E-Book, Deutsch, 480 Seiten
Reihe: Piper Taschenbuch
Lewis Schlussstriche zieht man nicht mit Bleistift
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-492-97340-3
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 480 Seiten
Reihe: Piper Taschenbuch
ISBN: 978-3-492-97340-3
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Mary Lewis, geboren 1968 in Kent, ist eine begeisterte Landschaftsarchitektin, und wenn sie nicht gerade an märchenhaften Entwürfen für üppige südenglische Privatgärten arbeitet, widmet sie sich in ihrem Cottage der Schriftstellerei. Sie lebt mit ihrer Tochter und einem frechen Jack Russell Terrier im Südosten von England.
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KAPITEL 1:
Mitten im kalten Winter
Oktober
Rosa alba
Diese edle Rosensorte, die bereits in der Antike von Griechen und Römern kultiviert wurde, ist an Robustheit unter den alten Rosensorten unübertroffen. Ihr elegantes Laub ist graugrün, die Blütenblätter sind hauchdünn wie Reispapier und rangieren farblich zwischen Weiß und zarten Rosaschattierungen und ihr erfrischender Duft zeichnet sich nicht selten durch eine leichte Zitrusnote aus. Erwähnenswert sind unter anderem die zartrosa blühende, edel bis süß duftende Maiden’s Blush, des Weiteren Belle Amour, deren Blüten von einem kräftigen Korallenrosa sind und einen schweren Myrrheduft verströmen, sowie die cremeweiße Jakobitenrose mit ihrem lang anhaltenden, aromatischen Zitrusduft, die zur Zeit der Rosenkriege als die »Weiße Rose von York« Berühmtheit erlangte.
Es ist Donnerstagvormittag und ich versuche, möglichst wenig Lärm zu machen, während ich die Lunchpakete für die Jungs vorbereite, damit niemand aufwacht, ehe ich meine zweite Tasse Tee intus habe. Ben und Alfie, die beiden Jüngeren, stehen tendenziell noch recht früh auf, Dan dagegen würde selbst dann weiterschlafen, wenn im Wohnzimmer eine Blasmusikkapelle aufspielen würde. Er ist jetzt dreizehn und ohne jeden Zweifel schon ein richtiger Teenager, mit allem, was dazugehört. Wäre er sich selbst überlassen, er würde wohl komplett die Nacht zum Tag machen. Das ist eines dieser absolut typischen Phänomene in der wunderbaren Welt der Mütter – erst bringt man zehn verdammte Jahre damit zu, die kleinen Biester zum Einschlafen zu bewegen, dafür kommen sie dann die darauffolgenden zehn Jahre morgens ums Verrecken nicht aus den Federn. Ein paar Spritzer kaltes Wasser sind die einzig sichere Methode, um Dan aus dem Bett zu scheuchen. Allerdings verwende ich sie nur, wenn seine Brüder nicht in der Nähe sind. Der Zahnputzbecher eignet sich besonders gut, während Ben wohl die bis zum Anschlag aufgedrehte Dusche zu Hilfe nähme, wenn der Schlauch lang genug wäre. Erst vorige Woche habe ich ihn dabei ertappt, wie er sich mit dem Gartenschlauch ins Haus schleichen wollte. Alfie ist der Ansicht, seine riesige Piratenschatzkiste sei für diesen Zweck der ideale Wassertransportbehälter. Gut möglich, dass irgendwann derartige Mengen kaltes Wasser vonnöten sein werden, um Dan zu wecken, weshalb ich nicht ausschließe, dass das Ding tatsächlich irgendwann zum Einsatz kommt.
Ich ergötze mich gerade an der Vorstellung meines triefend nass in seinem Bett sitzenden Erstgeborenen – quasi eine Mischung aus gebadeter Maus und begossenem Pudel –, da klingelt das Telefon und macht meine Hoffnungen auf eine ruhige halbe Stunde jäh zunichte. Na toll!
»Ah, gut, du bist schon wach.«
»Morgen, Mum.«
»Bist du schon auf dem Sprung?«
»Noch nicht. Ich muss erst die Jungs in die Schule bringen.«
»Du weißt doch, wie sehr sich dein Vater aufregt, wenn …«
Herrgott noch mal, sie ruft mich ernsthaft um sieben Uhr morgens an, um mich daran zu erinnern, wie sehr Dad Unpünktlichkeit verabscheut?
»Ich komme, so schnell es geht, Mum.«
»Denk daran, etwas Schickes für die Beerdigung einzupacken, ja?«
»Mein schwarzer Hosenanzug liegt bereit.«
»Du hattest ein paar so hübsche schwarze Röcke, als du noch im Hotel mitgearbeitet hast.«
»Das ist fast zwanzig Jahre her, Mum. Damals habe ich noch studiert und im Übrigen fand Dad meine Röcke immer viel zu kurz.«
»Ich weiß, aber …«
»Mum, ich weiß, Dad befindet sich auf einer Art Ein-Mann-Vernichtungsfeldzug gegen alle Hosenanzüge dieser Welt, aber ich bin inzwischen ein großes Mädchen und darf anziehen, was ich will.«
Sie seufzt und ich bekomme wie so oft ein schlechtes Gewissen. Ich sehe förmlich vor mir, wie sie, noch schlaftrunken, in ihrem Morgenmantel in der Küche sitzt. Vor jeder Familienzusammenkunft ist sie ein einziges Nervenbündel, lange bevor die ersten Gäste eintreffen.
»Hör zu, Mum, das einzige Kostüm, das ich besitze, ist marineblau. Und das finde ich nun nicht gerade passend für eine Beerdigung. Und ich kann es mir nicht leisten, mir ein neues zu kaufen, nur weil Dad der Ansicht ist, dass ich zu formellen Anlässen keine Hose tragen sollte. Wenn er später wieder eine seiner Hosen-Hasstiraden vom Stapel lässt, dann erinnere ihn doch bitte daran, dass Hosenanzüge für Prinzessin Anne ja auch fein genug sind. Erst gestern war sie bei irgendeinem öffentlichen Auftritt in den Nachrichten zu sehen und sie hatte eine Hose an, obwohl weit und breit keine Pferde in Sicht waren. Wenn sich eine Adlige so etwas erlauben darf, dann sollte das Tragen von Hosenanzügen bei offiziellen Anlässen doch auch mir gestattet sein, meinst du nicht?«
Dad hatte von jeher eine Schwäche für Prinzessin Anne und ihre Einstellung zu ihrer königlichen Abstammung: »Ich bin zwar blaublütig, aber das hält mich nicht davon ab, Fotografen zu beschimpfen.« Mein Leben würde sich sicher bedeutend einfacher gestalten, wenn ich gelegentlich einen auf Prinzessin Anne machen würde. Vielleicht kann man Pferde ja so abrichten, dass sie Menschen, die einem ein Dorn im Auge sind, einen Tritt verpassen. Eine Win-win-Situation auf der ganzen Linie. Andererseits wurde ich abgeworfen, als ich das letzte Mal auf dem Rücken eines Pferdes saß, also sollte ich es wohl lieber bleiben lassen.
»Ich bin sicher, mein Hosenanzug ist der Situation angemessen.«
»Ich hoffe nur, er ist auch warm genug. Hier ist es seit ein paar Tagen bitterkalt. Georgina hat sich ein hübsches neues Kostüm zugelegt und einen dazu passenden Steppmantel. Sie hat gesagt, wenn du willst, kann sie dir gern etwas borgen. Nett von ihr, nicht?«
Ja, ganz reizend. Ich leihe meiner frisch geschiedenen Schwägerin mal eben ein paar aussortierte Klamotten. Am besten die wattierten Teile. Welch beispielloser Akt der Selbstlosigkeit!
»Danke, Mum, aber bitte sei so gut und sag Georgina, dass sie mir nichts leihen muss. Sie versucht sonst wieder, mir irgendetwas aufzudrängen, was ich gar nicht haben will.«
»Du siehst sie ohnehin heute Abend beim Essen.«
»Ach, richtig.«
Mist. Dass Roger und Georgina am Abend mit von der Partie sein sollten, war mir völlig entfallen. Das heißt, ich muss nicht nur ein Abendessen mit meinem nervigen Bruder und seiner bescheuerten Göttergattin über mich ergehen lassen, sondern mich bei der Gelegenheit auch noch bei ihr dafür bedanken, dass sie gewillt ist, mir irgendeinen Fummel zu leihen, den ich nicht einmal mit der Kneifzange anfassen würde und der mir ohnehin mindestens drei Größen zu klein wäre. Yippie.
»Ich dachte, ich mache Sheperd’s Pie. Georgina bringt einen Nachtisch mit.«
»Super.«
Das bedeutet dann wohl zwei Himbeeren und einen Teelöffel Sorbet pro Person. Georgina ist andauernd auf Diät, denn ihre einzige Leidenschaft ist die Anschaffung von Bekleidung in immer noch kleineren Größen. Sie besitzt mehr Klamotten als jedes andere menschliche Wesen, das ich kenne, einschließlich Lola. Wobei Lola meine beste Freundin ist und nur Outfits kauft, bei denen man grün vor Neid wird, während Georgina mit Vorliebe überladene Hosenanzüge mit glänzenden Knöpfen und scheußliche glitzernde Abendroben kauft. Sie kommt mir vor wie eine Kreuzung aus Barbie und Imelda Marcos, aber auf vornehm getrimmt. Ihre Schuhe bewahrt sie in speziellen Schachteln auf, an denen vorne ein Foto des darin enthaltenen Paars angebracht ist, damit sie auch ja nicht lange nach den kirschroten Sandalen oder den marineblauen Pumps suchen muss. Eine völlig fremde Welt für mich, die ich morgens schon froh bin, wenn ich überhaupt zwei zueinanderpassende Schuhe finde. Vorige Woche hatte ich, als ich die Kinder zur Schule brachte, doch glatt einen schwarzen und einen dunkelblauen Mokassin an. Also musste ich blitzschnell meine Sprösslinge abliefern und dann noch mal nach Hause rasen, um den Fauxpas zu beheben, sonst hätten meine werten Kollegen bestimmt gemutmaßt, dass ich einen scheidungsbedingten Nervenzusammenbruch habe. Georgina ist auch allzeit perfekt geschminkt, sogar schon morgens beim Frühstück. Sie erinnert mich an die krampfhaft lächelnden, stets mit etwas zu dunklem Make-up zugespachtelten Angestellten in der Kosmetikabteilung eines Kaufhauses, die einen ungefragt in eine Parfümwolke hüllen. Manchmal frage ich mich, ob meine Schwägerin heimlich eine Statistenrolle in einer postmodernen Neuverfilmung der Frauen von Stepford angenommen hat. Wahrscheinlich besorgt sie sich als Nächstes einen fahrbaren Servierwagen.
Mum leiert die Liste der Zutaten für ihre Hirtenpastete herunter, als würde ich tatsächlich zu diesen verrückten Hühnern gehören, die morgens um zehn nach sieben schon diskutieren wollen, ob man für das perfekte Kartoffelpüree nun besser die Sorte »King Edward« oder doch lieber »Maris Piper« verwendet.
»Kommen Henry und Alicia eigentlich auch zur Beerdigung?«
Bislang bin ich mit meiner Nichte und meinem Neffen noch nicht so recht warm geworden. Kein Wunder – Georgina kann man nun nicht gerade als warmherzige Vollblutmutter bezeichnen und Roger ist, was Kindererziehung anbelangt, erst recht ein hoffnungsloser Fall. Deshalb besuchen Henry und Alicia, praktisch seit sie gehen können, eine private Grundschule, welche wie fast alle Privatschulen offenbar auf Kinder spezialisiert ist, die nicht sonderlich helle, dafür aber reichlich eingebildet und verwöhnt sind – eine tödliche Kombination. An den Tischmanieren der beiden gibt es nichts zu mäkeln, dafür kommen sie sich allerdings derart privilegiert vor, dass man...