehen wollte, dass da nichts war. In diesem Augenblick vermisste ich meine Eltern schmerzlich, und die wenigen Erinnerungen, die ich an sie hatte, rasten durch meinen Kopf. Die erste Fahrt im neuen Golf, dem Auto, das die Welt ein bisschen verändern würde. Das Gesicht meines Vaters, wenn er mir einen neuen Stapel Formulare mitbrachte. Der Geruch meiner Mutter, das Wort »Kosmetik«.

Im Radio lief »Rock Your Baby« von George McCrae, ich kannte den Titel, weil es die oberste Single in der Kiste mit den neuesten Platten gewesen war, beim Erbe, der Plattensammlung meines Vaters.

Als ich die Augen wieder öffnete, sah Jens kurz zu mir herüber und nickte wieder, aber er sagte nichts. Mark legte mir die Hand auf die Schulter – die einfühlsamste Geste, die ich in dieser Familie jemals erlebt hatte und erleben sollte. Sekunden später zog er sie wieder weg.

Nach der Autobahnraststätte Helmstedt, auf der wir kurz anhielten, weil Jens uns fast zwang, zur Toilette zu gehen – »In den nächsten zwei Stunden können wir nicht mehr anhalten« –, erreichten wir den Grenzkontrollpunkt Marienborn. Ich war verblüfft. Über die DDR wusste ich so gut wie nichts, Thema in der Grundschule war das Land bisher nicht gewesen, ich hatte den Begriff zwar schon einige Male gehört, konnte aber wenig damit anfangen, und auch dass es eine Mauer gab und derlei, hing irgendwo in meinem Hirn, aber gleich neben Informationen über Irland, Island und Italien. Dass wir eine Grenze überqueren würden, irritierte mich.

»Liegt Berlin denn nicht in Deutschland?«, fragte ich unsicher, als wir am Ende einer der Dutzend Warteschlangen anhielten.

»Berlin-West schon«, sagte Jens.

»Berlinwest?«, murmelte Mark, während er seine Nase gegen die Fensterscheibe drückte. »Da sind Soldaten mit Gewehren«, sagte er und klatschte mit der linken Hand gegen die Scheibe.

»Und Berlin-Süd? Berlin-Ost? Berlin-Nord?«, fragte ich, mit den Fingern die Himmelsrichtungen abzählend.

»Es gibt nur zwei, Berlin-West und Ostberlin«, erklärte Jens, wobei er »Ostberlin« verächtlich aussprach. Er nahm seine Männerhandtasche aus Kunstleder auf den Schoß und zog seinen Pass und zwei Milchkarten heraus, Ausweise für Kinder. Auf dem Foto war ich acht Jahre alt.

»Warum gibt es zwei Berlins?«, wollte Mark wissen.

Jens ließ ein sehr leises Stöhnen hören. Er legte den Gang ein und schloss zu dem Auto vor uns auf, das sich einen halben Meter vorwärts bewegt hatte.

»Das erkläre ich ein andermal«, sagte er.

Als wir neben dem Häuschen hielten, in dem eine Art Polizist saß, versteifte sich Jens.

»Ist das ein Polizist?«, fragte Mark, der auf die Fahrerseite herübergerückt war.

»Pscht«, zischte Jens. Er starrte stur geradeaus, seit er die Papiere abgegeben hatte. Mark ließ sich gegen die Lehne zurückfallen. Aber nicht für lange. Als wir zwei Meter vorgefahren waren, zeigte er auf die merkwürdige Konstruktion, die das Häuschen, an dem wir eben gehalten hatten, mit einem baugleichen verband, das sich einige Meter vor uns befand.

»Wozu ist das?«

»Das ist ein Fließband. Unsere Ausweise werden damit transportiert.«

»Und wozu?«

Jens drehte sich um.

»Halt die Klappe.«

Was auch immer geschehen würde, diese Reise entleerte ein Füllhorn von Emotionen über mich, die ich von dieser Familie so nicht kannte.

Ein paar Minuten später hatten wir unsere Ausweise zurück und fuhren auf einer Autobahn, die aus hellgrauen Zementplatten zusammengesetzt zu sein schien, wodurch ein gleichförmiges Rattatt-Rattatt von den Reifen des BMW erklang. Die Nadel des Tachometers zeigte exakt auf die 100. Jens saß ein bisschen steif im Fahrersitz, und alle paar Sekunden blickte er zum Geschwindigkeitsanzeiger.

Nach einer Weile bemerkte ich, dass wir seltsame Gesellschaft hatten. Die wenigen Überholversuche, die Jens unternahm, betrafen in der Hauptsache LKWs oder ziemlich ulkige Autos, die irgendwie nach Spielzeug aussahen. Manchmal winkten die Menschen, die in diesen Autos saßen, zu uns herüber. Ich warf einen Blick zu Jens, aber der saß immer noch da, als hätte ihm jemand den Pullunder mit Blei ausgegossen, also fragte ich nicht. Ich winkte auch nicht zurück, lächelte den Leuten jedoch zu.

Die Landschaft, durch die wir fuhren, erschien mir etwas farbloser als die, die ich kannte.

»Das ganze Land ist von einer Mauer umschlossen«, sagte Jens nach einiger Zeit. »Ich erkläre euch das, wenn wir in Berlin sind.« Er wirkte bedrückt.

Von einer Mauer. Davon hatte ich gehört. War das eine Art Gefängnis? Bestand hier möglicherweise die Gefahr, dass man das vermauerte Land nicht verlassen dürfte, wenn man eines Verbrechens überführt würde? Ein unbehagliches Gefühl von Schuld überkam mich. Ich drückte mich in den Sitz und sah stur geradeaus, wie Jens das die ganze Zeit über tat.

Nach fast zwei Stunden ohne Pause oder die geringste Abweichung von konstanten hundert Stundenkilometern Reisegeschwindigkeit – »Das ist illegal«, flüsterte Jens auf meine Frage, warum wir nicht schneller fuhren – wiederholte sich das Procedere der Grenzkontrolle. Jens hatte gelbliche Zettel bekommen, die der polizistenartige, sogar im Vergleich zu Jens sehr blasse Mann in dem Kabäuschen behielt, dann fuhren wir auf die Avus; am Rand dieser Autobahn war mehr Wald, als ich bisher auf einmal gesehen hatte, aber Jens nickte auf Marks Frage, ob wir wirklich schon in Berlin wären. Einige Minuten später sah ich den Funkturm und das raumschiffartige, silbrig glitzernde ICC, das, wie mein Pflegevater erläuterte, der jetzt etwas gesprächiger wurde und sich sichtlich entspannte, im vergangenen Jahr...



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