E-Book, Deutsch, 288 Seiten
Reihe: Ullstein eBooks
Lieder Herzmuscheln und Bernsteinnächte
16001. Auflage 2016
ISBN: 978-3-8437-1197-5
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 288 Seiten
Reihe: Ullstein eBooks
ISBN: 978-3-8437-1197-5
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Susanne Lieder wurde 1963 in Ostwestfalen geboren. Sie ist verheiratet und hat drei erwachsene Söhne. Inzwischen lebt sie mit ihrem Mann auf einem kleinen Resthof in der Nähe von Bremen. Wenn sie könnte, würde sie sofort auf den Darß ziehen.
Autoren/Hrsg.
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1.
Mai
Hella stieß mit Schwung die Haustür des Mehrfamilienhauses auf, presste ihre rechte Hüfte dagegen und versuchte gleichzeitig, ihre beiden vollen Einkaufstaschen auszubalancieren.
Im Treppenhaus roch es grauenvoll nach gebratenen Zwiebeln, Fahrradreifen und nassen Socken.
Hella rümpfte die Nase und hielt die Luft bis zum zweiten Stock an. Die beiden Taschen fest an ihren Oberkörper gedrückt, versuchte sie, mit einer Hand den Schlüssel ins Schlüsselloch zu stecken.
Was nicht funktionierte.
Also stellte sie die Taschen ab und probierte es erneut.
»Ich bin’s, Mama!«, rief sie laut über den Flur.
Thea Hollenstedt, Hellas einundachtzigjährige Mutter, selbst um die Mittagszeit noch im geblümten, gesteppten Bademantel, kam über den Flur getrippelt und blickte sie verwirrt an.
»Hallo, tut mir leid, ich bin etwas spät.« Hella schob sich vorsichtig an der alten Dame vorbei und brachte die beiden Taschen in die aufgeräumte, blitzsaubere Küche.
»Frau Brandt war ja schon da«, stellte sie fest. Sie hatte Frau Brandt, eine freundliche, gutmütige Dame in den Sechzigern, vor gut einem halben Jahr angeheuert, Theas Wohnung in Schuss und sie selbst ein bisschen bei Laune zu halten.
»Ja?«, fragte ihre Mutter, die hinter ihr hergekommen war, verblüfft.
Hella begann, die Einkäufe einzuräumen. »So sauber, wie es hier ist.« Seit einiger Zeit kam auch der mobile Pflegedienst einmal täglich ins Haus. Außerdem hatte Hella ihre Mutter überreden können, immer einen tragbaren Notrufsender bei sich zu haben. Der Pflegedienst kam früh morgens, und Hella übernahm dann die Mittagsschicht, wie sie es nannte. Sie fragte sich gerade, wieso ihre Mutter noch im Morgenmantel war. Oder wieder?
»Warum bist du denn nicht angezogen, Mama?«
Thea blickte an sich herunter. »Ach das …« Sie runzelte angestrengt die Stirn und schien darüber nachzudenken, warum sie einen Morgenmantel anhatte. »Ich weiß nicht. Vielleicht wollte ich grade wieder ins Bett?« Sie schwirrte in Richtung Schlafzimmer ab.
Hella lief ihr nach und fasste sie sanft am Ellbogen.
»Es ist nach zwölf. Du hast ausgeschlafen.«
Ihre Mutter blieb stehen. »Ja?«
Hella nickte nachdrücklich. »Komm, ich koche uns was Leckeres.«
Thea schob ihre blasse, fast durchsichtige, mit Altersflecken übersäte Hand unter Hellas Arm. »Das ist schön. Ich hab ja solchen Hunger.«
»Tatsächlich?«
»Seit gestern hab ich nichts mehr gegessen.«
»Ach, Mama …« Hella seufzte, schob ihrer Mutter den Küchenstuhl unter den Allerwertesten und öffnete den Kühlschrank. »Worauf hast du denn Appetit?«
»Königsberger Klopse«, erwiderte ihre Mutter wie aus der Pistole geschossen.
Hella folgte einer Eingebung und öffnete das Tiefkühlfach über dem Kühlschrank.
Und tatsächlich, da war eine Tupperdose mit Königsberger Klopsen. Sie sprach im Geiste einen Toast auf Frau Brandt aus. Vielleicht sollte sie ihr eine kleine Gehaltserhöhung zahlen.
Dorothea Brandt war eine Perle. Sie kam dreimal die Woche, putzte, wusch ab, wienerte den Boden, saugte in sämtlichen Ecken und unterhielt Thea nebenbei mit kleinen, lustigen Anekdoten. Und sie kochte wie eine Göttin.
Hella nahm den Stieltopf, öffnete die blaue Tupperdose und klopfte so lange auf den Rand des Topfes, bis die eingefrorene Masse langsam hineinrutschte.
Sie drehte sich zu ihrer Mutter um, die am Tisch saß, das Kinn in der Handfläche aufgestützt, und verträumt vor sich hin blickte. »Mama? Möchtest du Nachtisch?«
Hella warf einen verstohlenen Blick auf ihre Armbanduhr. Sie wusste, dass sie zu spät dran war. Sie würde ihre Freundin Anna, Sekretärin und Retterin in der Not, anrufen und bitten müssen, etwas länger zu bleiben. Mit ein bisschen Glück und flachen Schuhen, in denen man gut rennen kann, könnte Hella es schaffen.
»Wackelpudding.« Ihre Mutter blickte noch immer verträumt auf ihre Hände.
»Du magst doch gar keinen Wackelpudding.«
Thea sah etwas pikiert auf. »Natürlich mag ich den. Als Kind hab ich den immer gegessen.«
Hella verkniff sich einen Kommentar. Sie rührte die Königsberger Klopse um und holte eine Packung Reis aus dem Schrank. Manchmal schaffte sie es, ihre Mutter auszutricksen, indem sie ihr etwas vor die Nase setzte, was Thea zwar nicht verlangt hatte, dennoch aber brav aß oder trank.
Hella deckte den Tisch und stellte eine hübsche weiße Kerze hin. Dann setzte sie sich zu ihrer Mutter und griff über den Tisch nach deren eiskalten Händen. »Wie geht’s dir heute? Macht dir das Wetter noch so zu schaffen?«
Thea Hollenstedt schenkte ihrer einzigen Tochter ein warmherziges Lächeln. »Ach, Kind … Du weißt ja, wie das ist. Was hilft all das Jammern und Klagen?«
Hella stand wieder auf, um den Reisbeutel ins kochende Wasser zu geben. »Weißt du, ich hab mir was überlegt. Was hältst du davon, wenn du zu mir ziehst?«, fragte sie wie beiläufig.
Ihre Mutter aus dieser Wohnung zu bekommen, in der sie seit über vierzig Jahren wohnte, hatte sich zu einem großen Problem entwickelt. Hier hatte sie mit ihrem Mann, Hellas Vater, gelebt und viele glückliche Jahre verbracht.
Vor etwa einem halben Jahr hatte Hella die ersten Veränderungen an ihrer Mutter bemerkt. Sie wurde eigenartig fahrig und launisch und vergaß zunehmend Dinge, die sie sich früher spielend gemerkt hatte. Manchmal ging sie ins Wohnzimmer und dachte nicht daran, das Küchenfenster zu schließen. Schlimmer noch, zweimal schon hatte sie einen Topf auf der heißen Herdplatte vergessen.
Sie hatten ein Abkommen: keine Kerzen, kein Feuerzeug, nichts, was irgendwie in Brand geraten könnte.
Der Reis kochte, und Hella sprang wieder auf.
Während sie im Topf rührte, musste sie an ihren Sohn denken. Marius war seit einiger Zeit nicht weniger durcheinander als seine Großmutter, wenn auch aus anderen Gründen. Er steckte mitten in einer ausgesprochen schwierigen, nervtötenden Pubertät. Nervtötend nicht für ihn, sondern für seine Umwelt, allen voran seine Mutter. Joachim, sein Vater, war vor gut einem Jahr aus dem gemeinsamen Reihenhaus ausgezogen, so dass Hella das Pubertätschaos hauptsächlich allein ertragen musste. Seit ein paar Monaten lebte Joachim mit Daniela zusammen. Das Verhältnis zwischen Joachim und Hella war freundschaftlich. Das war es bereits gewesen, bevor er ausgezogen war. Es war einer der Hauptgründe, weshalb sie sich überhaupt getrennt hatten. Aus ihrer großen Liebe war Freundschaft geworden.
Hella gab etwas Reis und zwei Klopse auf einen Teller. Dann füllte sie einen großzügigen Klecks Soße dazu. Sie wusste, dass ihre Mutter Soße über alles liebte.
Sie schob ihrer Mutter eine Gabel hin und nahm sich selbst einen Teller.
Thea wartete brav, bis Hella ihren eigenen Teller gefüllt hatte. »Schön, dass du gekommen bist, Minchen.«
Hella setzte sich ihr gegenüber und lächelte. »Ich komme doch jeden Tag, Mama.«
Ihre Mutter begann zu essen, wobei sie die Königsberger Klopse auf dem Teller hin- und herjagte.
Schließlich nahm Hella ihr Messer und zerteilte die Klöße so, dass ihre Mutter sie essen konnte. »Ich muss gleich wieder in die Praxis.«
»Was für eine Praxis, Kind?«
»Meine eigene.« Hella legte ihre Hand auf die ihrer Mutter. »Ich hab mich doch selbstständig gemacht. Vor einem halben Jahr. Erinnerst du dich? Ich hab’s dir doch erzählt.«
Ihre Mutter nickte langsam, doch Hella ahnte, dass sie höchstwahrscheinlich keinerlei Erinnerung daran hatte.
Ihr Kurzzeitgedächtnis war eine einzige Katastrophe, oft wusste sie nicht mal mehr, was sie eine halbe Stunde zuvor getan hatte. Ihr Langzeitgedächtnis hingegen funktionierte einwandfrei.
Hella stand auf und holte zwei Joghurt aus dem Kühlschrank. Sie stellte ihrer Mutter den mit Himbeergeschmack hin.
Thea versuchte, den Deckel zu öffnen, wobei sie den Becher umwarf.
Hella bemühte sich, geduldig abzuwarten, dann erst griff sie ein. Sie öffnete den Deckel und schob ihrer Mutter den Becher hin.
Die schien bereits wieder vergessen zu haben, dass sie Wackelpudding verlangt hatte. »Bist du Ärztin?«
»So etwas Ähnliches. Ich bin Psychotherapeutin.«
»Ach ja.«
»Denk doch einfach mal darüber nach, ob du nicht zu uns ziehen möchtest.« Hella, die in Windeseile aufgegessen hatte und damit sehr wahrscheinlich wieder Magenschmerzen bekommen würde, erhob sich und räumte den Tisch ab. Wenn ihre Mutter bei ihr wohnen würde, ersparte ihr das eine Menge Zeit, Hektik und Sorgen. Sie wusch das Geschirr ab und stellte es kopfüber auf die Spüle.
Dann schob sie den Arm unter den ihrer Mutter und brachte sie ins Wohnzimmer hinüber. Die alte Dame setzte sich in ihren Ohrensessel, die Beine legte sie auf den Hocker davor.
Hella rückte den kleinen Tisch zurecht, vergewisserte sich, dass alles an Ort und Stelle lag, was ihre Mutter den Nachmittag über brauchen würde, und überprüfte, ob sie den Notrufsender um den Hals trug. Dann gab sie ihr einen Kuss auf die Stirn. »Bis heute Abend, Mama.«
»Ach, dann kommst du heute Abend wieder?«
»Natürlich.« Hella wusste, dass ihre Mutter es bereits in spätestens einer halben Stunde wieder vergessen hatte.
Thea lächelte verzückt. »Ich sehe mir die Serie an. Die mit dem Hotel in Bayern. Der Portier ist ein so...