E-Book, Deutsch, 176 Seiten
Reihe: textura
Levi Die doppelte Nacht
1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-406-82370-1
Verlag: Verlag C. H. Beck GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Eine Deutschlandreise im Jahr 1958
E-Book, Deutsch, 176 Seiten
Reihe: textura
ISBN: 978-3-406-82370-1
Verlag: Verlag C. H. Beck GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Im Jahr 1958 reist der weltberühmte Autor von «Christus kam nur bis Eboli» nach Deutschland. Von Mussolinis Regierung war er verhaftet, verbannt und später ins Exil getrieben worden. Nun sieht er von München bis Berlin wundersam wiederaufgebaute Städte – und dahinter das Schweigen, die Verdrängungen und die Verwüstungen der Vergangenheit.
Levi lässt sich durch Münchner Nachtlokale treiben und spricht mit schlesischen Vertriebenen, die in den Baracken des KZ Dachau wohnen. Von Augsburg über Ulm bis Tübingen begegnet er der deutschen Geschichte seit dem Mittelalter und befragt sie im Spiegel der jüngsten Geschehnisse. Er streift durch die beiden Hälften des geteilten Berlin, die "mitleiderregenden Schwestern der inneren Unfreiheit". Im Pergamonmuseum wird er Zeuge der Rückkehr von Kunstwerken, die während des Kriegs nach Moskau verbracht wurden. Mit seinem ethnographischen Röntgenblick schaut Levi in die menschlichen Abgründe von Nachkriegsdeutschland und horcht in die „hohle Stille aus Fragen und Erschütterung“. Sein sprachmächtiger Reisebericht, der sich nie zur Anklage erhebt, besticht durch seinen feinen, warmherzigen Ton. Er ist ein eindrucksvolles Zeugnis von den Spuren einer gewalttätigen Geschichte in einem ganzen Land.
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Wieder einmal erscheint der Flughafen von Ciampino vor mir, mit seinen grellen Lichtern im Dunkel des zu früh hereinbrechenden Abends, mit den verschwommenen Formen der Flugzeuge, einsamer, auf dem Rollfeld verstreuter Vögel: ein leerer Raum der Loslösung, Sprungbrett zu einem unbekannten Ort, zu anderen Menschen, anderen Ländern, in denen alles anders und fremd ist und neu in uns, das Alltägliche wird ausgelöscht, und das Weltgebäude, das wir aus gewohnten Gesten und Abläufen um uns errichtet haben, verschwindet. Hinter den großen Fenstern sehe ich in den Hügeln der Castelli schüchtern die Fluglichter von Rocca di Papa leuchten: Alles ist an seinem Platz, die Angestellten, die Kofferträger, die Mechaniker, das Gepäck, die Reisenden, diese unsicheren Wesen, die mit ihren Zeitungen in der Abflughalle sitzen und des Wartens schon müde sind. In einem eigens für Kinder abgegrenzten Bereich mit Glaswänden, einem durchsichtigen Käfig gleich, lassen junge Amerikaner, denen vermutlich ein beträchtlich längerer Flug bevorsteht als mir, Hula-Hoop-Reifen um ihre Körper kreisen. Wie konzentriert und ernst ihre Gesichter mit den kleinen Stupsnasen und den blonden Haarschöpfen über den sommersprossigen Stirnen doch sind! Sie sind wahre Profis in diesem Spiel. Es wirkt so, als würden sie sich bei diesem ganzen Wirbeln überhaupt nicht bewegen: locker, natürlich, wie jemand, der in eine wie dieser Reifen schnelle, zerbrechliche und kreisende Welt geboren wurde. Ein Mädchen, das bisher nur zugesehen hatte, lässt sich von seinem Bruder den Reifen geben: Sorgfältig befreit es sich von ihrem störenden Mantel und der Wollmütze und wirft sich mit würdevoller Konzentration den Reifen um die Hüften. Aber es ist noch klein und ungeschickt: Bald ist es dieses monotonen und schwierigen Kreisens müde, das allzu oft mit einem Herunterfallen endet. Nun nimmt es den Reifen, führt ihn aufrecht über seinen Kopf und unter ihren Füßen hindurch, die es im Rhythmus hebt, und verwendet ihn wie zum Seilspringen, wie eines jener vergessenen Springseile aus einer kindlich anderen Zeit. Es zählt seine Sprünge, verheddert sich und überlässt das Spielzeug wieder seinem Bruder. Der nimmt die vollkommenen und unbeirrbaren Drehungen dieses abstrakten, endlosen Kreisens wieder auf, wie die Zeit, eine Uhr, die unzähligen Schicksale. Mit seiner Hand lenkt das Mädchen dieses kreisende Objekt (oder zumindest glaubt es das). Der Junge befindet sich im Zentrum dieses Drehens, das, auch wenn es von seinen unsichtbaren Bewegungen ausgelöst wird, ihn umgibt und scheinbar für immer fortdauern muss, das ihn bezwingt und einschließt. Der grüne Plastikreifen dreht sich, lärmend drehen sich die Propeller. Eine mechanische Stimme verkündet den Abflug. Wir brechen auf, jeder aus einem bekannten und konkreten Grund: Geschäfte, ein Treffen, ein Kongress, das Studium, aus Pflicht oder zum Vergnügen. Wir wissen, wohin wir reisen: Aber wissen wir auch, weshalb wir das, was zurückbleibt und uns nicht folgt, hinter uns lassen? Vielleicht ist der Bruch, den eine Reise bedeutet, stets eine Flucht oder eine unbewusste Suche, ein Entrinnen, ein Loslassen. Deshalb winken jene, die zurückbleiben, mit Taschentüchern, Tränen in den Augen: Sie sind es ja, die in die unbewegliche Zeit zurückkehren müssen. Eine Abreise trennt: Man entflieht Schmerzen und Unsicherheit, Unruhe und Entscheidungen; man entflieht Wiederholung und Eintönigkeit; man entflieht auch dem köstlichen Honig des Glücks (jenen bekannten Schritten, den vertrauten Geräuschen beim Aufwachen, dem Klappern der Löffel auf den Suppentellern, einem Rufen aus dem Hinterhof, dem Vogel auf dem Baum vor dem Fenster, den sanften Farben des Himmels). So ziehen Soldaten in den Krieg, voll Schrecken, Erniedrigung und Schmerz, aber doch auch mit der ambivalenten Freude im Herzen, die geliebte Braut, die teuren Kinder, die geregelte Arbeit, das liebe, höchst verhasste Alltagsleben hinter sich zu lassen. Und die Worte, die großen Worte, Vaterland, Ruhm, Ehre – auch Tod –, sind nichts weiter als dieser Wille, zurück in die Jugendzeit zu fliehen, der Wunsch, den wahren Krieg des täglichen Lebens den Zurückbleibenden zu überlassen. Wie ein sich abwechselnd ausdehnendes und zusammenziehendes Herz bringt der Motor unsere widersprüchlichen Gefühle zum Ausdruck und trägt sie in sich, wie auch unser gelegentliches Bedürfnis nach Einsamkeit in dieser dicht bevölkerten Welt. Vielleicht gab es auch für mich wie für alle anderen (aber eigentlich glaube ich das nicht, allzu schwierig ist für mich das Loslassen, allzu niederdrückend die Schwere der Trennung) jedes Mal, wenn ich zu einer Reise aufbrach, neben dem praktischen und offensichtlichen Anlass einen eigenen unbewussten Grund, der mich antrieb. Doch heute, da ich für einen Vortrag nach Deutschland reise, den zu halten ich nicht ablehnen konnte, sowie für Verhandlungen mit Verlegern, würde ich sagen, dass mich, meiner Gefühlskälte und einer gewissen ungewohnten Langeweile nach zu urteilen, keine mir unbekannten, mysteriösen Beweggründe dazu verleiteten. Alles wirkt vertraut: die Bediensteten an der Gangway, die Sicherheitsgurte, die reizende Stimme der Stewardess, die Bonbons, die unseren Aufstieg in den Himmel begleiten. In der Lufthansa-Maschine herrscht eine schon weihnachtliche Stimmung: Wie in einer Dorfkapelle wurden kleine Kerzen entzündet, zwischen grünen Tannengirlanden, die die Neonlampen verbergen. Es ist nämlich der Abend des Nikolaustages, des Tages dieser voreiligen nordischen Befana, Vorhut der Weihnachtstage mit weißem Rauschebart und rotem Mantel, der gutmütig die Plätze in Deutschland bevölkert. Der Flug vergeht so schnell, dass er jegliches Gefühl des Übergangs auflöst, eingehüllt ins nächtliche Schwarz, über einer heraldischen und abstrakten Symbolsprache aus Lichtern, vielleicht Straßen, Städten und Dörfern dreier Nationen ohne Grenzen; es bleibt keine Zeit für die stoffliche Veränderung von Körper und Sinnen, die uns beim langsamen Reisen zu Lande, Schritt für Schritt, den aufeinanderfolgenden Orten ähnlich macht, uns, ohne dass wir es merken, an die sich wandelnden Sprachen, Gesten und Naturerscheinungen anpasst; es bleibt auch keine Zeit zum Nachdenken, zur Suche nach einer Ordnung in diesem verschwommenen Wartezustand. Verblüfft stelle ich fest, dass ich, was mir selten passiert, bei der Abreise viele Dinge vergessen habe, die mir unbedingt notwendig erschienen waren: ein deutsches Wörterbuch, das meine spärlichen Kenntnisse dieser Sprache wettmachen sollte, eine Tasche voller Bücher über Deutschland und ein Notizbuch mit Tipps und Adressen. Aber was soll’s! Die lauwarme Luft und das Dröhnen der Maschine erfüllen mich mit Sanftmut, beinahe mit einem vagen Gefühl des Mitleids (für die vergessenen Gegenstände, für mich selbst?). Und dann sind wir auch schon auf dem Flugfeld in München gelandet und rollen weiter, um vor der wuchtigen, habsburgischen Fassade des Flughafengebäudes Halt zu machen. Mit ihren teilnahmslosen Augen, die einen zwar nicht wie einen Schuldigen, aber doch wie ein Ding betrachten, haben auch die Zollbeamten, die penibel und systematisch unser Gepäck überprüfen, wie die Flughafenarchitektur etwas vom Bürokratischen und Altbackenen, vom Harten und zugleich Unterwürfigen eines alten, unvergessenen Österreichs; hölzerne väterliche Beamte eines kleinen, beschränkten und sich dessen bewussten Reiches. Die Stadt ist nicht weit entfernt: Nach im Dunkeln verborgenen Vorstadthäusern, ordentlichen Wegen und erhabenen, blendend weißen Statuen zwischen Hecken kleiner Gärten und nach dem Überqueren der Isarbrücke sehe ich in der Luft der unerwartet milden Nacht die akkurat rekonstruierten Fassaden der Maximilianstraße von der Jahrhundertwende symmetrisch zu beiden Seiten an mir vorüberziehen; nur hier und dort, hinter dem Denkmal für König Maximilian II., lassen ein schwarzer Riss oder ein leeres Fenster noch Zeichen der Zerstörung erkennen. Wenige Automobile verkehren still auf der Straße, die Leute gehen ruhig auf den Bürgersteigen umher; die Mädchen in Begleitung ihrer Mütter, die blonden Jungen, die fest eingemummelten und mit Schals umwickelten Männer, alle strahlen sie durch ihre Haltung blühendes Leben und Selbstsicherheit aus, was auf die Gelassenheit ihrer Gewohnheiten schließen lässt und eine Welt evoziert, in der die pedantische Begrenztheit der familiären und bürgerlichen Horizonte die Gewissheit und das Gewicht von Pyramiden annehmen kann. In dieser Abendstunde, da sich alle ohne Eile auf den ...