E-Book, Deutsch, 448 Seiten
Lethem Der Fall Brooklyn
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-608-12388-3
Verlag: Klett-Cotta
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 448 Seiten
ISBN: 978-3-608-12388-3
Verlag: Klett-Cotta
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Jonathan Lethem, geboren 1964 in New York, ist Autor zahlreicher Romane, darunter die Brooklyn-Romane »Motherless Brooklyn« und »Die Festung der Einsamkeit«. Für sein Werk erhielt er zahlreiche Preise und Auszeichnungen, u.a. den »National Book Critics Award«, den »Gold Dagger« und das »MacArthur Fellowship«. Lethem hat am Pomona College in Südkalifornien die Professur für Creative Writing inne. Zurzeit lebt er mit seiner Familie in Kalifornien. Weitere Informationen zu Jonathan Lethem finden Sie auf seiner Website www.jonathanlethem.com
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4.
Ein Schwarzer und drei weiße Jungs gehen mit Hockeyschlägern westwärts die Dean Street entlang und überqueren die Smith Street. Dann, an der Court Street, wo die Dean ausläuft und ihren Namen in Amity ändert, betreten sie Cobble Hill. Von dort wenden sie sich nach Süden, die Clinton Street entlang, Richtung Carroll Gardens, dem italienischen Viertel.
Zwei der drei weißen Jungs sind dreizehn. Der dritte, ein Elfjähriger, ist ein jüngerer Bruder.
Der jüngere Bruder ist, offen gesagt, ein Kompromisskandidat. Sie brauchen ihn für ein Viererteam. Sie sind mit einer eingespielten rein italienischen Truppe, die sie in der Henry Street erwartet, zum Streethockey verabredet.
Der jüngere Bruder musste erst überredet werden, weil – Hockey? Streethockey? Doch sein älterer Bruder nimmt ihn nur noch selten mit, und ihm gefällt, dass es noch immer passieren kann. Sein älterer Bruder und seine Freunde haben gesagt, sie bräuchten ihn.
Dann also Streethockey. Warum nicht.
Keiner der drei weißen Jungs ist Italiener. Sie wohnen, wie der Schwarze, alle in der Dean Street.
Wenn sie schon keine Italiener sind, sind sie dann was anderes? Klar, ein Mischmasch. Ein undefinierbarer Haufen WASPs, Halbjuden, Hippies, was auch immer. Keiner mit einer Identität, die es mit der der Italiener aufnehmen könnte.
Sie sind Brownstoners.
Der Schwarze Junge ist zehn Monate älter, ein Schuljahr höher an der staatlichen Schule und vom Stellenwert selbst dem ältesten der drei weißen Jungs weit voraus, die er gerade für eine erwartbare Niederlage in das fremde Revier von Carroll Gardens führt.
Weiß einer dieser vier Jungs, wie man in Turnschuhen Hockey spielt – und sei es auch nur Streethockey? Nicht wirklich.
Der Schwarze Junge ist ihre größte Hoffnung, wegen seines Selbstvertrauens, seiner Energie und seines Könnens bei Straßenspielen im Allgemeinen.
Der jüngere Bruder hingegen dürfte so gut wie nutzlos sein. Man muss ihn bestimmt immer wieder aufmuntern, damit er weiterspielt, so, wie man ihn auf dem Weg in das unbekannte Viertel ständig aufmuntern muss. Der jüngere Bruder könnte ein Totalausfall sein. Aber wenn sie mit weniger als vier Spielern aufkreuzen würden, bräuchten sie gar nicht erst anzutreten.
Sie sind jedenfalls eine seltsame Truppe. Die italienischen Jungs werden sie plattmachen. Es hat etwas Ruhmvolles, zu wissen und doch nicht zu wissen, wo sie da reingeschlittert sind. Es ist allein schon unglaublich, dass sie es geschafft haben, vier Hockeyschläger aufzutreiben – die Kelle gesplittert und komplett mit Isolierband umwickelt, auch wenn sich darin die Aussichtslosigkeit ihrer Aufgabe zeigt.
An der Ecke Kane Street begeben sie sich eine Straße weiter westwärts und gehen am stillen Schulhof der P. S. 29 vorbei, um zur Henry Street zu gelangen. Es ist ein Samstagnachmittag Anfang Mai. Hier bleiben wir zurück und lassen die Jungs in das honigfarbene Licht einbiegen, das sich über die Dächer wölbt, durch das Laubdach sickert und sich auf die kunstvollen Simse der Brownstones legt. Wir lassen sie einen Moment aus den Augen, lassen sie unbegleitet ihrem Schicksal entgegengehen. Das liegt näher an der Wahrheit. Niemand sieht sie, nicht in diesem Moment.
Ein Mittel gegen Lyrismen. Halten wir das Licht, besonders das honigfarbene Licht, von unseren Augen fern. Nur die Fakten, Mann – keine malerischen Effekte. Wir sind hier, um Verbrechen aufzulisten. Oder vielleicht, um Vorfälle, die keine Verbrechen und eher die Ausnahme sind, von einem allgemeinen kriminellen Hintergrund zu unterscheiden. Uns geht es nicht darum, Licht auf Gesichtern zu schildern oder Licht, das durchs Laub auf Simse fällt. Die Stadt ist ein Netz von schematischen Darstellungen. Versuchen wir, ein paar Nadeln in die Karte zu stecken. Unnötig, Schmetterlinge aufzuspießen. Keine Schmetterlinge, kein schmeichelndes Licht.
Wir folgen dem Beispiel der Jungs: Hüte deine Geheimnisse, verberge deine geheimen Exzesse. Sollte es zwischen zwei dieser vier Dean-Street-Jungs eine spezielle Anziehungskraft oder Romanze geben, so wird sie jetzt strikt hinter der kriegerischen Fassade dieses Nachmittags bewahrt. Vier Körper marschieren, die Schläger geschultert. Ein Anblick, den wir noch nie gesehen haben.
An der Ecke Henry und President Street treffen die vier auf vier andere. Ein Tag der Vierergruppen. Das sind nicht ihre vorgesehenen Gegner, die warten vermutlich sechs Straßen weiter. Es sind vier andere Italiener, die an der Straßenecke auf Stühlen sitzen, vor einem unbeschilderten Clubhaus, einem kleinen Laden mit schwarz gestrichenen Fenstern. Wir sprechen hier natürlich von Einheimischen, es sind der Nationalität nach keine Italiener, womöglich war keiner von ihnen je in Italien, vielleicht hat einer eine aus Scham verschwiegene puerto-ricanische Mutter, aber komm schon, dasisnichIhrErnst, wirwissenwovonwirhierreden, das ist ein italienisches Viertel, und da gibt es ein Selbstverständnis, eine Klarheit, die im Gegensatz zu dem seltsamen Mischmasch der vier Jungs mit ihren Schlägern fast eine Wohltat sein könnte. Das Alter der Italiener reicht von vierzehn, dem Alter des Schwarzen Jungen, bis zu einem, der zwanzig sein könnte, aber mit seiner Bomberjacke und seinen geflochtenen Halbschuhen jünger erscheinen will. Er hat einen schmalen Oberlippenbart, der aus etwas Härterem als Flaum besteht. Beim Anblick der Dean-Street-Jungs erheben sich die vier und zeigen ein dreistes, schwerfälliges Erstaunen über das, was da vor ihnen steht.
»Das kann nicht euer Ernst sein.«
»Was?«
»Was soll das? Was habt ihr vor?«
»Wir haben ein Spiel.«
»Mit den Schlägern geht ihr nirgends hin. Auf dem Absatz kehrt, und das will ich nicht noch mal sagen.«
»Komm schon, wir haben ein Spiel.«
»Ein Spiel, sagt er. Ich treib mit dir gleich ein Spiel. Dann landest du auf dem Arsch und schreist nach deiner Ma, und sie fragt, was ist los, und dann sagst du, keine Ahnung, ich bin in einem Spiel aus Versehen auf den Arsch gefallen.«
»Er treibt sein Spielchen mit deiner Mutter.« Eine zweite Stimme, um klarzumachen, was Sache ist.
Der jüngste Italiener streckt die Hand aus und schlingt die Finger um den Schläger eines der Dean-Street-Jungs, der ihn aber nicht loslässt. Ein kurzes Tauziehen, dann schlägt der älteste und größte Italiener, der mit dem schmalen Bart, die Hand des Jüngeren weg.
»Wir tun euch einen Gefallen.«
»Wir treffen uns mit Vinnie«, sagt der Schwarze Junge. »Die warten auf uns.«
»Wo? Wer?«
Das Spiel soll in der Summit Street stattfinden, der ruhigsten Straße in Carroll Gardens, hinter der Pfarrkirche von Sacred Hearts of Jesus and Mary & St. Stephen, wovon nichts erwähnenswert ist, nicht einmal, wenn es ihm auf der Zunge läge. »Vincent.«
»Wer?«
»Vincent, Vinnie.«
Nach dem Gesichtsausdruck der Italiener zu urteilen, könnte Vinnie der jüngere Bruder oder der größte Feind von irgendwem sein. Oder ein Hund vom Mars.
»Warum treibst du dich mit diesen Typen rum?«, fragt Oberlippenbart den Schwarzen Jungen. »Was soll das werden? Das ist doch unsinnig.«
»Streethockey.«
»Was ist das überhaupt?« Die Fragen führen unausgesprochen auf ontologisches Gelände, zu fundamentalen Themen des Seins. »Was hab ich hier vor mir? Sag’s mir einer, denn ich kapier’s nicht.«
»Lasst uns einfach vorbei.«
»Was bist du überhaupt? Sag’s mir. Bist du Jude? Weiß irgendwer, was ich hier vor mir hab?«
Eine weitere Klarstellung: »Weiß es deine Mutter?«
»Komm schon.«
»Er sagt: Komm schon. Ihr könnt von Glück reden, dass wir eure Schläger nicht endgültig demolieren. Wo habt ihr die überhaupt her? Triangles? McCrory’s? Die sollten euch so was nicht verkaufen, das ist in eurem Fall unverantwortlich. Was ist das, medizinisches Klebeband? Ihr habt euren Schlägern eine Schlinge verpasst?«
»Panzerband.«
»Wenn ich eins weiß, dann, dass das kein Panzerband ist.«
Aus irgendeinem Grund finden das die Italiener zum Brüllen komisch. Die Stimmung ist plötzlich so heiter und ansteckend, dass die Dean-Street-Jungs ebenfalls lächeln und mit verblüffter Erleichterung kichern. Dann, als wäre das Gelächter das Signal, dass der Wortwechsel zu einem Ergebnis gelangt ist, sagt Oberlippenbart: »Nein, im Ernst, verschwindet von hier. Ihr werdet diese Straße nicht überqueren. Geht heim, bevor wir euch mit euren Panzerband-Schlägern erschlagen, ihr nichtiger Haufen.«
Die anderen Italiener stimmen ein.
»Nichtige Mutter.«
»Wir ficken sie mit dem Schläger.«
»Los. Verschwindet. Geht mir aus den Augen.«
Die Dean-Street-Jungs wissen, wann sie besiegt sind, und treten auf der Henry den ungeordneten Rückzug an. An der Kane Street sagt der Schwarze Junge: »Hier lang! Wir gehen nach Columbia Heights und machen einen Umweg. Die Kane Street führt direkt hin!«
Einer der weißen Jungs stimmt bereitwillig zu, ein anderer nicht. »Vergiss es, du hast die Typen doch gesehen, die machen uns fertig.« Der jüngere Bruder hat die Augen weit aufgerissen, womöglich von der Begegnung an der Ecke traumatisiert.
»Wir können jetzt nicht den Schwanz einziehen. Vinnie und seine Jungs warten auf uns.«
»Es ist zu spät.« Die Zeit scheint tatsächlich zu verrinnen, die Sonne eine verschwommene Kugel, die sich auf ihrem Weg immer wieder hinter den Dächern versteckt.
»Auf geht’s, meine Brüder, gehen wir!« Der Führungsanspruch des Schwarzen Jungen ist nicht zu bändigen. Sie gehen westwärts, eine...